Patriarch
Michel Sabbah zur Situation im Heiligen Land
Damit die Waffen verschwinden und eine Gesellschaft des Dialogs und
des Vertrauens geboren werden kann
1.
Warum streiten sich Israelis und Palästinenser heute im Heiligen
Land? - Weil die Israelis seit 1967 palästinensische Territorien (22
% von ganz Palästina) besetzt halten und noch nicht sehen, dass der
Zeitpunk gekommen ist, sie an die Palästinenser zurückzugeben. Die
Palästinenser, unter israelischer Militärbesetzung, fordern das Ende
dieser Besetzung, d.h. die Rückgabe ihrer 1967 besetzten Gebiete,
und die Möglichkeit, ihren unabhängigen Staat auf diesen 22% zu
schaffen.
Um der israelischen Besetzung
Widerstand zu leisten, hat die Mehrheit der Palästinenser, darin
eingeschlossen die Autonomiebehörde (PA), friedliche Wege und
Verhandlungen gewählt. Eine Minderheit indessen setzt weiterhin auf
Gewalt und vor allem auf Selbstmordattentate.
Die israelischen Repressalien sind
eine kollektive Strafe, die die gesamte palästinensische Bevölkerung
trifft: die Belagerung rund um Städte und Dörfer, die diese in große
Gefängnisse verwandelt, die Zerstörung der ökonomischen Strukturen,
woraus für die Mehrheit der Bevölkerung Arbeitslosigkeit resultiert,
die Ermordung palästinensischer Führungskräfte, die Zerstörung der
Landwirtschaft, die Entwurzelung von Bäumen etc. ... Und
letztendlich vergrößert die Entscheidung, die israelischen und
palästinensischen Gebiete durch eine lange und acht Meter hohe Mauer
zu trennen, auch die Mauer des Hasses zwischen den beiden
Bevölkerungen.
2.
Die israelischen Maßnahmen haben bis heute unter den Palästinensern
zu vielen Opfern geführt. Tote, für den Rest ihres Lebens
Behinderte, Gefangene, zerstörte Häuser - wie sie auch zu vielen
israelischen Opfern geführt haben; aber sie haben mit all dem nicht
erreicht, was sie wollten: Sicherheit. Die Palästinenser fordern
weiterhin ihre Freiheit. Solange sie sie weiterhin fordern, wird das
eine Bedrohung für die Sicherheit Israels sein. Das einzige
Heilmittel, um Sicherheit zu erhalten ist daher, einem Volk die
Freiheit zurückzugeben, das seit vielen Jahren unter Besatzung
gehalten wird. Ist die Besatzung einmal beendet, wird alle Gewalt
verschwinden. Und das Land wird eine Periode der Sicherheit und des
endgültigen Friedens kennen lernen. Die politischen Parteien werden
wohl an ihren unterschiedlichen Ideologien festhalten, auch an den
exklusivsten, seien sie israelisch oder palästinensisch, aber die
Waffen werden verschwinden und eine Gesellschaft des Dialogs und des
Vertrauens wird geboren werden und zu Wohlstand gelangen.
3.
Man fragt immer wieder, welche Position die Christen bei all dem
einnehmen. Die palästinensischen Christen sind Palästinenser und
leben daher unter Besatzung und sind Opfer der israelischen
Repressalien. Deshalb fordern auch sie ihre Freiheit und das Ende
der Besatzung ein, damit sie eine neue Ära des Friedens beginnen
können. Im Warten darauf teilen sie die Forderung nach Freiheit wie
auch den Preis, den es zu zahlen gilt: Leiden, Entbehrungen,
Einschränkungen der Menschenrechte usw.
Einige wandern aus, um einem
schwierigen Leben zu entkommen. Aber auch Juden und Muslime wandern
aus - aus demselben Grund: Um dieser Welt von Gewalt und
Irrationalität zu entrinnen. Dennoch scheint die Emigration der
Christen deutlicher sichtbare Auswirkungen zu haben, schaut man auf
ihre geringe Zahl. Die Emigration von Christen bewirkt, dass unsere
Zahl stagniert und sich nicht vermehrt. Wir zählen derzeit in
Palästina, Israel und Jordanien etwa 350.000 Christen (Katholiken,
Orthodoxe und Protestanten) bei einer Gesamtbevölkerung von ungefähr
14 Millionen in den genannten Ländern.
4.
Wenn man fragt, was denn die Christen in der Welt tun könnten, ist
die Antwort die folgende:
-
Sie sollen wissen, dass der
Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern sie direkt
betrifft, denn der Konflikt hat eine christliche Dimension,
insofern er sich an den Heiligen Orten ereignet, an denen sich
die Wurzeln des christlichen Glaubens finden, und insofern
Christen im Konfliktgebiet leben.
-
Dieser Konflikt fordert uns
heraus, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Die Wahrheit ist, dass
der Konflikt in der militärischen Besatzung besteht, die ein
Volk (das israelische Volk) einem anderen (dem palästinensischen
Volk) auferlegt, und dass alle Gewalt oder Terrorismus das
direkte Produkt dieser Besatzung sind. Es ist notwendig, diese
Wahrheit zu verstehen, um zum Bemühen um eine wahre Versöhnung
zwischen den beiden Völkern beitragen zu können.
-
Hört man die Medien in diesem
Konflikt, muss man sich fragen: Welche Wahrheit verbreiten sie
in ihrer Darstellung der Nachrichten? Im allgemeinen gibt es
eine noch andere Wahrheit, die man nicht entdecken kann, es sei
denn im direkten Kontakt mit der Wirklichkeit: d.h. indem man
ins Land kommt, oder eine sachliche Diskussion mit freien
Menschen führt, die ihre Meinung sagen, die der in den
Nachrichten verbreiteten widersprechen kann.
-
Die Pilgerfahrt, v.a. in
diesen schwierigen Zeiten, ist eine Pflicht für jeden Christen,
um mit der kleinen örtlichen christlichen Gemeinschaft Zeugnis
zu geben für Jesus in Seinem Land und um Zeugen des Friedens zu
sein vor der gesamten jüdischen, muslimischen und christlichen
Gesellschaft, um zu zeigen, dass die Heiligen Orte nicht Orte
des Hasses und des Todes sind, sondern Orte des Gebetes, wo man
Gott begegnet, und Orte der Versöhnung mit Gott und mit allen
Menschen.
Patriarch Michel Sabbah,
Jerusalem
(aus dem
Französischen: Br. Ralph Greis OSB)
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