Ein Immigrant
in seinem eigenen Land ( 2.Teil)
Sami
Michael --- 28.6.12 Vortrag in Haifa
http://www.kibush.co.il/show_file.asp?num=53640
Religion und Staat
Wenn ein Individuum oder ein Staat einen
religiösen Text als geistlichen Führer nimmt und als Dokument, das
Eigentumsrechte überträgt, der kann es nicht lange säkular bleiben.
Mit der Zunahme der Wahlstärke der Haredi-Juden, Ashkenazim und
Misrahim, ist die sozio-politische Situation sehr kompliziert
geworden. Die Macht der Haredim und die der Siedler, kam
ursprünglich aus dem Treibhaus des säkularen Zionismus. Ben Gurion
erklärte die religiösen Parteien für rechtsgültig, während er
zwanghaft das jüdische Bewusstsein predigte. Die Bibel wurde wie ein
Vorbereitungskurs selbst für Lehrer der Literatur. Während der Jahre
wurde von Wahl zu Wahl die Haredisierung des Likud immer stärker,
und er war bereit, einen immer höher werdenden Preis zu zahlen, um
an die Macht zu kommen. Die Haredim konnten der großen Versuchung
nicht widerstehen und streckten ihre Hände aus, um einen Teil des (Regierungs)Kuchens
abzubekommen, ohne die säkularen Institutionen des Staates, wie
Gerichtshöfe, Armee und allgemein die demokratischen Werte zu
respektieren.
Israel wurde deshalb ein internationaler
Pionier für die Ermutigung religiöser Fraktionen, um im Rahmen
politischer Parteien zu handeln. Und dadurch zerstörte es beides:
die Religion und das normale demokratisch politische Leben.
Der religiöse Block ist dabei, Macht und
Einfluss zu vermehren – nicht mit ideologischer Vitalität und
Originalität, sondern mit korrumpierender politischer Bestechung,
die er erhält, da er Teil einer zweifelhaften Koalition ist. Dies
hilft der arroganten Linken sich immer mehr vom Volk zu entfernen.
Der Rückgang der Sicherheitssituation zusammen mit der Erschütterung
des unmöglichen Traumes, Frieden zu erhalten, während man die
Besatzung aufrecht erhält, bringt immer mehr (Israelis) zu der
Überzeugung, dass nur ein Wunder oder himmlische Gunst uns vor einer
Katastrophe retten kann. Wir müssen daran erinnern, dass Israel
trotz seiner Macht in den letzten 45 Jahren keinen entscheidenden
Sieg auf dem Schlachtfeld errungen hat, nicht einmal gegen einfache
Milizionäre. Nach jeder Konfrontation wurde eine
Untersuchungskommission berufen, um herauszubekommen, wo der Fehler
lag. Wenn der Panzer und das Kampfflugzeug keine Antwort geben, dann
blühen messianische Tendenzen.
Außerdem ist der nationalistische
Konflikt zwischen Israel und der arabischen Welt immer mehr zu einem
religiösen Konflikt zwischen dem Judentum und dem Islam geworden.
Wir leben während der ruhmreichen Tage der jüdischen Halacha und der
islamischen Sharia.
Jahr um Jahr brechen die Festungen der
Demokratie unter dem ständigen Druck religiösen Nationalismus’ vor
unsern Augen zusammen. Vor Jahren schrieb Salman Rushdie, dass zwei
theokratische Staaten in der Welt bestehen, der Iran und Israel.
Unterdessen ist diese Liste nach dem enttäuschenden arabischen
„Frühling“ gewachsen, der voller Hoffnung für die säkulare Jugend
war und sich dann gegen sie gerichtet hat. In seinem Buch: „Die
satanischen Verse“ schreibt Rushdie: „da stimmte mit dem geistigen
Leben des Planeten etwas nicht … zu viele Dämonen in den Leuten
behaupten, an Gott zu glauben.“
Mein Freund A.B. Yehoshua behauptet,
dass ein Jude nur in Israel normal leben könne. Und ich glaube, dass
der säkulare Visionär des Staates (Theodor Herzl) sich beim
Anblick des heutigen Staates in seinem Grab umdrehen würde; denn der
Staat überlässt sein Schicksal freiwillig anormalen Dämonen. Bibi
Netanjahu wurde auf den Flügeln des Haredim-Slogans auf den Thron
der Macht getragen: Netanjahu ist gut für die Juden – und meinte die
Haredim dh. die Zerstörung der säkularen Demokratie und die
Errichtung eines zerstörenden Halacha-Staates. Der triumphale
Marsch des religiösen Nationalismus ist eindrucksvoll und
erschreckend.
Tausende von jungen Leuten mit höherer
Bildung fliehen jedes Jahr aus Israel und ziehen vor, ein nach A.B.
Yehoshuas Definition anormales Leben in andern Ländern zu führen,
die weit weg, aber normaler sind. Ich beneide sie. Aber ich bin zu
alt, um noch einmal dem Test des Traumas eines Emigranten zu
trotzen. Ich ziehe vor, ein Immigrant in meinem Land zu sein.
Die Besatzung
Die Besatzung ist die Verkörperung der
Katastrophe für Israel. Groß-Israel, die Begeisterung zu erobern, zu
herrschen und inmitten einer dichten palästinensischen Bevölkerung
zu kolonisieren, diese ausholende Welle wurde inmitten des
Zionismus’ gefördert, der sich selbst als zivilisiert, säkular und
sozialistisch betrachtet. Der Ausdruck Groß-Israel wurde nicht im
Likud oder in den Jeshivas des national-religiösen Judentums
geprägt, sondern im Kibbutz Ein-Harod von Dichtern, Schriftstellern
und Intellektuellen, fast alle aus dem moderaten säkularen Strom.
Der israelisch-palästinensische Konflikt ist der Hauptfaktor, der
das Image Israels aus verschiedenen Perspektiven bildet: politisch,
kulturell und wirtschaftlich. Mit den Jahren radikalisierten die
Linke und die Rechte ihre Positionen, bis sie zwei gegensätzliche
Wahnvorstellungen hatten, deren Verbindung zur Realität sehr vage
sind. die Linken schufen das Image der Araber als unschuldige Engel,
die die Opfer der brutalen israelischen Aggressoren sind. Die Rechte
sprach von einem brennenden Hass der Araber, als ob sie Monster ohne
Hemmungen wären. Es ist ja bekannt, dass in einem langen Konflikt
beide Seiten brutal werden.
Ein führender Schriftsteller/Dichter
sagte: Ehud Barak ist unbrauchbar. Er sollte seine Panzer auf ihren
Weg schicken und sie mit den Maschinengewehren niedermähen. Dieser
Dichter ist ein Mitglied des moderaten Lagers, das angeblich eine
friedliche Lösung sucht. Er weiß wahrscheinlich, dass unsere
Maschinengewehre schon Milliarden Kugeln aller Typen in den letzten
Jahrzehnten abgefeuert haben – vergeblich. Dreimal machten wir den
Sinai zu einem Friedhof für ägyptische Soldaten. Wir schleiften
Beirut bis zu seinen Grundmauern und besetzten es. Wir vernichteten
die jordanische Armee. Wir warfen in den letzten 45 Jahren fast die
ganze palästinensische kämpfende Intelligenz in israelische
Gefängnisse. Für jeden getöteten Juden der letzten drei Generationen
mussten zehn Palästinenser ihr Leben lassen.
Unsere Munition war 1973 von all dem
Töten ägyptischer Soldaten fast zu Ende und ohne amerikanische
Luftbrücke, hätten wir mit leeren Gewehrläufen umkehren müssen. Ein
junger Mann, der in einem Flüchtlingslager in elender Armut lebt,
ist bereit, einen heldenhaften Tod zu sterben. Er hat nichts zu
verlieren. Wie viele unserer Kinder wären bereit, Selbstmord zu
begehen und einen heldenhaften Tod zu sterben?
Mehr als nur ein paar Leute in und
außerhalb Israels verurteilen die schockierenden Erklärungen des
Außenministers Avigdor Lieberman. Aber Lieberman hat Recht, wenn er
behauptet, dass er nur laut sagt, was andere denken. Lassen wir uns
nicht täuschen, die Kultur in Israel ist seit langem vergiftet –
nicht weniger als der extremistische Strom innerhalb des Islam. Vom
Kindergarten bis ins hohe Alter nähren wir die Seelen unserer
Kinder mit jeder Menge Hass, Verdacht und Abscheu gegenüber Fremden
und besonders gegen Araber. Die Stimme einer geistig gesunden
Kultur schwindet dahin. Die Autoren des faschistischen Buches, das
den Mord an Arabern predigt, Torah ha-Melech (Des Königs
Torah) entkamen einer Anklage wegen Aufstachelung zu Rassismus und
Gewalt. Weinstein, der Staatsanwalt, schloss den Fall gegen sie und
erlaubte den Verkauf des abstoßenden Buches sogar während des
Prozesses. Im heutigen Israel schwellen die Knospen des geistigen
und kulturellen Faschismus. Ein lautstarker Autor, der sich in den
Dienst des Establishments hat anwerben lassen, verlangt, dass nur
Bücher, die den zionistischen Ethos voranbringen für
Literaturklassen ausgewählt werden sollen. Ein Scherz des
Schicksals: ein amüsantes Phänomen geschieht sogar jetzt, wo wir auf
den Abgrund zurasen. In Rekhasim, einer Gemeinde in der Nähe
Haifas, gab der Chef eines religiösen Rates der öffentlichen
Bibliothek die Order, alle säkularen Bücher in einen verschlossenen
Raum zu packen, der auch nicht für neugierige Leser zugänglich ist,
außer durch vorherige Absprache und für eine begrenzte Zeit. Die
Verse des Poeten, der ein Maschinengewehr wünscht, um Araber
umzubringen, sind in diesem intellektuellen Gefängnis eingesperrt.
Und die Bücher des Establishmentautors sammeln auch Staub auf sich.
Auch meine Bücher.
Ich definiere mich noch immer als
israelischer Patriot, aber eines niedergehenden Israels, das seinen
Rücken den Werten des Humanismus und den Menschenrechten zukehrt,
kann für mich nicht eine geistige Heimat sein.
Ewigkeit ist eine Illusion
Fast zwei Drittel des Gebietes von
Israel ist Wüste, wo traditionelle Landwirtschaft unmöglich ist. Der
Staat ist auch arm an Naturschätzen. Trotzdem ist es einer der
wenigen Staaten, die nach dem 2. Weltkrieg gegründet wurden, der
inzwischen den Status eines prosperierenden Staates angenommen hat.
Dank dem Fleiß seiner Bewohner und ihrer Genialität haben sich
raffinierte Landwirtschaft, High-technik und ausgezeichnete Medizin
in ihm entwickelt. Israel hat sich den führenden Staaten in mehr als
nur ein paar Gebieten angeschlossen. Nicht umsonst hat es mehrere
Nobelpreise auf verschiedenen Gebieten erhalten. Trotz all dieser
Leistungen stecken wir in einer düsteren Zeit. Im Laufe der
Geschichte hat es nicht immer dramatische Ereignisse gegeben, wie
totale Niederlage im Krieg oder eine kolossale Naturkatastrophe,
die über die Auslöschung der einen oder anderen Kultur entschied.
Banale Faktoren haben den Untergang und Tod ganzer Entitäten
gebracht: wie das alte Griechenland, die alte ägyptische
Zivilisation, das römische Reich, das Ottomanische Reich, das weiße
Regime in Südafrika und die französischen Kolonien in Algerien. Nur
jene, denen es an Phantasie fehlt und an der Fähigkeit zu tieferem
Nachdenken werfen mit Ausdrücken wie „Ewigkeit“, „für immer“ und
„generationenlang“ um sich.
Ich bin davon überzeugt, dass auch die
jüdische Religion sich in einem Zustand tiefer ideologischer und
geistlicher Krise befindet, nach der Zerstörung aller Ideologien.
Spirituell hat die Religion einen Tiefpunkt erreicht:
Götzenverehrung und grauenhaften Extremismus. Die religiöse Führung
scheint Hunderte von Jahren rückwärts in eine Welt des Aberglaubens
und erschreckender Ignoranz zu gehen. Die Religion, die weiß, wie
man mit der Entwicklung des Lebens dank so leuchtender Gestalten wie
Rambam (Maimonides) umgeht, schreit heute nach einer Führung, die
eine fundamentale Reform unternimmt. In derselben Krise steckt auch
die politische Führung. Opportunistische Knirpse kommen an die
Spitze. Es tut einem das Herz weh, wenn man sieht, wie die Menschen
diese und dazu eine korrupte und verlogene Führung angenommen hat,
die für aufgeklärte Führer wie Gestalten wie Abba Eban und Moshe
Sharett den Weg versperren.
Israel steht einer ernsten
existenziellen Gefahr gegenüber, wenn die bestehende Führung nicht
vernünftig wird, um zu begreifen, dass Israel nicht im ruhigen
Norden Europas liegt, sondern im aufgewühlten Zentrum des gequälten
Nahen Ostens. Für uns gibt es lange Zeit keinen Platz im Nahen
Osten, nachdem wir uns in ihm so abscheulich benommen haben, und
nachdem wir Tag und Nacht betont haben, dass er uns so verhasst ist.
So verhasst. Falls wir keine andere Lösung finden, außer mit
Maschinengewehr und Panzer, und falls wir uns selbst mit diesen
einem barfüßigen Jungen gegenüber, der einen Stein in der Hand hat,
hilflos fühlen, dann könnten wir alles verlieren. Es könnte sich
herausstellen, dass der Staat Israel ein vorübergehendes Phänomen
ist, wie das Reich des Ersten und Zweiten Tempels.
Es ist eine schreckliche Tragödie, weil
sich auch unsere Nachbarn in derselben schlimmen Situation befinden
– sie haben keinen Gandhi und wir haben nicht einmal einen
Mini-Roosevelt.
(dt. Ellen Rohlfs)
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