Der Golem wendet
sich gegen seinen Schöpfer
Gedanken zum Referendum
Uri
Avnery, 4.5.04
Nach einer jüdischen Legende war der Golem ein künstliches Geschöpf, das
mit gewaltiger Stärke ausgestattet war. Rabbiner Judah Loew von Prag,
auch als Maharal bekannt, schuf ihn aus Ton und gab ihm Leben, indem er
ein Stück Papier mit dem geheimen Namen Gottes unter seine Zunge legte.
Der Golem half den Juden, sich bei antisemitischen Ausschreitungen zu
verteidigen. Aber eines Tages wandte er sich gegen seinen Schöpfer. Er
verursachte Verfall und Zerstörung, bis es dem Rabbi letzten Endes gelang,
das Stück Papier unter seiner Zunge herauszuziehen. Der Golem zerfiel zu
einem Haufen Ton.
Ariel Sharon ist kein Rabbiner, und die Kabbalah ist für ihn ein Buch mit
sieben Siegeln. Aber er schuf einen Golem: die Siedlerbewegung in den
besetzten Gebieten.
Er
war sicher, dass der Golem ihm dienen würde. Schließlich haben die Siedler
ihm alles zu verdanken. Er war es, der sie seit Jahrzehnten nährte, sie
mit großen Budgets ausstattete, für sie alle seine politischen
Positionen, die er hinter einander inne hatte, ausbeutete: das Ministerium
für Landwirtschaft, der Verteidigung, das Außenministerium, das
Ministerium für Wohnungsbau, Industrie und Handel, für Infrastruktur und
am Ende das Amt des Ministerpräsidenten.
(Ich erinnere mich, dass ich Sharon vor etwa 25 Jahren in seinem Haus
besuchte. Es war im Rahmen einer Recherche für einen biographischen Essay,
den ich über ihn schrieb. Meine Frau und ich saßen mit Lilly Sharon in der
Küche, die uns ihre Köstlichkeiten servierte. Da bemerkte ich, wie im
anschließenden Raum die Führer der Siedler saßen. Sharon ging hin und her
und teilte seine Zeit gleichmäßig zwischen uns. Schon damals beobachtete
ich , wie die Siedler ihn wie ihren Schutzherrn behandelten.)
Während all dieser Jahre, von der Zeit an, als er in den 70er Jahren
kommandierender General des südlichen Sektors war, versuchte er jeden,
den er traf – Israelis und Ausländer gleichermaßen – mit Tiraden
zugunsten der Siedlungen zu überzeugen; er breitete Karten vor ihnen aus (
er hat immer Landkarten bei sich) und forderte sie auf zu handeln. Nach
ihm war es lebensnotwendig, Siedlungen aufzubauen, um das ganze Eretz
Israel - vom Mittelmeer zum Jordanfluss ( mindestens) - in einen jüdischen
Staat zu verwandeln, um die palästinensischen Gebiete in Streifen zu
teilen und die Schaffung eines palästinensischen Staates zu verhindern,
der ein Hindernis für die Ausführung aller Ziele des Zionismus sein würde.
Wie ein Bulldozer ohne Bremsen ebnete er jede Opposition ein. Er sorgte
dafür, dass viele 10 Milliarden Dollar den Siedlungen zu gute kamen ( die
genaue Summe kann nicht ermittelt werden, da sie in verschiedenen Ecken
des Budgets versteckt sind), dass zu ihren Gunsten die Gesetze verbogen
wurden und dass die Armeeoffiziere dafür gewonnen wurden, ihnen zu dienen.
Auf diese Weise ist ein enges Netzwerk von Siedlungen und speziellen
Straßen entstanden mit vielleicht 250 000 Siedlern – wer zählt sie
schon?
Als er den Slogan „einseitige Abtrennung“ prägte, hätte er nicht daran
gedacht, dass die Siedler wirklich opponieren würden. Schulden sie ihm
nicht alles? Sind sie nicht seine verwöhnten Kinder? Sollten sie ihm
nicht unbegrenzt dankbar sein?
Sharon bot ihnen einen Deal an, der ihm ganz besonders vernünftig
erschien ( wie es früher Yossi Beilin erschien, der diesen Deal erfand,
und Ehud Barak, der ihn zu erfüllen versuchte): Gib die isolierten
Siedlungen mit ein paar Zehntausend Siedlern auf und bewahre dafür die
großen Siedlungsblocks mit 80% der Siedler, die dann Israel einverleibt
werden. Opfere ein paar Finger, um den ganzen Körper zu erhalten. Auf
diese Weise retten wir nicht nur das Siedlungsunternehmen, sondern
gewinnen den größten Teil der Westbank.
Aber nachdem der Golem das Stück Papier unter seiner Zunge hatte,
verhält er sich nach seiner eigenen Logik. Er dachte gar nicht daran, die
Dutzende von kleinen Siedlungen aufzugeben, noch dazu, wo dort der harte
Kern der messianischen Fanatiker lebt. Ihm war auch klar, dass die
Evakuierung der ersten Siedlung einen Präzedenzfall schaffen würde und so
gegen alle anderen genützt werden könnte. Die wirklichen Siedler mögen für
die Gush Kativ-Siedler im Gazastreifen, die in erster Linie berechnende
Geschäftsleute sind, nur Verachtung übrig haben; aber ihnen ist klar,
dass die Schlacht um Gush Kativ der entscheidende Test ist.
Wie der Maharal hat Sharon seinen Golem unterschätzt. Er behandelte ihn
als Diener. Wie kann er Respekt vor einem Geschöpf haben, dass er mit
eigenen Händen erschaffen hat? Nun macht er die Erfahrung, dass es
leichter ist, einen Golem zu erschaffen, als ihn wieder aufzulösen.
In
den unzähligen Interviews, die Sharon über das letzte Wochenende gab,
erklärte er, dass die Siedler nur eine kleine Minderheit des Volkes seien.
Und in der Tat, sogar nach den Siedlern selbst, sind es nur 4% der Bürger
Israels. Aber die Zahl gibt nicht die tatsächliche Macht zum Ausdruck. In
einer demokratischen Gesellschaft überwältigt eine kleine fanatische und
hoch motivierte Minderheit eine große, aber gleichgültige und schlaffe
Mehrheit.
Sharon verlässt sich auf die Tatsache, dass die Siedler in Israel nicht
beliebt sind. Sie sind gewalttätig und unbändig; sie reden, kleiden und
benehmen sich anders, sogar ihre Körpersprache ist anders. Der normale
Israeli sieht sie als bizarre Sekte an. Zu guter Letzt hat der Israeli
auch die Tatsache zur Kenntnis genommen, dass die Siedlungen Milliarden
verschlingen, die Israel zur wirtschaftlichen und sozialen
Wiederherstellung dringend benötigt.
Aber im Laufe von Jahrzehnten haben die Siedler einen großen Kontroll- und
Propaganda-Apparat aufgebaut. Langsam und geduldig haben sie die Armee
unterwandert, in der sie nun Schlüsselpositionen einnehmen, die früher
Kibbuzmitglieder inne hatten. Ihre unabhängigen Medien dehnen sich aus,
während die Linke im Laufe der Jahre buchstäblich all ihre unabhängigen
Medien aufgaben. Die Siedler sind im Besitz großer Fonds, nicht nur das
Geld, das durch Hunderte von Kanälen aus dem Staatshaushalt fließt, und
nicht nur die großen Gaben amerikanisch- jüdischer Multimillionäre,
sondern auch aus dem großen Fonds der amerikanischen, fundamentalistischen
Christen.
Man mag sich fragen:
welche Torheit ritt Sharon, als er vorschlug, nur die Likudmitglieder
sollten die Entscheidung über den Plan treffen? War ihm nicht klar, dass
dies das einzige Schlachtfeld war, wo die Siedler mit überlegener Stärke
gebieten? Er fiel in seine eigene Falle.
Warum? So ist es gewöhnlich mit siegestrunkenen Generälen: aus purer
Arroganz und Verachtung für die Gegner. Auf dem Gipfel seiner Macht
träumte er nicht von den Hausbesuchen en masse, den emotionalen Appellen,
den gut geschmierten logistischen Maschinen der Siedler, die mit dem Geld
des Staates geschaffen wurden.
Die meisten Siedler sind diszipliniert. Wie jede messianische Sekte
gehorchen sie ohne Vorbehalt ihren Führern, den „Yesha-Rabbinern“ ( Yesha
ist die hebräische Abkürzung für Judäa, Samaria und Gaza) Dies ist eine
totalitäre Struktur, im wörtlichsten Sinne: totaler Glaube, totale
Organisation, totale Disziplin.
„Mein Kopf unterstützt den Scharonplan, aber mein Herz unterstützt die
Siedler,“ bekannte ein Likudmitglied. Das ist ganz natürlich: Wenn ein
Siedlerpaar mit Baby – und da gibt es immer ein Baby im festgebundenen
Babytuch – zu seiner Wohnung kommt und fragt: „Willst du uns aus unserem
Heim verjagen?“ – wie kann er dem widerstehen? Schließlich hat er sein
ganzes Leben gehört, dass es das nationale Ziel sei, das ganze Eretz
Israel zu besitzen, dass die Siedler das Salz der Erde seien, dass man die
ganze übrige Welt vergessen könne – und plötzlich kommt dieser Mann,
Sharon, und sagt das Gegenteil?
Doch muss daran erinnert werden, dass nur weniger als 2 % der
israelischen Wählerschaft in diesem Parteireferendum gegen den Sharonplan
gewählt hat. Bei den letzten Wahlen erhielt der Likud weniger als 30% der
Stimmen. Weniger als ein Viertel von diesen sind Likudmitglieder, die
berechtigt waren, an diesem Referendum teilzunehmen. Von diesen haben nur
die Hälfte tatsächlich abgestimmt. Und von diesen haben weniger als zwei
Drittel gegen den Plan gestimmt. Diese sind zusammen mit den Siedlern, die
keine Likudmitglieder sind, der Golem.
Nur ein positives Ergebnis hatte dieses Referendum: plötzlich wacht die
Öffentlichkeit auf und begreift, dass der Golem in ihrer Mitte lebendig
ist. Schon vom ersten Augenblick an gab es die warnende Schrift an der
Wand: die Siedlerbewegung saugt das Mark aus dem Staat, sie ist ein
Hindernis für den Frieden, sie ist eine Gefahr für die israelische
Demokratie und selbst für die Zukunft des Staates .
Jetzt sieht die allgemeine Öffentlichkeit auch die Gefahr, die durch den
rasenden Golem repräsentiert wird.
Noch ist es Zeit, das Stück Papier unter seiner Zunge zu entfernen. Noch.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) |