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Schatten der Vergangenheit
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Rolf Verleger - Sehr geehrte Herren,
Am 10.11. hielt ich im Rahmen des
Café Palestine Freiburg in einem
Hörsaal der Universität Freiburg
einen Vortrag zum Thema "Ist der
Einsatz für Menschenrechte in
Palästina antisemitisch?" Vor der
Veranstaltung haben Sie per
Flugblatt ein Redeverbot für mich an
der Universität Freiburg gefordert.
Sie taten das zwanzig Minuten vor
Veranstaltungsbeginn, als es noch
leer war: Sie, zwei junge Männer,
höflich und zurückhaltend, fast
schüchtern, verteilten einen
knallharten Text, anonym, ohne Namen
der Verfasser. (S. Wortlaut im
Anhang). Sie warteten aber nicht die
Wirkung ab, sondern schauten, dass
sie lieber weder unerkannt wegkamen.
Das hat mich sehr verblüfft. Das ist
eigenartiges Verhalten. So als ob
der Veranstalterin Frau Dr. Weber
oder mir ein Geheimdienst zur
Verfügung stünde, der Ihnen schaden
könnte.
Ich habe mich gefragt, was Ihre
Vorbilder für Ihre Aktivitäten sind.
Eine mögliches Vorbild könnten für
Sie die Geschwister Scholl sein:
Auch sie wollten ihre Flugblätter
gegen Unrecht sprechen lassen, sie
wollten laut und deutlich ihre
Stimme für Menschlichkeit erheben.
Und sie wollten anonym bleiben, weil
sie wussten, dass es sonst nicht gut
für sie ausgehen würde.
Zum vergrößern auf das Flugblatt
klicken
Daher scheint es mir möglich, dass
Sie sich an diesen Helden des
Widerstands gegen Unmenschlichkeit
orientieren. In diesem Fall könnten
Sie auch die Befürchtung haben, dass
Sie - wie die Geschwister Scholl -
Opfer Ihres Engagements werden
könnten: die Scholls wegen ihres
Eintretens für die Opfer der Nazis
wurden selbst Opfer der Nazis, und
Sie könnten vielleicht wegen ihres
kompromisslosen Eintretens für
Israel den Palästinensern und ihren
Freunden zum Opfer fallen. Denn Sie
halten diese Leute für mordlustig
("mordlustige Antisemiten" schreiben
Sie) und - so befürchten Sie - es
droht ein neuer "eliminatorischer",
"mörderischer",
"vernichtungsorientierter
Antisemitismus". So werden Sie
vielleicht zu Helden für eine
gerechte Sache. Das, so male ich mir
aus, ist Ihre Sichtweise: Mich sehen
Sie als einen Befürworter des "eliminatorischen
Antisemitismus" und vielleicht auch
persönlich als einen mordlustiger
Antisemiten: eine Gefahr für Israel
und für Sie als Israelfreunde. Sie
dagegen warnen und mahnen: Einen
solchen potentiell gefährlichen Mann
sollte man nicht reden lassen, im
Interesse der eigenen
Selbsterhaltung.
Das sind ungefähr meine Fantasien
darüber, wie Sie sich selbst sehen.
Meine eigene Sichtweise von Ihrer
Aktivität ist aber eine völlig
andere. Das ergibt sich so aus
meiner Familiengeschichte. Kennen
oder kannten Sie Ihre Großväter? Ich
kannte meine nicht. Der eine starb
schon 1926 und liegt in
Berlin-Weißensee, der andere starb
in Auschwitz; wann genau, weiß man
nicht.
Kennen oder kannten Sie Ihre
Großmütter? Ich kannte meine nicht.
Die eine ging 1942 in Theresienstadt
zugrunde, die andere wurde,
42-jährig, direkt nach der Ankunft
des Deportationszuges in Estland
erschossen, denn sie hatte ihren
gelben Stern in Berlin abgemacht, um
zur Friseuse zu gehen; daher war sie
eine Kriminelle und wurde in Estland
in einer Sanddüne verscharrt.
Haben Sie Onkel und Tanten? Mein
Vater hatte sieben Geschwister. Das
Nazi-Regime überlebten nur er und
ein Bruder.
Hat Ihr Vater eine Tätowierung? Mein
Vater hatte eine, nämlich die
Auschwitznummer am Arm. Seine erste
Frau und ihre gemeinsamen drei Söhne
hatten wahrscheinlich keine: Sie
kamen in Auschwitz gleich ins Gas.
Daher heiratete 1948 mein Vater
meine viel jüngere Mutter: Er wollte
noch einmal jüdische Kinder haben.
So bin ich aufgewachsen, als Kind
der Hoffnung und des Neuanfangs.
Was wissen Sie vom Judentum? Uns
Kindern haben dies unsere Eltern
vermittelt. In der chassidischen
Tradition meines Vaters: Gottes
Gebote befolgen, in der Hoffnung auf
Erlösung und Befreiung. In der
deutsch-jüdischen Tradition meiner
Mutter: Judentum als Religion der
tätigen Moral. In beiden Traditionen
sind Juden deswegen Gottes
auserwähltes Volk, insofern sie der
Welt ein Vorbild an Moral und
Gesetzestreue geben sollen und dies
auch wollen. Manchmal in meinem
Leben bin ich aus den engen Grenzen
der Tradition ausgebrochen, aber Ich
habe mich auch immer wieder für
meine jüdische Gemeinschaft
engagiert, habe die Gemeinde Lübeck
mitgegründet, war
Landesverbandsvorsitzender in
Schleswig-Holstein und Delegierter
im Zentralrat.
Nichts von meinen jüdischen Werten
findet sich wieder im Verhalten der
israelischen Regierung. Man hat den
Palästinensern ihr Land geraubt,
fantasiert sich als ewiges Opfer und
leitet daraus die Rechtfertigung ab,
Völkerrecht und Menschenrechte außer
Kraft zu setzen, völlig außerhalb
der jüdischen Tradition.
Sie wissen vielleicht, dass vor der
Auslöschung des europäischen
Judentums durch die Nazis und ihre
Helfer der Zionismus eine
Minderheitenposition im Judentum
war. Gegen den Zionismus waren viele
Strömungen: die Religiösen, die
Bürgerlichen, die sozialistischen
Bundisten, die allgemeinen
Sozialisten. Wussten Sie dass das
einzige jüdische Mitglied im
britischen Kabinett 1917, Lord Edwin
Montague, strikt gegen die
Balfour-Deklaration war? Sind das
alles "eliminatorische Antisemiten",
weil sie die Idee eines separaten
jüdischen Staates fernab der
eigentlichen Heimat der europäischen
Juden für eine sehr schlechte Idee
hielten? Kennen Sie den Bundisten
Marek Edelman, überlebender Anführer
des Aufstands im Warschauer Ghetto?
Wissen Sie, was er von den Zionisten
hielt?
Sie wissen vielleicht auch, dass Ihr
unfreiwilliges Vorbild Heidegger (s.
unten) seine junge Studentin Hannah
Arendt anbetete. Wissen Sie, was
diese kluge Frau 1945 über den
Schwenk der zionistischen Mehrheit
hin zur Unterstützung eines
"jüdischen Staates" geschrieben hat?
Sie können es in meinem Buch
nachlesen.
Wissen Sie, dass Hannah Arendt,
Albert Einstein und andere
hellsichtige amerikanische Juden
1948 in einem gemeinsamen Leserbrief
an die New York Times dagegen
protestierten, dass Menachem Begin,
der Kommandeur des Massakers von
Deir Yassin, kurz nach diesem
Verbrechen die USA besuchte? Sie
nannten ihn einen "Terroristen" und
forderten eine Einreiseverbot.
Montague, Edelman, Arendt, Einstein
- nach Ihrer Logik alles
Antisemiten! - Und nun können
Sie vielleicht meine Sichtweise
ansatzweise nachvollziehen: Dass mir
junge Leute an der Universität
Freiburg das Rederecht nehmen
wollen, das erinnert mich fatal
daran, was an der Universität
Freiburg unter dem Rektorat
Heidegger und seinen Nachfolgern vor
80 Jahren geschah: "Juden raus!" Sie
sind in meinen Augen nicht die
Geschwister Scholl, weiß Gott nicht.
Sondern eher Kinder im Geiste
derjenigen, die damals die
Universität judenrein machten.
Vielleicht finden Sie eine neutrale
Person außerhalb Ihres Zirkels, die
Ihnen erklären kann, dass Sie sich
bei mir entschuldigen sollten. Mit
freundlichen, über die
Vielfältigkeit des menschlichen
Geistes immer noch verwunderten
Grüßen
Der 4D-Effekt
- 16.09.2014 - Deligitimiert,
dämonisiert, doppelter Standard: Was
anderen als Antisemitsmus
vorgeworfen wird, macht Israel mit
den Palästinensern schon lange. Noch
schlimmer wird das Ganze, wenn noch
ein viertes „d“ hinzu kommt:
Deutschland. Ist Kritik an Israels
Politik antisemitisch? Die Frage ist
seltsam. Ab wann ist kritisches
Denken antisemitisch, mithin nicht
mehr statthaft? Kritisches Denken
ist immer statthaft! >>> |