Der Gazakrieg – Mord vom
Himmel
Shmuel Amir, Januar/
April 2009 ( Hebräisch/ Englisch von George Malent)
Nach Beginn des
Angriffes auf den Gazastreifen nahm Ehud Barak die
Pose von Julius Caesar ein, der beim Überschreiten
des Rubikon verkündigte: „Der Würfel ist gefallen’
und dann erklärte, nun hat der Kampf begonnen. Er
lässt die Frage offen: ‚Welcher Kampf genau?’ Wie
wir alle wissen, müssen es zwei Seiten sein, um mit
einander kämpfen zu können; aber hier im
Gazastreifen gibt es da zwei Seiten, wenn Gaza aus
der Luft bombardiert wird? Gibt es auf der einen
Seite nicht eine Luftwaffe, die mit den besten
Kampfflugzeugen ausgestattet ist, geliefert von
ihren Freunden, den USA, während auf der andern
Seite eine völlig hilflose Bevölkerung ist, die
einem Bombardement ausgesetzt ist, das vom Himmel
regnet. Gibt es denn einen Krieg, wenn nur die
eine Seite kämpft? Deshalb ist der Kampf, den der
israelische Verteidigungsminister Barak verkündigte
auch kein Krieg, sondern eine Jagd. Eine Jagd auf
Menschen, denen die geringsten Mittel fehlen, um
Widerstand zu leisten und die von der Luft her
ermordet werden. Eine leichte Beute. Ich erinnere
mich an romantische Filme, die wir früher sahen, in
denen zwei Gegner mit Schwertern kämpften. Wenn der
eine von ihnen, gar der Böse von ihnen, sein
Schwert verlor, dann hat ihm sein Gegner das
Schwert zurück gegeben, um zu vermeiden, dass er
einen unbewaffneten Hilflosen tötet. So war es in
den Filmen. In der Wirklichkeit von heute steht die
eine Seite ohne Schwert vor einem Feind, der von
Kopf bis Fuß bewaffnet ist; und sie nennen es
Krieg. Der Krieg im Gazastreifen sieht viel mehr wie
ein Massaker aus.
Der 1. Luftangriff
begann am 27. Dezember. Er dauerte vier Minuten,
während denen 200 Menschen getötet wurden. Die
zweite Angriffwelle kam wenige Minuten später. Bis
zur Bodenoffensive wurden über 400 Palästinenser
getötet und vier Israelis wurden von Qassam-Raketen
getötet. Im ganzen wurden 1436 Palästinenser und 13
Israelis getötet, (davon 3 durch die eigenen Leute).
Die Zahl der palästinensischen Verwundeten liegt bei
über 5000 – auf der israelischen Seite schätzt man
ca. 50. Diese Zahlen erzählen die Geschichte des
ungleichen „Gazakrieges“.
Der koloniale
Hintergrund
Zu dieser Art des
Tötens, diesem Morden, das im Gazastreifen statt
fand, gibt es einen Hintergrund und eine Geschichte:
die kolonialen Beziehungen zwischen Juden und
Palästinensern in Israel begannen lange vor der
Errichtung des Staates Israel. Besonders erstaunlich
ist das Verhältnis der Getöteten über die Jahre
hinweg, aber vor allem im Gazakrieg: es ist 1 (
Israeli) zu 100 (Palästinenser). Dieses Verhältnis
ist nicht zufällig, sondern beschreibt das
Verhältnis, das in Kolonialkriegen als normal
betrachtet wurde.
Der Schriftsteller und
Gelehrte Sven Lindqvist diskutiert dieses Thema in
seinem Buch „Löscht alle Wilden aus“, das vor 15
Jahren auf englisch erschienen ist. Lindqvist
untersuchte den europäischen Kolonialismus in
Afrika im ausgehenden 19. Jahrhundert. Wenn wir die
koloniale Unterdrückung und die Methoden, die jetzt
gegen das palästinensische Volk angewendet werden,
besser verstehen wollen, dann würden wir gut daran
tun, dieses Buch zu lesen.
Lindqvist beschreibt
z.B. die Schlacht zwischen der britischen Armee und
der Armee der Derwische in Omdurman ( Sudan). Der
Krieg war vom britischen Empire geführt worden, um
den Sudan zurück zu erobern. Lindqvist benützte
Beschreibungen von Winston Churchill, der damals ein
junger Militärkorrespondent für eine englische
Zeitung war. In jener Schlacht wurde eine große
Armee ( die ‚Derwische“) von der Kolonialarmee
zerstört, die zwar klein, aber mit der besten
militärischen Technologie der damaligen Zeit
ausgerüstet war. Die Engländer hatten Maxim-Kanonen,
deren Reichweite viel weiter waren als die der
antiquierten Gewehre, die die Derwische hatten.
Deshalb konnten sie die Armee der Eingeborenen
beschießen, bevor diese sie überhaupt wahrnahmen.
Die berittenen
Derwische waren nach Churchills Beschreibung sehr
mutig und stürmten wütend gegen die englische Armee,
aber fast alle wurden getötet, bevor sie direkten
Kontakt mit den englischen Soldaten hatten. Während
der Schlacht hatte die britische Armee kaum
Verluste. Die britische Presse veröffentlichte
Bilder von einem Kampf von Mann zu Mann zwischen
Derwischen und Engländern, aber diese Bilder waren
gefälscht – solch eine Schlacht fand nicht statt.
Lindqvist schließt
daraus: ‚In der Omdurman-Schlacht wurde die ganze
sudanesische Armee zerstört, ohne in den
Schussbereich des Feindes gekommen zu sein. Diese
Art des Tötens aus großer Entfernung wurde zu einer
europäischen ‚Spezialität’. Die britischen Kanonen
waren besonders effektiv gegen unbewaffnete Dörfer.
Lindqvist schreibt auch: Die Europäer wurden die
‚Götter der Kanonen’, die ihre Opfer
niederstreckten, bevor ihre Feinde sie erreichen
konnten. Die europäische Expansion in Asien und
Afrika eröffnete eine neue Periode des
Imperialismus. ‚Militärische Überlegenheit wurde von
zu vielen Europäern als geistige und sogar als
biologische Überlegenheit angesehen.
Der englische
Kolonialkampf jener Zeit ähnelt dem Luftangriff
gegen den Gazastreifen in noch anderer wichtiger
Hinsicht: die israelische Bewunderung für die
‚außerordentliche Leistung’ beim Morden in Gaza.
Auch in England wurden damals die Berichte über den
Sieg mit großer Begeisterung aufgenommen. Der
Kommandeur der Kampagne Lord Kitchener wurde von der
Königin und allen Briten mit Jubel empfangen.
Die Kolonialmächte
kämpften aus einer Position mit absolutem
militärischen Vorteil. Angesichts dieser Tatsache
konnten sie nicht verstehen, dass die Eingeborenen
es wagten, Widerstand zu leisten. Die Europäer
schrieben den Widerstand der Eingeborenen ihrer
Dummheit und der natürlichen Primitivität ihrer
Rasse zu. Die wirkliche Motivation der Einheimischen
- der starke Wunsch, frei von ihrem Unterdrücker zu
sein - konnten die Kolonialherren nicht verstehen.
Die koloniale Struktur
in unserer Region hat seinen Ursprung in dem
fortgesetzten zionistischen Kolonialkrieg, der seit
über hundert Jahren währt und sich seit den
Eroberungen von 1967 intensiviert hat.
Tom Segev, eine fast
einsame Stimme im Lärm des patriotischen Chors,
entschied sich vor kurzem in Haaretz ( 19.12.08)
einige alte Wahrheiten über den jüdisch-arabischen
Konflikt darzustellen. Er war auch nicht
ängstlich, die zionistische Ideologie als Quelle
unserer ungenauen Vermutungen über die Palästinenser
zu erwähnen:
‚Israel hat gegen die
Palästinenser einen Schlag durchgeführt, um ihnen
‚eine Lektion zu erteilen’. Dies ist die Prämisse,
die das zionistische Unternehmen von Anfang an
begleitet hat;
wir stellen Fortschritt
und Aufklärung, vernünftige Kultiviertheit und Moral
dar; die Araber sind ein primitiver und
leidenschaftlicher Haufen, ignorante Jugendliche,
die erzogen und unterrichtet werden müssen, damit
sie verstehen. All dies natürlich mit der Methode
von ‚Zuckerbrot und Peitsche’.
Segev fährt fort: „Das
Bombardieren des Gazastreifens ist dafür gedacht,
das ‚Hamas-Regime’ zu eliminieren; auch dies
entspricht der Vermutung, die die zionistische
Bewegung von Anfang an begleitet hat, nach der es
möglich sein wird , eine ‚moderate’ Führung über die
Palästinenser zu setzen, die Konzessionen bei ihren
nationalen Hoffnungen machen würde. Wir
verteidigen uns hier nur.“
Segev betont
anschließend:
Der Kampf ist jedoch
nicht gegen eine terroristische Organisation, die
die Bevölkerung des Gazastreifens zu Geiseln nimmt,
sondern eine national religiöse Bewegung, die viele
Anhänger hat. Seit Beginn der zionistischen Präsenz
in Erez Israel (Palästina) hat es keine militärische
Aktion gegeben, der anspruchsvolle Verhandlungen mit
den Palästinensern vorausgegangen wären.
Außer den militärischen
Aktionen erinnert Segev an Programme, in denen es
darum ging, (nach dem Sechs-Tage-Krieg) arabische
Familien aus dem Gazastreifen in die Westbank
umzusiedeln. (Ich erinnere mich an jene Version:
Sobald die Kämpfe beendet waren, ermittelte der
israelische Ministerpräsident Eshkol, wie weit ein
„Transfer“ der Araber aus dem Gazastreifen in den
Irak möglich ist, um an ihrer Stelle Juden im
Gazastreifen anzusiedeln.
Die Bodenaktion im
Januar 2009: wie wird sie enden?
Vor kurzem begann das
zweite Stadium des ‚Gazakrieges’. Die Presse
berichtet, dass Armeevertreter dem politisch
Verantwortlichen berichtete, dass sie keine Ziele
mehr hätten und es deshalb nötig sei, eine
militärische Invasion tief in den Gazastreifen
hinein auszuführen. Die Kampfbedingungen werden
jetzt etwas andere sein als im ersten Stadium des
Konfliktes, da man erwartet, dass es hier handfesten
Kontakt zwischen beiden Seiten geben wird. Selbst
unter diesen Bedingungen wird das Kräfteverhältnis
weiter so sein, dass es – wie beim Libanonkrieg -
weit entfernt davon sein wird, dass es sich um
gleichwertige Gegner handelt. Die meisten Verluste
auf palästinensischer Seite wurden durch einen
Krieg verursacht, der aus der Ferne kontrolliert
wurde: aus der Luft, vom Meer und vom Land durch
Artillerie. Auch die Bodenoffensive war nicht eine
unter Gleichen. Die koloniale Struktur, die Israel
auf den Widerstand der Gaza-Kämpfer legte, blieb
bestehen: auf der einen Seite eine große moderne
Armee mit raffinierter, technischer Ausrüstung und
auf der andern Seite eine leicht bewaffnete
Guerillagruppe.
Es gibt bereits Berge
von Texten über die Geschichte von Israels Kriegen
im Gazastreifen: Wer hat begonnen? Siedelten die
Araber zuerst im jüdischen Gazastreifen oder
umgekehrt? Wer war ein Siedler innerhalb einer
dichtbevölkerten Gegend und nahm 20% des Landes und
einen wesentlichen Teil der Wasserreserven? Wer
verhinderte die Schaffung einer industriellen
Infrastruktur oder gar Elektrizitätswerke und
beklagt sich danach, dass ‚wir’ den Strom liefern,
obwohl uns die Gazaer beschießen? Und wer verließ
Gaza „ ohne zu bezahlen’ und beklagt sich noch,
dass sie uns nicht dankbar dafür sind? Diese
Fragezeichen bleiben auch bei der Frage hängen, wie
kommt jede Seite zu ihrer militärischen Ausrüstung:
durch Tunnel ( Schmuggel! Schleichhandel) oder über
See- und Flughäfen in Israel (legitim und korrekt)
oder wer verletzt die Feuerpause (‚Tahdiya’) und
spielt hinterher den ausgeraubten Kossacken, als man
wieder anfing, Qassam-Raketen abzufeuern?
Wir sollten viele
andere Fragen ohne Diskussion angehen: wer tötet
vorsätzlich friedliche Zivilisten und wer tötet
drei-vier mal so viele Zivilisten und nun 100 mal
mehr, tut es aber ‚unabsichtlich’? Hier als
Beispiel ein paar Fakten aus einem B’tselem-Bericht:
In sieben Jahren seit Beginn des Abfeuerns der
ersten Qassam bis zu Beginn des letzten Angriffes
auf den Gazastreifen wurden 13 Israelis getötet. In
der selben Zeit wurden 2990 Palästinenser getötet,
einschließlich 634 Kinder. Während dieser Periode
tötete Israel 4781 Leute im Gazastreifen und auf der
Westbank. Der größte Teil waren Zivilisten,
einschließlich Frauen und Kinder. Diese Fakten
sollen berücksichtigt werden, wenn wir uns mit der
Frage herumschlagen, wer die Terroristen sind oder
wie weit der ‚Hamasterror’ geht verglichen mit dem
‚Staatsterror’ Israels.
Bei all diesen Fragen –
so wichtig sie auch sind – wird die Wurzel des
Problems nicht gefunden .
Die Wurzeln des
israelisch-palästinensischen Konfliktes waren und
bleiben bis heute die Beziehungen zwischen dem
Eroberer und den Eroberten, zwischen dem
Unterdrücker und den Unterdrückten, zwischen dem
Belagerer und den Belagerten, zwischen dem
Kolonialherren und dem Eingeborenen.
In den besetzten
Gebieten möchte der Staat Israel nur die
unterworfenen Palästinenser sehen, die es nicht
wagen werden, angesichts der anhaltenden Kontrolle
über ihr Leben, ihren Kopf zu heben. Diejenigen, die
wahren und einen dauerhaften Frieden zwischen beiden
Völkern wünschen, sollten wissen, dass das Ende des
palästinensischen Widerstandes und ein
Friedensvertrag erst nach der Beendigung der
Kolonisierung in all seinen Formen kommen wird.
(dt. Ellen Rohlfs)
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