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Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die
verlassen sind. Sprüche 31,8 |
Reuven Moskovitz -
Jahresbrief 2010
Liebe
Freundinnen und Freunde,
Die
wenigen Leser, die auf meine selten gewordenen
Briefe reagiert haben, bringen zum Ausdruck, dass
sie sie eine Hoffnungslosigkeit darin spüren – nicht
nur im veränderten Logo, sondern auch im Inhalt
des Geschrieben.
Dass
wir Menschen ohne Hoffnung nicht leben können, ist
selbstverständlich. Nicht selbstverständlich ist die
Erwartung, man solle von Hoffnung sprechen in einer
aussichtslosen Situation. Alle unsere Propheten
haben die
Hochmut der Regierenden
angeprangert und zur Umkehr aufgerufen, um die
Zuversicht
wiederherzustellen.
In
den vergangenen Jahren stand ich oft am Rande der
Verzweiflung. Immer aber blieb ich bei meiner festen
Überzeugung, dass die Hoffnung Voraussetzung ist, um
aus der Ausweglosigkeit herauszufinden.
In diesem Zustand traten zwei Ereignisse ein, die
meine Zuversicht gesteigert haben: meine Teilnahme
an der Gaza - Fahrt des Bootes der “Jüdischen
Stimme für einen gerechten Frieden“ - und die
Nachricht dass Sumaya Farhat Naser und ich für den
Amos-Preis nominiert worden sind!
Das
jüdische Schiff nach Gaza
Die
Entscheidung, mich an der Bootsfahrt zu beteiligen,
traf ich, als ich erfuhr, dass das jüdische Boot
sich kurz vor den Herbstfeiertagen auf dem Weg
machen sollte. Wie Ihr wisst, bin ich keinen
gesetzestreuen Jude, dennoch tief durchdrungen vom
jüdischen Geist des Friedens, der Gerechtigkeit und
der Menschenliebe. Diese Feiertage sind Tage der
Umkehr, der Bitte um Verzeihung und der Versöhnung.
Vor Rosh Hashana bittet man Gott um Verzeihung für
Sünde und Versäumnisse. Die zehn Tage zwischen Rosh
Hashana und Jom Kippur sind die Tage der Umkehr und
der Versöhnung. Eine uralte jüdische Regel heißt,
dass Sünde zwischen Mensch und Gott von Gott
verziehen wird, während für Sünden zwischen Menschen
die Menschen sich gegenseitig um Verzeihung bitten
und versöhnen müssen.
Ich schlug vor, die Gaza-Fahrt in die Zeit der
Verzeihungsgebete und der Umkehr zu verschieben.
Selbstverständlich war mir klar, dass ein kleines
Boot mit einer Handvoll Menschen die politischen
Umstände nicht ändern wird. Ich habe meine Hoffnung
nur darauf gesetzt, dass nach dem mörderischen
Piraterie - Drama auf der Mavi Marmara, meine
israelische Regierung sich siebenmal überlegen
würde, ein kleines Boot, hauptsächlich mit Juden
besetzt, ebenso zu überfallen.
Die Sprecher der Besatzung, Rami El-Chanan so
wieJonathan Shapira und sein Bruder Itamar, haben
eindeutig in allen Presseerklärungen klar gemacht,
dass wir keine Provokation beabsichtigten, sondern
einen symbolischen Durchbruch der Blockade. Das war
unsere Botschaft:“ wir halten es für unsere Pflicht
als Juden, unsere Feinde – die Hamas-Anführer von
Gaza – aufzurufen, den Teufelskreis von Hass und
gegenseitigem Morden zu verlassen“.
Unsere Hoffnung wurde gestärkt durch ein eindeutiges
Angebot aus Gaza, dass jeder Jude und Israeli der
mit Friedens- und versöhnlicher Absicht nach Gaza
kommt, mit der traditionellen arabisch-moslemischen
Gastfreundschaft empfangen wird.
Uns Teilnehmern war klar, dass die israelische
Regierung versuchen würde, uns davon abzubringen
nach Gaza zu fahren. Wir hielten auch für möglich,
dass man uns mit Gewalt stoppen würde. Wir waren
entschlossen, in diesem Falle Folgendes zu erklären:
„Wir befinden uns in einem Boot unter britischer
Flagge. Wir leisten keinen gewalttätigen Widerstand.
Die einzigen Waffen, die wir haben, sind symbolische
Güter wie Wasserreinigungsgeräte, Fischernetze,
Medikamente, Kinderspielzeug und 50 Mundharmonikas
für Kinder in Gaza.“
Mit Absicht haben wir uns fern gehalten von
israelischen territorialen Gewässern. Als wir noch
über dreißig Meilen von Gaza entfernt waren,
näherten sich mehrere israelische Kommandoboote mit
dem Aufruf, dass unser Versuch illegal sei und dass
Gaza sich unter
internationaler
und israelischer Blockade befände. Unsere Antwort
war, dass wir uns in internationalen Gewässern
aufhielten, dass uns eine internationale Gaza-
Blockade nicht bekannt sei, und, da Israel Gaza 2005
geräumt hat, die israelische Flotte kein Recht habe,
ein Boot unter englischer Flagge zu entern.
Dann
der blitzartige Überfall: etwa sieben
Kommandoschnellboote und dazu zwei Kanonenboote
umzingelten unseren winzigen Katamaran..Gemäß
unserer Entscheidung saßen wir untergehakt - und
ich spielte auf meiner Mundharmonika “Hevenu Shalom
Elechem“ – Wir wollen Frieden für alle. „We shall
overcome“ zu singen, haben wir nicht mehr geschafft,
da plötzlich Dutzende von schwer bewaffneten
Soldaten mit voller Wucht auf das Schiff sprangen
und den Kapitän gewaltsam vom Steuer entfernten. Ich
zog instinktiv einen Hebel um die Motoren zu
stoppen. Dabei merkte ich, dass mehrere Soldaten und
ein Oberleutnant versuchten, Jonathan und Rami El
Chanan zu trennen und andere fielen über Itamar her,
sein Sendegerät wurde beschlagnahmt und die Antenne
zerbrochen. Ich sah, wie ein Offizier, seine Pistole
zog und auf Jonathan eine Kugel abschoss, die einen
elektrischen Schock verursachte, worauf der einen
schrecklichen Schmerzensschrei ausstieß. Rami
versuchte Jonathan zu schützen und wurde von
mehreren Soldaten überfallen. Da fing ich an zu
schreien und zeigte auf meine und die anderen
Mundharmonikas, dass das die
einzige Waffen sind,
die wir besitzen. Dazu, dass Rami kein Verbrecher,
sondern Vater eines bei einem Terroranschlag
getöteten Tochter sei. Unser Gepäck, auch die Tasche
mit meinen Medikamenten und Ausweisen, schleuderte
man auf die angreifenden Schiffe. Dann wurden
Israelis und nicht-israelische Insassen getrennt.
Jonathan und Itamar wurden mit Gewalt von uns
gerissen und auf ein Kommandoboot transportiert. Mir
wurden derweil die Mundharmonikas, die Geschenke
für die Kinder, mit einem Gewehrstoß aus den Händen
geschlagen und ich hörte das Knirschen der „Waffen“
unter den Soldatenstiefeln.
Mein
Herz fing an rasend zu schlagen - und die Tasche
mit meinen Medikamenten war nicht zu finden. Da kam
die gespielte Barmherzigkeit der israelischen Armee
zum Zuge. Ein Arzt wurde gebracht, der mich
behandelte und sich bemühte, mich zu beruhigen -
und sich zu entschuldigen! Plötzlich erschienen
Kartons mit Mineralwasser, Käsebrote und Obst - als
ob die Aktion dazu gedient hätte, uns vor dem
Verhungern zu retten.
Angehängt an ein Schnellboot mit starker Bugwelle,
standen wir plötzlich alle fast bis an die Knie im
Wasser. Der Befehlshaber der Aktion versuchte mit
mir ins Gespräch zu kommen und mich für die
unverantwortliche Aktion
die er für sich peinlich fand,
zu tadeln. Versöhnlich wie ich bin, kam ich mit ihm
ins Gespräch. Er hat sogar mein Mundharmonika-Spiel
in meinem fortgeschrittenen Alter bewundert. Es sind
dann noch ein paar jüdische Sprüche und Anekdoten
unserer Weisen gefallen, was dem Oberst
offensichtlich Unbehagen bereitete. Es war schon ein
surrealistischer Zustand, der einen israelischen
Spruch bestätigte, der auch zu einen Buchtitel
geworden ist: „Wir schießen und weinen“. Mehreren
Soldaten, die dem Gespräch zuhörten, war ihre
offensichtliche Verlegenheit anzusehen.
Dann
kam die Festnahme im Hafen Ashdod. Die fünf Israelis
wurden erwartet von Hunderten Polizisten,
Offizieren, Gefängniswächtern, militärischer Presse,
zahllosen Geheimdienstlern und einem unfreundlichen
Empfang, Durchsuchen und Verhör bei brennender
Hitze. Nur auf unseren Protest und nach Beratungen
einiger Offiziere durften einige im Schatten warten.
Als
ich das erste Mal Kafka gelesen habe, dachte ich,
dass er übertreibt und Kultur und Recht zu
hoffnungslos beschreibt. Die Situation im Hafen von
Ashdod überstieg seine Darstellung vielleicht noch.
Der Polizei überantwortet und in Anwesenheit einer
Rechtsanwältin, hat sich die Situation dann
geändert. Nach mehreren Stunden – zwar freundlichen
- Verhörs sind wir auf Bewährung freigelassen worden
nachdem wir eine Garantie von 5000 Shekel
unterschrieben, uns der Polizei oder dem Gericht zu
stellen, wann immer wir aufgefordert werden.
Trotz
der Traurigkeit nach diesen Erlebnissen, ist meine
Hoffnung gewachsen durch die anrührenden neuen
Begegnungen auf dem Schiff. Der kleine, zarte und
schlanke Kapitän, Glynn, die zwei Frauen, Edith und
Lilian, Rami und die beiden Brüder Jonathan und
Itamar, ein israelischer und englischer, aus Indien
stammende Reporter, sind für mich eine Art
Offenbarung von Liebe, Solidarität und der
Entschlossenheit, die Menschlichkeit und Hoffnung
nicht aufzugeben.
Amos
Preis
Nun
kam die absolut unerwartete Überraschung. Der
Prophet Amos war schon immer einer meiner meist
geliebten Propheten. Als Student, mit meinen Lehrern
Ernst Simon und Martin Buber, habe ich mich oft
unterhalten über den Weg, die junge Generation im
Geist unserer Propheten, und insbesondere Amos, zu
erziehen. Nun wird meine Hoffnung entfacht, dass
dieser Preis mir und meinen Gleichgesinnten neue
Voraussetzungen schafft, vielleicht erfolgreicher
als bis jetzt gegen die hoffnungslose Politik
israelischer Machthaber aufzuschreien und zu mahnen.
Weil „alles seine Zeit hat“ ist es
die höchste Zeit zu versuchen die israelischen und
deutschen Regierenden zu einem raschen Ausstieg aus
der hoffnungslosen Politik zu bewegen.
Mit
herzlichen Wünschen zu frohen Weihnachten und zum
neuen Jahr, Euer Reuven.
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