Liebe FreundInnen,viele von euch haben
wahrscheinlich bereits etwas erfahren von dem Ausbruch von Gewalt am
vergangenen Wochenende. In Nablus starben mindestens 2 Leute bei
einem neuen Angriff; 14 Menschen (11 davon Kinder) wurden 48 Stunden
lang gefangen gehalten in einem Raum, während Soldaten die Wohnung
besetzt hielten, (dabei wurden drei kleine Mädchen längere Zeit
allein in einer Wohnung zurückgelassen mit dem Herd an - eine war
allein in der Dusche). In Gaza kamen mehr als 15 Menschen bei
nächtlichen Bombardements ums Leben. Es ist schwer, vor lauter
Verzweiflung nicht abzustumpfen, deswegen übersetze ich lieber einen
menschlichen Aufschrei aus Gaza, anstatt Fakten und Statistiken aus
mehreren Gräueln aneinander zu reihen.
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Die Erde erdrückt uns
von Laila El Haddad
Montag, 10. April
http://a-mother-from-gaza.blogspot.com/
Die Geschosse fallen immer weiter. Sie sind in meinen Kopf
eingedrungen. Es ist als ob jemand alle paar Minuten neben meinem
Ohr auf einen Gong schlägt; manchmal, wie in der vergangen Nacht, 5
mal in der Minute. Und gerade wenn ich ein paar Augenblicke der Ruhe
genieße fängt es wieder an, als ob man sagen wollte, "so leicht
kommst du nicht davon."
Wir gingen schlafen beim drohenden Klappern der Fenster und das
eindringliche Echo von Artilleriegeschösse. Wir schlafen während sie
fallen. Wir beten fajir, und sie fallen wieder. Wir erwachen, sie
fallen immer noch.
Heute haben sie die 8-jährige Hadil Ghabin getötet. Ein Geschoss
landete auf ihrem Haus in Beit Lahiya, tötete sie und verletzte 5
Mitglieder ihrer Familie, darunter ihre schwangere Mutter Sagia und
ihre 19-jährige Schwester.
Meine Kopfschmerzen kommen mir unbedeutend vor wenn ich an die
kleine Hadil denke. Manchmal sagen Leute hier, dass sie den Tod
dieser Existenz vorziehen; man hört das oft auf Beerdigungen. "Irta'at?
Ihr geht es jetzt sowieso besser - wofür lebt man hier überhaupt.
Das ist unsere traurige Wirklichkeit. Der Tod bringt Erleichterung.
Die Erde erdrückt uns.
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Ich wünsche wir wären ihr Weizen so könnten wir sterben und
wieder leben.
Manchmal fühlt es sich an als seien wir in einem kollektiven
Folterraum; wer spielt in dieser Nacht Gott? frage ich mich. Wenn
ich in den Himmel schaue und die Geschosse höre, oder die
gesichtslosen Kampfhubschrauber, die eifrig durch den Mondschein
kreuzen, frage ich mich ob sie mich sehen.
Und wenn die Geschosse wieder fallen werde ich vom Bild
einen18-jährigen an der Grenze heimgesucht, der sich eine Zigarette
anzündet oder seiner Freundin in Tel-Aviv simst, "nur noch ein paar
Runden, Schatz.... Nochmal eine Runde, Ron, es waren ja schon 2
Minuten."
Manchmal, wenn ich nervös bin, könnte ich einfach mal schreien
und in ihre Richtung mit den Armen rudern.
Hören sie mich?
Wir beschlossen heute Abend zu entfliehen auf die Farm meines
Vaters in der Mitte von Gaza, wo wir Kartoffeln rösteten und Tee auf
einem kleinen Mangal wärmten, als wir thikr über den Propheten
hörten bei Gelegenheit seiner mawlid aus einer nahen Moschee, unter
dem drohenden Donnern von Kampfjets, die den ansonsten einsamen
Himmel über uns patrouillierten.
"Wo geht ihr hin?" fragt Osama, der Ladenbesitzer unten. "Auf die
Farm. Wir ersticken," antworte ich, während Yousef mich am Arm
zieht.
"Mama... Yallah! Yallah!"
Weist du, Laila, wir ersticken nicht nur ... wir sterben. Ich hab
das Gefühl, dass ich nicht mehr atmen kann. Und in meinem Kopf
schlägt es und schlägt es. Ich höre jetzt nur noch BUM bum."
Die Erde erdrückt uns.
Und Hadil ist tot.
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In Bil'in wurde der 12. Todesfall durch den Mauerbau geehrt: zwei
Brüder wurden von Gewässern, die durch die Mauer am abfließen
verhindert wurden, mitgerissen. Einer verfing sich im Stacheldraht
und ertrank.
Unter den anderen 11 waren 5 Kinder unter 16.
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Eine Aktivistin in Hebron berichtet von 3 kleinen Mädchen, deren
letzter Durchschlupf zur Schule durch Stacheldraht geschlossen
wurde. Nun helfen sie sich gegenseitig, über den Natodraht zu
steigen. Und wieder werden auch Menschenrechtsbeobachter von
Siedlern tätlich angegriffen.
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Die israelische Armee weigert sich nach wie vor, die Regeln für
das Eröffnung des Feuers, die Soldaten in den besetzten Gebieten
erhalten, öffentlich zu machen. Die Menschenrechtsorganisation
B'Tselem behauptet, dass die Geheimhaltung der Regeln es höheren
Offizieren erlaubt, Verantwortung für Tötungen abzulehnen und die
Kritik auf einzelne Soldaten abzuwälzen. Die Regeln werden ganz
unterschiedlich - mal in verkürzter Form, mal noch ergänzt, an die
Soldaten weiter gegeben. Die Geheimhaltung ermutigt dazu, den Finger
schnell am Abzug zu haben.
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Und dennoch gibt es immer wieder Lichtblicke: "Befreiungstreffen
im Schatten der Trennungsmauer"
Gestern Nachmittag trafen sich 120 frühere israelische und
palästinensische Kombattanten in der Sekundarschule in Amata (deren
Schulhof z.T. vom Zaun abgetrennt ist) zu einem Friedensvorstoß:
frühere Soldaten der israelischen Armee und Palästinenser, die an
gewaltsamen Befreiungsaktionen teilgenommen hatten. "In der
Vergangenheit haben wir Waffen gegeneinander eingesetzt, wir sahen
einander nur durch die Gewehrvisiere - jetzt arbeiten wir zusammen
für Frieden und Gerechtigkeit."
Das Befreiungstreffen ist die erste öffentliche Veranstaltung der
"Kombattanten für den Frieden", nach einem Jahr geheimer Treffen.
Sie wollen nun Druck auf beide Seiten ausüben, um
Friedensverhandlungen zu ermöglichen.
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Vorgestern habe ich eine Post von Ellen Rohlfs weitergeschickt.
Darin war ein Artikel zu Untersuchungen über die angebliche Schuld
Arafats an der zweiten Intifada. Die Beschuldigung wurde von einem
Gremium bestehend aus dem früheren Chef des Allgemeinen
Sicherheitsdienstes Avi Dichter und zwei früheren Generälen für
gegenstandslos erklärt. Im Januar habe ich die Behauptung von
Arafats Schuld (die mir bis dahin unbekannt war) von Ulrich Sahm bei
einem Vortrag in Bremen gehört.
Ulrich Sahm ist Israelkorrespondent von n-tv und dem Weserkurier.
Er brüstete sich bei dem Vortrag genauester Kenntnisse aus den
höchsten israelischen und palästinensischen Kreisen. Soweit ich mich
erinnere, hat er behauptet, Arafat selber habe in seiner Anwesenheit
diese Schuld zugegeben, obwohl ich mir dessen nicht ganz sicher bin.
Vielleicht war Sahm doch nicht so eingeweiht wie er gerne behauptet.
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Heute habe folgenden Leserbrief an den Weserkurier geschrieben:
Ist eigentlich die ganze Welt blind geworden? Ständig und von
allen Seiten kommt die Forderung: Hamas muss auf Gewalt verzichten
und Israel anerkennen. Im Prinzip gut und richtig. Nur: Hamas hat
seit vielen Monaten keine Menschen mehr getötet, Israel dagegen
allein in diesen Tagen 20, darunter mehrere Kinder. Vor wenigen
Tagen erschoss ein Soldat ein 8-jähriges Mädchen das im Auto saß aus
wenigen Meter Entfernung - ohne Vorwarnung, ohne die
vorgeschriebenen Schüsse - bei Verdacht - auf die Räder des Autos.
Seit Beginn der 2. Intifada sind mindestens doppelt soviele
PalästinenserInnen umgekommen wie Israelis.
Mehr als 1700 von ihnen (nach Dokumentation einer israelischen
Menschenrechtsorganisation) außerhalb jeder Kampfsituation. Mehr als
700 waren Kinder. WER soll da auf Gewalt verzichten?
Auch Anerkennung ist zweiseitig. Der Staat Israel wird durch
Hamas weder angegriffen noch gefährdet. Täglich werden dagegen
weitere Gebiete der Westbank von Israel beschlagnahmt oder
annektiert, den PalästinenserInnen der Zugang verweigert.
Anerkennung und Verzicht auf Gewalt - ja. Aber für beide Seiten!
Ich grüße euch,
Anka