Palästina 2007:
Genozid in Gaza, ethnische Säuberung in der Westbank
Ilan Pappe, Electronic Intifada, 11.Januar 2007
Es ist noch
nicht lange her, dass ich behauptete, Israel führe eine genozidale
Politik im Gazastreifen durch. Ich zögerte zunächst sehr, ob ich
diesen belasteten Ausdruck verwenden solle – entschied mich dann
aber doch dazu. Die Reaktionen, die ich darauf erhielt, auch von
führenden Menschenrechtsorganisationen, machten deutlich, dass sie
bei der Anwendung dieses Ausdruckes ein ungutes Gefühl hatten. Ich
dachte noch einmal darüber nach und kam zu der Überzeugung, diesen
Terminus heute erst recht anzuwenden: es ist die einzig richtige
Weise, das zu beschreiben, was die israelische Armee im Gazastreifen
tut.
Am
28.Dezember 06 veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation
B’tselem ihren jährlichen Bericht über die israelischen
Grausamkeiten in den besetzten Gebieten. Die israelische Armee
tötete im vergangenen Jahr 670 Bürger. Die Zahl der getöteten
Palästinenser verdreifachte sich im Vergleich zum Jahr zuvor. Nach
B’tselem töteten die Israelis 141 Kinder im letzten Jahr. Die
meisten Toten gab es im Gazastreifen, wo das israelische Militär
fast 300 Häuser zerstörte und ganze Familien auslöschte. Das
bedeutet, dass seit 2000 die israelische Armee fast 4000
Palästinenser tötete, die Hälfte von ihnen Kinder und mehr als 20
000 Palästinenser wurden verletzt.
B’tselem ist
eine konservative Organisation – die Zahlen mögen also höher liegen.
Aber es geht nicht nur um das eskalierende absichtliche Töten – es
geht um den Trend und die Strategie. Als das Jahr 2007 begann, sahen
sich die israelischen Politiker zwei sehr schwierigen Realitäten in
der Westbank und im Gazastreifen gegenüber. In der Westbank ist man
dabei, mit dem Ausbau ( der Maueer) die Ostgrenze (Israels) zu
beenden. Die interne ideologische Debatte ist abgeschlossen und ihr
Gesamtplan für die Annexion der Hälfte der Westbank wird mit immer
größerer Geschwindigkeit abgeschlossen. Die letzte Phase verzögerte
sich wegen der von Israel im Zusammenhang mit der Road Map
abgegebenen Versprechen, keine neuen Siedlungen mehr zu bauen.
Israel fand zwei Wege, die Verbote zum umgehen. Zunächst erklärte es
ein Drittel der Westbank zu Groß-Jerusalem, was ihm erlaubte,
innerhalb dieser annektierten Gebiete Stadt und Gemeindezentren zu
bauen. Zweitens dehnte es alte Siedlungen derart aus, dass keine
Neuen nötig waren. Dieser Trend erhielt 2006 einen zusätzlichen
Anstoß. (Hunderte von Wohnwagen wurden aufgestellt, um die Grenzen
der Ausdehnung festzulegen, die geplanten Anlagen für neue Städte
und Stadtteile wurden abgeschlossen und das
Apartheid-Umgehungsstraßen- und Schnellstraßensystem fertig
gestellt) Im Ganzen wird sich Israel mit den Siedlungen, den
Armeebasen, den Straßen und der Mauer erlauben, fast die Hälfte der
Westbank bis zum Jahr 2010 zu annektieren. Innerhalb dieser Gebiete
wird es eine beträchtliche Anzahl von Palästinensern geben, gegen
die die israelischen Behörden weiter ihre langsame Transferpolitik
ausüben wird – zu langweilig, als dass sich westliche Medien damit
befassen werden und zu schwierig für Menschenrechtsorganisationen,
um dies zu einem Thema zu machen. Es hat keine Eile, was die
Palästinenser betrifft. Soweit es die Israelis betrifft, so haben
sie dort sowieso die Oberhand. Die täglichen Schikanen und
entmenschlichenden Mechanismen der Armee und Bürokratie sind so
wirksam wie immer und haben ihren Anteil am Enteignungsprozess.
Das
strategische Denken eines Sharons, dass diese Politik weit besser
sei als die der „Transferisten“ oder „Ethnic Cleanser“ wie Avigdor
Lieberman wird von jedem in der Regierung akzeptiert - von Labor
bis Kadima. Die kleinen Verbrechen des Staatsterrorismus sind auch
deshalb effektiv, weil sie die liberalen Zionisten rund um die Welt
in die Lage versetzen, Israel nur sanft zu tadeln und jede echte
Kritik an Israels krimineller Politik als Antisemitismus bezeichnen.
Andrerseits
gibt es für den Gazastreifen keine klare israelische Strategie. Aber
es gibt tägliche Experimente. In den Augen der Israelis ist Gaza
eine völlig andere geopolitische Entität als die Westbank. Die Hamas
kontrolliert den Gazastreifen, während Abu Mazen die in viele Teile
zersplitterte Westbank mit der Zustimmung Israels und der Amerikaner
unter seiner Kontrolle hat. Da gibt es kein Stückchen Land in Gaza,
das Israel begehrt und es gibt kein Hinterland wie Jordanien, in das
die Menschen von Gaza vertrieben werden können. Ethnische Säuberung
ist hier ineffektiv.
Die frühere
Strategie in Gaza war die Gettoisierung der Palästinenser dort, aber
das hat nicht funktioniert. Die gettoisierte Gemeinschaft drückt
ihren Lebenswillen damit aus, dass sie primitive Raketen nach Israel
abschießt. Eine Gettoisierung oder unerwünschte Gemeinschaften unter
Quarantäne zu setzen, hat in der Geschichte noch nie als Lösung
funktioniert. Die Juden müssten das eigentlich aus ihrer Geschichte
am besten wissen. Die nächsten Stadien gegen solche Gemeinschaften
waren in der Vergangenheit noch viel schrecklicher und barbarischer.
Es ist schwierig vorauszusagen, was in Zukunft mit der
Gazabevölkerung passiert, in ein Getto gesperrt, und unter
Quarantäne gehalten, unerwünscht und dämonisiert zu werden. Wird
sich eines der ominösen historischen Beispiele wiederholen? Oder ist
noch ein besseres Schicksal möglich?
Ein
Gefängnis errichten und dann den Schlüssel ins Meer werfen, wie
UN-Sonderberichterstatter John Dugard sagte, war eine Option, gegen
die die Palästinenser im Gazastreifen ab September 2005 mit Gewalt
reagierten. Sie hatten sich entschieden, mindestens zu zeigen, dass
sie noch immer ein Teil der West Bank und Palästinas sind. In jenem
Monat feuerten sie die ersten bedeutsamen Ladungen von
Qassam-Raketen in den westlichen Negev ab. Das Abschießen war eine
Antwort auf eine israelische Kampagne von Massenverhaftungen von
Hamas und Islamic Jihad-Aktivisten im Raum Tulkarem. Die Israelis
antworteten mit der Operation „Erster Regen“. Man sollte einen
Augenblick über diese Operation nachdenken. Sie wurde von den
Strafmaßnahmen der ersten Kolonialmächte, dann von Diktaturen
angeregt, die gegen rebellische, gefangene oder vertriebene
Gemeinden ausgeführt wurden. Es ist ein erschreckendes Machtgehabe,
das allen Arten kollektiver und brutaler Strafen vorausgeht und mit
einer großen Anzahl von Toten und Verwundeten unter den Opfern
endet.
In der
Operation „Erster Regen“ gab es ohrenbetäubende Überschall-Flüge
über Gaza, die die ganze Bevölkerung terrorisierten; schwere
Bombardements von der Küste, aus der Luft und von Land auf große
Gebiete folgten. Die israelische Armee erklärte die Logistik: man
wollte Druck ausüben, um die Unterstützung der Bevölkerung für die
Qassems zu schwächen. Wie erwartet wurde - übrigens auch von Israel
– wuchs die Unterstützung für das Abfeuern der Qassems nur und gab
den Anstoß für den nächsten Angriff. Der wirkliche Zweck dieser
Operation war experimentell. Die israelischen Generäle wollten
wissen, wie man auf solch eine Operation „zu Hause“, in der Region
und in der Welt reagiert. Und es schien, dass die Antwort „sehr
gut“ war; keiner hat sich um die große Anzahl von toten und Hunderte
von verwundeten Palästinenser gekümmert, die der „erste Regen“
hinterlassen hat.
Und seit der
Operation „Erster Regen“ sind bis Juni 2006 alle Operationen in etwa
von gleicher Art gewesen. Der Unterschied lag in ihrer Eskalation:
mehr Feuerkraft, mehr Todesfälle mehr Kollateralschäden – und wie
erwartet mehr Qassems als Antwort. Die begleitenden Maßnahmen
bestanden 2006 aus noch schlimmeren Maßnahmen, um die Gefangenschaft
des ganzen Volkes von Gaza durch Boykott und Blockade sicher zu
stellen, an der sich die EU schändlicherweise mit beteiligt.
Die
Gefangennahme von Gilad Shalit im Juni 2006 war von keiner
besonderen Bedeutung, lieferte aber trotzdem den Israelis eine
Gelegenheit die angeblichen Strafmaßnahmen noch mehr eskalieren zu
lassen. Es gab noch keine Strategie, die der taktischen Entscheidung
Ariel Sharons folgte, die 8000 Siedler herauszuholen, deren
Gegenwart die Strafmaßnahmen nur komplizierter gemacht hätten.
(Diese Aktion hätte Sharon fast zu einem Kandidaten für den
Friedensnobelpreis gemacht.) Seitdem geht es mit den Strafmaßnahmen
weiter, ja sie werden zu einer Strategie.
Die
israelische Armee liebt das Drama. Nun eskaliert sie auch mit der
Sprache. Dem „Ersten Regen“ folgte der „Sommerregen“, ein
allgemeiner Name, der den „Strafmaßnahmen“ im Juni 2006 gegeben
wurde ( noch dazu in einem Land, das keinen Sommerregen kennt und
die einzigen zu erwartenden Niederschläge die aus F-16-Bombern und
Artilleriegranaten sind, die die Menschen von Gaza treffen.)
Die
Operation „Sommerregen“ brachte eine neue Komponente: die Invasionen
in Teilen des Gazastreifens. Die Armee konnte auf diese Weise noch
mehr Bürger töten und dies als eine Folge von schweren Kämpfen
innerhalb dicht bevölkerter Gebiete darstellen, eine unvermeidliche
Folge der Umstände und nicht der israelischen Politik. Dann kam die
Operation „Herbstwolken“, die noch effizienter war: am 1. November
2006 in weniger als 48 Stunden töteten die Israelis 70 Zivilisten;
am Ende des Monats gab es bei zusätzlichen Kleinoperationen fast 200
Getötete, die Hälfte von ihnen waren Kinder und Frauen.
Wenn man die
Daten der Aktivitäten mit einander vergleicht, kann man feststellen,
dass einige parallel zu Angriffen im Libanon liefen – sie hatten so
also weniger internationale Aufmerksamkeit und weniger Kritiker.
Vom
„Sommerregen“ bis „Herbstwolken“ kann man eine Eskalation in jedem
Parameter erkennen. Zunächst verschwindet die Unterscheidung
zwischen zivilen und nicht-zivilen Zielen. Das sinnlose Töten hat
die Bevölkerung im Ganzen zum Hauptziel der militärischen Operation
gemacht. Zweitens fand eine Eskalation in den Mitteln statt: die
Anwendung jeder möglichen Tötungsmaschine, die Israels Armee hat.
Drittens wird die Eskalation in der Zahl der Todesopfer deutlich:
mit jeder Operation und jeder zukünftigen Operation wird die Zahl
der Todesopfer und der Verletzten immer größer. Schließlich und das
ist am wichtigsten werden die Operationen zur Strategie – zur Art
und Weise, mit der Israel das Problem mit ( den Menschen) im
Gazastreifen lösen will.
Ein
schleichender Transfer in der Westbank und eine wohl überlegte
genozidale Politik im Gazastreifen sind die beiden Strategien, die
Israel heute praktiziert. ..Die Westbank unter Abu Mazen gibt dem
israelischen Druck nach, und es gibt keine Kraft, die die
israelische Strategie der Annexionen und Enteignungen aufhält, Doch
Gaza feuert zurück. Dies macht es den Israelis möglich, mit weiteren
genozidalen Operationen in der Zukunft zu reagieren. Dann besteht
aber die große Gefahr, die 1948 passierte: die Armee fordert eine
noch drastischere und systematische Strafaktion gegen das belagerte
Volk im Gazastreifen.
Seltsamerweise ruht im Augenblick die israelische Tötungsmaschine
endlich. Obwohl eine relativ große Anzahl von Qassems abgeschossen
worden waren und ein oder zwei sogar tödliche Folgen hatten, ließ
sich die Armee nicht provozieren. Der Armeesprecher redet von
„Zurückhaltung“, die die Armee in der Vergangenheit nie gezeigt
hat und wohl auch nicht in der Zukunft zeigen wird. Die Armee ruht
aus, da ihre Generäle mit dem internen Morden zufrieden sind, das
gerade im Gazastreifen tobt. Die Generäle beobachten den sich
entwickelnden Bürgerkrieg mit Genugtuung, der von Israel aus
geschürt wird – ihr Job wird gerade von andern erledigt Vom
israelischen Standpunkt aus, ist es völlig unwichtig, wie weit die
Bevölkerung reduziert wird, sei es durch Bürgerkrieg oder
israelische Schläge. Die Verantwortung für das Beenden der internen
Kämpfe liegt natürlich bei den palästinensischen Gruppen selbst,
aber die amerikanische und israelische Einmischung, die andauernde
Gefangenschaft, die Hungersnot und Strangulierung des Gazastreifens
sind alles Faktoren, die einen internen Friedensprozess sehr
schwierig gestalten. Aber er wird eintreten und mit den ersten
Anzeichen dafür wird Israels „Sommerregen“ wieder auf die Menschen
in Gaza fallen und Verwüstung und Tod verursachen.
Man sollte
niemals müde werden, die sich zwangsläufig ergebenden politischen
Schlüsse aus dieser bedrückenden Realität des letzten und des vor
uns liegenden Jahres zu ziehen. Es gibt keinen anderen Weg, Israel
zu stoppen, als durch Boykott, Divestments und Sanktionen. Wir
sollten dies alle klar, offen und bedingungslos unterstützen, egal
was die Gurus dieser Welt uns über die Wirksamkeit erzählen oder
über die Staatsraison solcher Aktionen. Die UN würde im Gazastreifen
nicht so intervenieren wie in Südafrika; die
Friedensnobelpreisträger würden nicht zu seiner Verteidigung kommen,
wie sie es in Südostasien taten. Die Zahl der dort getöteten
Menschen ist nicht umwerfend im Vergleich zu anderen Katastrophen –
und es ist keine neue Geschichte. Sie ist gefährlich alt und
besorgniserregend. Der einzige empfindliche Punkt dieser
Tötungsmaschine ist eine bestimmte Linie der westlichen Zivilisation
und öffentlichen Meinung. Noch ist es möglich, sie zu erreichen und
es für die Israelis schwieriger zu machen, ihre zukünftige Strategie
der Eliminierung des palästinensischen Volkes entweder durch
ethnische Säuberung der Westbank oder durch Völkermord im
Gazastreifen durchzuführen.
Ilan Pappe
ist Dozent an der Universität in Haifa für politische Wissenschaft
und der Leiter des Emil Touma-Institutes für palästinensische
Studien in Haifa. Seine Bücher: „Die Israel-Palästina-Frage, 1992;
u.a. „Ethnic Cleansing of Palestine“, 2006
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