Saatkörner des
Faschismus
Von Ran
HaCohen
AntiWar.com
Blamage
Blamage – dies ist eines meiner
ersten Gefühle, wenn ich mir den Siedleraufstand gegen die Räumung der
Siedlungen im Gazastreifen und jener wenigen in der Westbank betrachte.
Schau Dir diese Kerle mal an: Jung und Alt, Männer und Frauen, ohne
Furcht, ohne Zögern, ohne den Zwang, sich dafür zu entschuldigen, dass
sie sich gegen ihren eigenen Staat erheben. Über das ganze Land hinweg
blockieren sie die Straßen. Sie versehen die Schultore nachts mit
Ketten; sie schütten Klebstoff in die Türschlösser staatlicher
Einrichtungen. Sie erhalten vom Premierminister den operativen Ablauf
und buhen ihn dafür aus, wo immer er sich auch blicken lässt. Sie drohen
damit, den Stabschef umzubringen; sie drangsalieren einzelne Polizisten
in ihrem Zuhause. Sie verschütten Öl und streuen Nägel auf die Straßen.
Sie sabotieren Armee- und Polizeifahrzeuge; sie schütten Zucker in die
Tanks der Planierraupen. Sie leisten Widerstand und schlagen Soldaten
und Polizisten; ihr Lieblingsfluch auf die israelischen Streitkräfte
heißt „Nazi“. Sie stacheln Soldaten an, Befehle zu missachten,
und sie missachten diese gegenwärtig selbst. Ein innerer Aufstand, wie
ihn Israel noch nie erlebt hat.
Nichts in dieser Art
geschah hier, als im Libanon 1982 Hunderte von Palästinensern unter
Israels Federführung abgeschlachtet wurden. Oder als Rabin 1992 400
Palästinenser nach Libanon abschob. Oder als 1994 ein israelischer
Siedler Dutzende am Grab des Patriarchen in Hebron betende Palästinenser
massakrierte. Oder als eine israelische Düsenmaschine im Jahre 2002
durch den Abwurf einer 1-t-Bombe auf ein dicht besiedeltes Wohnviertel
in Gaza den Tod von neun Kindern verursachte. Oder als Israel 2002 die
gesamte Hamas-Führungsriege mit Raketen umbringen wollte,
beziehungsweise als es Israel dann schließlich gelang, den 65jährigen
geistigen Führer Yassin in seinem Rollstuhl zu töten. Keine Reaktion,
als Tausende Palästinenser ihre Häuser während der Zweiten Intifada
verloren und zu Flüchtlingen im eigenen Land wurden. Kein Mucks, wenn
die gesamte palästinensische Bevölkerung mit Hilfe der Mauer
eingesperrt wird. Keine dieser Schreckenstaten – und derer gibt es noch
viele mehr – bewirkten jemals einen Protest, der nur entfernt an die
Siedlerunruhen anklingen könnte. Die Ursache dieser Unruhen liegt in
einer rechtmäßigen (noch nicht ausgeführten) Entscheidung der
demokratisch gewählten israelischen Regierung, die besagt, dass weniger
als 5 % der Siedler innerhalb ihres „Heiligen“ Landes Israel von
einem Punkte zum anderen umziehen sollen – mit großzügigsten
Entschädigungen für ihre Besitztümer und ihre Unannehmlichkeiten.
Ich glaube, es war
Kierkegaard, der einmal sagte, dass man eine Menge über eine Person
erfahren könne, ausgehend von der einen Sache, die ihr ernst sei.
Unter demselben Aspekt kann man viel über eine Gesellschaft anhand
derjenigen Sache lernen, die sie dazu bringt, auf die Straße zu gehen.
Die Tatsache, dass keine Gewalttat die israelische Gesellschaft als
Ganzes protestieren ließ, so wie es die Siedler jetzt tun, ist ein
schmachvoller Beleg für den kompletten sittlichen Bankrott des jüdischen
Staates.
Straßensperren
Nicht alles lässt
den Durchschnittsisraeli natürlich so gleichgültig. Als Siedler diese
Woche wieder die Straßen über ganz Israel verteilt blockierten, näherten
sich ihnen aufgebrachte Autofahrer mit Eisenstangen. Diese Geschichte
wurde zur Schlagzeile: Auf der einen Seite die wie immer gut
organisierten Siedler, auf der anderen die Polizei, oder was davon nach
der neo-liberalen Privatisierungswelle und den Budgetkürzungen übrig
geblieben ist, und einige Fahrer, die wütend genug waren, um sich mit
den Siedlern körperlich anzulegen. Wenn Israelis in der Tat etwas nicht
ausstehen können, dann ist es das Warten darauf, dass eine Straße wieder
durchgängig wird. Vor fünf Jahren, als israelische Araber es wagten, ein
paar Straßen in Israel zu blockieren – gerade als die Zweite Intifada
ausgebrochen war – war sich die Öffentliche Meinung in Israel einig
darüber, dass solche Sperrungen total inakzeptabel seien. Sie
unterstützte die Entscheidung der Polizei, scharf zu schießen und
arabisch-israelische Bürger zu töten, um die Straßen wieder frei zu
bekommen. Heutzutage hat die Polizei herausgefunden, dass es andere
Methoden gibt, die Straßen frei zu halten, oder sogar, dass menschliches
Leben manchmal wichtiger als eine freie Straße ist, zumindest, falls
jüdisches – nicht arabisches – Leben auf dem Spiel steht.
Ich frage mich, wie
viele dieser wütenden israelischen Autofahrer jemals an die
Palästinenser in den besetzten Gebieten denken, wo es keine
Schnellstraßen gibt (das heißt nicht für Palästinenser!), aber wo die
Straßen nach Jahrzehnten geiziger Besatzung mit Null Investment in die
Infrastruktur in einem erbärmlichen Zustand und mit feindlichen
israelischen Checkpoints und Straßensperren gepflastert sind … wo
gedemütigte Palästinenser immer wieder warten müssen, manches Mal
stundenlang in der brütenden Hitze, nur um die Straße zu Fuß überqueren
zu können (Autos nicht erlaubt!).
Israelische Fahrer
kommen jetzt mit Eisenstangen, um die von Siedlern blockierten Straßen
frei zu räumen: Schließlich haben wir ein Recht, uns in unserem
eigenen Land frei zu bewegen. Aber die palästinensische Gewalttätigkeit
bleibt für uns immer unbegreiflich. Mit Bestimmtheit setzen die nicht
voraus, dass sie irgendein Recht hätten, sich in ihrem eigenen Land frei
zu bewegen; aber wenn sie es dennoch tun … ist dies gleich ein Grund,
gewalttätig zu werden?!
Lynchen
Die blockierten Straßen waren
die Spitzenmeldung: Erst später, viel weiter unten in der Reihe, war von
dem Palästinenser Ziad Majaida im Alter von 16 oder 18 Jahren
(die Angaben variieren) die Rede, der am selben Nachmittag (29.06.) von
einem extremistischen jüdischen Siedler im Gazastreifen gelyncht wurde.
Das Fernsehfilmmaterial zeigt den verletzten Jungen auf dem Boden
liegend; ein Soldat versucht, ihn zu schützen, während Siedler damit
fortfahren, ihn zu steinigen. Der Junge berichtete später im Fernsehen,
dass alles damit anfing, als ein Soldat ihn gegen die Wand schubste und
ihn damit zu einem leichten Opfer für die blutrünstigen Siedler machte.
Nir Hasson, Journalist von Ha’aretz, berichtete vom Schauplatz des
Verbrechens über einen Rettungssanitäter, einen „moderaten“
Siedler, der geholt wurde, um den ohnmächtigen Jungen zu behandeln.
„Er zauderte zwanzig
Sekunden lang, ob er nun Hilal behandeln sollte oder nicht, als einer
der Angreifer ihn anschrie: „Falls Du ihn behandelst, werden wir Dich
umbringen!“. Verlegen drehte er sich daraufhin um und ging. Der
verletzte Mann lag auf dem Boden, sein Gesicht mit Blut bedeckt, und er
war bewusstlos.“
Das israelische
Fernsehen „erklärte“ später, dass, als das Lynchen stattfand – in
der Nähe war ein paar Tage zuvor ein palästinensisches Privathaus von
Siedlern gewaltsam eingenommen worden – nicht ausreichend Soldaten zur
Verfügung gestanden hätten. Aber es waren eine Menge Kameras und
Reporter aus aller Welt zugegen. Hasson berichtet, dass er und mehrere
weitere Journalisten – im Gegensatz zu dem tapferen Rettungssanitäter –
sogar versucht hätten, dem gelynchten Jungen zu helfen. Also war niemand
über dieses Lynchen „überrascht“ – niemand außer der israelischen
Armee. Man achte auf dieses „Überraschtsein“. Wir Juden wissen es
nur allzu gut: Wir haben es Jahrhunderte lang erfahren – in ganz Europa
– als alle von einem drohenden Pogrom wussten, ausgenommen die örtliche
Polizei, die „überrascht“ und deshalb „bedauerlicherweise
unfähig“ war, die geschmähten Juden zu schützen.
Saatkörner des
Faschismus
Folglich agieren die Siedler
nicht eigenständig. Fast 40 Jahre lang haben sie sich an die
vollständige Unterstützung des Staates für ihr illegales Vorhaben
gewöhnt. „Illegal“ nicht nur, weil die Siedlungen im Gegensatz zu
internationalem Recht stehen, sondern weil das gesamte Siedlungsprojekt
– etwa 200 Siedlungen mit 250.000 Siedlern – illegal durchgeführt worden
ist, in klammheimlichem Zusammenspiel zwischen Siedlern, der Armee, dem
Staatsapparat und der politischen Riege, alle harmonisch gegen Gesetz
und Ordnung arbeitend, dabei demokratische Abläufe umschiffend und die
Öffentlichkeit und die Medien täuschend: „Es ist in Ordnung, für das
Land Israel zu lügen“, wie Premierminister Yitzhak Shamir
einmal sagte. Diese verborgene Kooperation hat die Siedler in
„Feudalherren“ verwandelt („Lords of the Land“ ist der Titel
eines Buches von Akiva Eldar und Idith Zertal über die
Geschichte der Siedler), die sich daran gewöhnten, was auch immer sie an
Vergehen und Angriffen vorhatten, durchzuziehen und dabei mit
Rückendeckung oder zumindest mit einem Straferlass seitens des Staates
rechnen zu können.
Jeder israelische
Wehrdienstpflichtige weiß es: Ein radikal linksgerichteter Leumund – sei
es der eigene oder derjenige eines Familienangehörigen – disqualifiziert
ihn für jede Eliteeinheit. Dennoch kündigte die israelische Luftwaffe
diese Woche stolz an, dass der Sohn des Massenmörders Baruch Goldstein
Pilot geworden sei. Es ist dann kein Wunder, dass die Armee es jetzt
zulässt, dass all ihre operativen Pläne, egal wie geheim sie auch sind,
sofort den Siedlern zugespielt werden.
Die Siedler
gehorchen dem Staat nur so lange, wie dieser ihnen gehorcht. Dadurch,
dass sie von Israel als Freikorps eingesetzt wurden, als diejenigen
Schläger, die das Drecksgeschäft für den Staat machen, welches der Staat
nicht machen kann oder will, ist das Ausufern der traditionellen Gewalt
dieser Siedler ins Herz Israels eine natürliche Entwicklung. Wie erlebte
und beschrieb es der jüdische Schriftsteller Albert Memmi während der
französischen Kolonisation Tunesiens: „Jede Kolonialherrschaft trägt
die Samen der faschistischen Verlockung in sich“. Solche tödlichen
Samen blühen in diesen Tagen in Israel auf.
Dr. Ran HaCohen
wurde 1964 in den Niederlanden geboren und wuchs in Israel auf. Er lehrt
an einer Universität in Israel. HaCohens Arbeiten wurden in Israel breit
in Umlauf gebracht.
„Letter from Israel“ (Brief aus
Israel) erscheint gelegentlich unter Antiwar.com.
Quelle: The
Palestine Chronicle
www.palestinechronicle.com/story.php?sid=20050708075904699
20.07.2005, Übers. v.
Gabriele Al Dahouk |