Wir lieben Syrien, aber nicht sein Regime –
Eine palästinensische Meinung
Von Hakam Abdel-Hadi
Die Syrienfrage spaltet die
arabischen Völker, Staaten und selbst die Familien.
Da ich aus Palästina stamme, versuche ich hier
die Sicht der Palästinenser dazustellen.
Was haben die Palästinenser mit
Syrien zu tun, und warum sind sie durch die dortigen
Ereignisse so betroffen?
Syrien bedeutet ihnen an und für sich
viel. Es ist wahrlich das einzige arabische Land, wo
die dort lebenden vierhunderttausend
palästinensischen Flüchtlinge nicht mehr
diskriminiert werden als die eigene
Bevölkerung.
Die Familie meiner Schwester musste
beispielsweise 1948 von Haifa nach Damaskus
flüchten. Damals brauchte das Land Englischlehrer,
weil die Syrer das Französische, die bisherige
Sprache der einstigen Kolonialmacht, nicht mehr als
zweite Sprache beibehalten wollten. Englisch als
Weltsprache und als Fenster zur Moderne wurde
plötzlich in fast allen Schulen des Landes
unterrichtet. Zunächst herrschte
Englischlehrermangel und so konnten meine Schwester
und ihr Mann in der schönen syrischen Hauptstadt als
Englischlehrer gut leben und arbeiten. Es fehlte
ihnen an Nichts. Im Gegenteil, sie wurden auf Händen
getragen. Die Bevölkerung lebte, weinte und
solidarisierte sich mit ihnen. Mein Schwager: „ Gott
ist mein Zeuge, man hat uns niemals als Fremde
behandelt. Wir fühlen uns hier Zuhause“.
Es ist wahr, Syrien ist nahezu das
einzige arabische Land, wo auch ich mich als
Palästinenser stets besonders wohl fühle: Fast
haargenau die gleichen Sitten, Sprachnuancen,
Leckereien wie in Palästina und in der Regel etwas
besser. Meine vier Brüder und ich verbrachten jedes
Jahr mindestens eine Woche Ferien am Mittelmeer in
Tartus, wo jetzt russische Kriegsschiffe in den für
sie strategisch besonders wichtigen sogenannten
warmen Gewässern andocken.
Israelische Besatzung in den
Golanhöhen und der Westbank
Aus der Sicht der Palästinenser ist
Syrien ein Frontstaat und teilweise ein von Israel
besetztes Land. Die Golanhöhen sind seit 1967 genau
so besetzt wie die Westbank. Es gab bisher keine
syrische Regierung, die bereit war oder es gewagt
hat, auf diese wunderschöne Landschaft, wo übrigens
die Hauptquelle des Jordan-Flusses wuchtig
entspringt und der Wein so gut gedeiht, zu
verzichten. In aller Stille besiedelt Israel dort
genau so Völkerrechtswidrig, hastig und entschlossen
wie in der Westbank. Die Golanhöhen sind zweifellos
ein fester Bestandteil der syrischen Heimat, und
die ehemaligen kolonialisierten Völker betrachten
Besatzungsmächte als Fortsetzung des Kolonialismus.
Im Gegensatz zum verständlichen Entgegenkommen
Deutschlands gegenüber Israel sagen Syrer,
Palästinenser und Libanesen : Doch nicht auf unsere
Kosten. Was haben wir mit dem Holocaust zu tun?
Syrien als unfreiwilliger
Frontstaat
Zurück zu Syrien. Nach meiner
Einschätzung waren sowohl General Hafis Al Assad,
der Gründer der Assaddynastie, als auch sein
Nachfolger und Sohn Baschar, in mehreren
historischen Phasen bereit, eine Kompromisslösung
mit Israel zu erzielen, wenn Tel Aviv bereit gewesen
wäre, die Golanhöhen zu räumen. Der ermordete
israelische Ministerpräsident Yizhak Rabin, war
soweit gewesen – das lässt sich leicht dokumentieren
-, aber es sollte nicht sein. Dieser Politiker war
vielleicht zu gut für die Region und deswegen
ermordete ihn ein israelischer Fanatiker am 4.
November 2005. Mit seinem Tod, könnte man sagen,
starb auch der Friedensprozess sowohl mit den
Palästinensern als auch mit Damaskus. So blieb
Syrien unfreiwillig ein Frontstaat.
Die „strategische“
Zusammenarbeit Syriens mit Iran, Hisbollah und Hamas
resultiert daraus, dass Syrien keinen Krieg und
keinen Frieden mit Israel schließen kann, solange
die Golanhöhen nicht befreit sind. Der Westen hätte
ohne große Mühe und mit minimalen Kosten Syrien aus
diesem für ihn verhassten Bündnis lösen können, aber
die Blockade und Expansionsgelüste Israels machten
Kompromisse unmöglich, und nun muss das syrische
Volk einen hohen Preis für die israelische
Kompromisslosigkeit und die westliche Feigheit
bezahlen.
Die meisten Palästinenser wissen,
dass Syrien Hisbollah und bis vor kurzem auch Hamas
unterstützt(e) nicht zuletzt, um Druck auf Israel
auszuüben, damit die Golanhöhen geräumt werden. Kein
syrischer Präsident kann einen Platz in den
Geschichtsbüchern erobern, solange der Golan von
Israel erobert ist. Die Syrer reimten lustige
Sprüche über Hafis Al Assad : Kaninchen im Golan und
Löwe im Libanon.
Irans Dominanzbestrebungen in der
Region und die Klemme Syriens
Iran führt bisher propagandistisch
Krieg gegen Israel, um die Führung der arabischen
Welt zu übernehmen. Die überzogenen, unmöglichen
Erklärungen von Präsident Mahmud Ahmadinedschad, der
den Holocaust verleugnet und Israel total ablehnt,
müssen in diesem Zusammenhang gesehen werden. Viele
Araber, vor allem die Palästinenser, akzeptieren die
Zwei-Staaten-Lösung, die Israel leider faktisch
ablehnt, aber es gibt keinen Araber, der glaubt,
dass die Entstehung Israels auf Kosten der
Palästinenser rechtens ist.
Hisbollah führte 2000 und 2006
relativ erfolgreich ihre militärischen
Konfrontationen mit Israel nicht zuletzt im Auftrag
Irans und Syriens und mit den Waffen beider Länder.
Natürlich will der charismatische Führer Scheich
Hassan Nasrallah auch den Libanon politisch
beherrschen, was inzwischen auch geschieht, aber die
Palästinafrage und seine Konfrontation mit Israel
verhalf ihm dabei. Er konnte dadurch nicht nur die
Schiiten, sondern auch einen Teil der Christen und
Sunniten für seine Strategie gewinnen.
Alle drei Parteien Syrien, Iran und
Hisbollah missbrauchen Palästina, wie so oft in der
arabischen Welt, für ihre Zwecke. Wir haben
beispielsweise gesehen, dass das Baschar-Regime als
es in der Klemme war und gegen zehntausende von
Demonstranten im Jahre 2011 kämpfen musste,
die palästinensische Karte billig einsetzte. Das
Regime bemühte sich in den vergangenen vier Dekaden
Ruhe an der syrisch-israelischen Grenze zu bewahren.
Kein Schuss wurde gegen Israel seit dem Krieg vom
1973 gefeuert. Die Grenze zwischen beiden Ländern
war so ruhig wie die dänisch-schwedische Grenze, und
nun brauchte das syrische Regime ein
Ablenkungsmanöver.
Die FAZ berichtete am 5.6.2011: „
Mehrere hundert pro-palästinensische Aktivisten
marschierten aus Syrien auf den Grenzzaun zu, worauf
israelische Soldaten das Feuer eröffneten. Nach
syrischen Fernsehberichten kamen bis zu 20
Demonstranten um, mehr als 300 weitere Palästinenser
und Sympathisanten wurden verletzt“. Mindestens 20
palästinensische Mütter weinten um ihre Kinder,
damit der von seinem Volk bedrängte Diktator
entlastet wird.
Das Syrische Regime und seine
Opfer
Es sind nicht die ersten
palästinensischen Opfer der Assaddynastie. Schon der
Gründer dieser „republikanischen Monarchie“, Hafis
Al Assad, ließ am 12. August 1976 im Libanon während
des Bürgerkriegs (1975 – 1990) seine
rechtsgerichteten falangistischen Bündnispartner
Hunderte palästinensischer Flüchtlinge im
Flüchtlingslager Tel El Zaatar (Thymians Hügel)
massakrieren.
Aber was sind die palästinensischen
Opfer im Vergleich zu den Tausenden Syrern, die das
Regime in Hama 1982 und 2011 in Hama, Homs und
weiteren 400 Städten und Dörfern ermordete? Manche
Kollegen, zugegeben wenige, aber mit prominenten
Namen, argumentieren letztlich demokratiefeindlich
und menschenverachtend, wenn sie sagen, Diktaturen
gebe es in diesem Breitengrad überall, und warum
wolle man nun gegen das Regime in Syrien
vorgehen. In einem Interview mit der Berliner
Zeitung
(8. März 2012)
erklärte der Senior des deutschen Journalismus
Peter Scholl-Latour: „ Das Regime in Damaskus ist
eine abscheuliche Diktatur. Aber es ist auch nicht
schlimmer als andere. Darum verstehe ich auch die
Einseitigkeit im Westen nicht. Ist Saudi-Arabien
denn ein demokratisches Regime“.
Natürlich ist Saudi-Arabien keine
Demokratie, aber da macht der Westen einen Fehler,
weil das Erdöl ihm wichtiger als seine so
hochgehaltenen Werte. Bertold Brecht würde sagen:
„Wer A sagt, muss nicht B sagen, wenn A falsch ist“.
Wir als Demokraten sollten die Diktaturen nirgends
tolerieren.
Die Demokratie ist doch die
Kernfrage. Mit den Diktaturen haben wir so miserable
Ergebnisse in allen Bereichen erzielt: Bildung,
wirtschaftliche Entwicklung, Korruptions- und
Armutsbekämpfung. Natürlich können solche schwachen
Regime auch auf der internationalen Bühne nicht
angemessen auftreten. Dies trifft nicht nur auf die
Palästina-Frage zu, sondern auf allen Ebenen, die
für die Völker der Region von Bedeutung sind. Was
die Palästina-Frage angeht, so sagt der Volksmund:
„Völkerrechtlich sind wir im Recht, aber wir haben
schlechte Anwälte“. Keiner nahm Mubarak, Assad,
Saleh und Bin Ali ernst, weil alle wussten, dass sie
selbst korrupt und ihre Regime innenpolitisch morsch
sind.
Keine Alternative zum Frühling –
lasst uns endlich die Freiheit einatmen
Dennoch für einen meiner Brüder
stellt das Bündnis zwischen Iran, Syrien, Hisbollah
(und vielleicht auch Hamas) eine sogenannte
Dschabhat Almumana`a, zu Deutsch Verweigerungsfront,
gegen die israelische Expansion dar. Da dieser
Bruder zweifellos ein Patriot ist, glaubt er nur so
die besetzten Gebiete zu befreien, weil Israel
eben die Westbank und das umzingelte Gaza nicht
räumen will. Ähnlich wie Scholl-Latour bestreitet er
nicht, dass das Regime in Damaskus eine
abscheuliche Diktatur ist, aber für Palästina ist er
bereit hinzunehmen, dass Syrer getötet und
gefoltert werden. Gleichzeitig weiß ich ganz genau,
dass mein Bruder Syrien und jeden Syrer wie ich
liebt. In welcher Verzweiflung befinden sich solche
Menschen?
So wie mein Bruder denken leider
nicht wenige Palästinenser. Wie viele weiß keiner,
weil es keine Umfragen dazu gibt. Andere
Palästinenser – ich zähle mich dazu – vertreten die
Auffassung, dass ein unbefreites Volk, wie das
syrische Volk, das seit 40 Jahren unter der Knute
der Assad-Dynastie lebt, wenig zur Befreiung
des palästinensischen Volkes beitragen kann. Das
syrische Volk ist seit März 2011 dabei, sein
Selbstbewusstsein wiederherzustellen. Präsident
Gauck zitierte in seiner jüngsten historischen Rede
im Bundestag Gandhi: „ Nach einem Wort Gandhis
kann nur ein Mensch mit Selbstvertrauen Fortschritte
machen und Erfolge haben. Dies gilt für einen
Menschen wie für ein Land, so Gandhi“.
Ein in Deutschland ausgebildeter
syrischer Ingenieur sagte mir vor Jahren: „Das
syrische Volk ist durch die Geheimdienste,
Gefängnisse und Korruption ausgelaugt. Du kannst den
Richter, die Polizei, die Minister ja fast alle, die
etwas zu sagen haben, bestechen. Was kannst du mit
so einem Volk anfangen?“
Das palästinensische Volk ist auf
Bündnisse angewiesen, da sein israelischer Gegner
nicht zuletzt durch die massive militärische und
politische amerikanische und deutsche
Unterstützung übermächtig ist. Im Grunde hat
Israel eine Freikarte für alle grausamen
Veranstaltungen in der Region, ob gegen Gaza oder
wohin auch immer die israelischen Mustersoldaten
ihre Feldzüge tragen. Die Palästinenser haben wenig
von dem Gerede von Kanzlerin Merkel oder
Außenminister Westerwelle über die
Zwei-Staaten-Lösung, solange keine Taten folgen. Mit
deutschem Geld kann man die Gehälter
palästinensischen Polizisten bezahlen, aber keine
Palästinafrage lösen.
Was ist nun zu tun? Meine Fraktion
setzt auf den arabischen Frühling, auf den Aufstand
der Menschen in Ägypten, Tunesien, Syrien, Yemen und
Libyen. Die nächsten Aufstände werden noch kommen,
hoffen wir. Die Araber müssen wieder den aufrechten
Gang lernen. Sie haben keine andere Wahl als ihre
Ketten zu zerschlagen und gegen die Diktaturen und
ihre schrecklichen Geheimdienste und Schläger, gegen
die Armut, Unterdrückung, Korruption vorzugehen.
Dieser Weg ist schwer, aber die Reise nach China
beginnt mit einem Schritt. Eins steht fest: Der
Geist der Freiheit ist aus der Flasche.
ENDE