Auszug aus einem Interview mit Prof. Fawas Abu
Sitta, einem palästinensischen Hochschullehrer an
der Al Ashar-Universität in Gaza und Mitglied des
Nationalen Komitees zur Aufhebung der israelischen
Blockade gegen den Gazastreifen.
Das Interview, das
von RADIO MULTIKULTI (www.radiomultikulti.de)
in voller Länge am 10. Dezember 2007 gesendet wurde,
hat Hakam Abdel-Hadi in arabischer Sprache am 8.
Dezember 2007 in Köln geführt.
Frage: Sie
leben und lehren in Gaza. Wir führen das Interview
in Köln, und Sie haben demnach kein Problem ins
Ausland zu reisen. können sich die Bewohner des
Gazastreifens ebenso frei bewegen?
Antwort:
Nur wenige Menschen erhalten unter besonders
erschwerten Bedingungen Sondergenehmigungen für eine
Auslandsreise. Selbst die Besitzer von ausländischen
Pässen und die Mitarbeiter von internationalen
Institutionen können das Land nicht ohne
Schwierigkeiten verlassen; ihre Botschaften oder
Organisationen müssen sich oft einschalten, um eine
Ausreise zu erreichen.
Für die Mehrheit der Bevölkerung des Gazastreifens
ist die Erhaltung einer Ein- und
Ausreisegenehmigung von Israel besonders mühsam.
Beispielsweise können die meisten Bewohner, die sich
im Ausland aufhalten, seit vier Monaten nicht
zurückkehren. Auch diejenigen Palästinenser, die im
Ausland arbeiten oder studieren und jene, die sich
nur für kurze Besuchszeit im Gazastreifen aufhalten
wollten, sind mehrheitlich hängen geblieben und
erhalten keine Ausreisegenehmigungen. Für viele von
ihnen sind inzwischen die Aufenthaltsgenehmigungen
im Ausland ungültig geworden, die Arbeitsverträge
für manche wurden annulliert; ein Teil der im
Ausland Studierenden können an den Prüfungen
nicht teilnehmen.
Besonders schlimm ist es für die Kranken, die wegen
der unzureichenden Dienstleistungen des lokalen
Gesundheitssystems im Ausland medizinisch versorgt
werden müssten. Für viele dieser Patienten, die
normalerweise eine Überweisung vom
Gesundheitsministerium für beispielsweise eine
Operation in ägyptischen oder jordanischen
Krankenhäusern erhalten, sind die Wege oft
blockiert. Einige von ihnen sind gestorben, weil sie
keine Ausreisegenehmigung von Israel erhielten…
Frage: Ja,
die Freiheit für die Bevölkerung des Gazastreifens,
vor allem wenn die Bewohner die Grenze des Streifens
überschreiten wollen, ist, wie Sie erläutert haben,
stark eingeschränkt. Wie ist denn die Freiheit
innerhalb des Gazastreifens seit der
Machtübernahme von Hamas? Fühlen die Menschen sich
freier oder haben wir es mit einem diktatorischen
Regime nach islamischer Art zu tun?
Antwort: Weder Hamas noch Al Fatah können den
Palästinensern die ersehnte Freiheit gewähren, da –
unabhängig davon welche von den beiden Bewegungen
regiert – die Besatzungsmacht Israel die Grenzen der
Freiheit bestimmt.
Frage: Aber
Gaza ist derzeit nicht besetzt…!
Antwort:
Für den Beobachter von draußen scheint Gaza
unbesetzt, aber es ist rundum abgeriegelt und von
der israelischen Besatzung umfassend kontrolliert.
Die Fläche des Gazastreifens beträgt bekanntlich nur
350 Quadratkilometer und dort leben 1,5
Millionen Bürger. Die See-, Land- und
Flugverbindungen zu diesem Gebiet sind geschlossen.
Der Abzug der israelischen Streitkräfte bis zu den
Grenzen des Gazastreifens bedeutet nur die
Erweiterung der Mauern des Gefängnisses und nicht
die Befreiung der in Gaza gefangenen Menschen.
Deshalb haben sich die Lebensbedingungen durch den
Ruckzug der israelischen Armee auch nicht
verbessert.
Darüber hinaus gibt es nämlich zusätzliche
Maßnahmen, die darauf abzielen, das Leben der
Menschen einzuengen, so beispielsweise die
Behinderung der Lieferung von Baustoffen, Zement und
anderer Rohstoffen, die für die Fortsetzung der
Produktion im privaten Sektor unabdinglich sind.
Dies führte zur Vernichtung von Tausenden von
Arbeitsplätzen und zu einer verschärften Armut.
Viele lebenswichtige Güter, die für die Durchführung
von täglichen Operationen in den Krankenhäusern
erforderlich sind, wie etwa Narkosemittel sind rar
geworden. Auch der für die medizinische
Behandlung in bestimmten Fällen notwendige
Sauerstoff ist oft nicht vorhanden. All dies führt
zur Verschlechterung der gesundheitlichen Lage.
Zum anderen wurde die Situation auf dem Arbeitsmarkt
verschlimmert. Die Arbeitslosigkeit und die Armut,
die vor der Machtübernahme von Hamas da waren,
wurden durch die Blockade verschärft.
Da stellt sich die Frage: Wie kann das
palästinensische Volk unter diesen Bedingungen
physisch überleben? Dies ist nur möglich, weil die
UNO-Hilfsorganisation UNRWA und andere
internationale Organisationen nach wie vor
Nahrungsmittel liefern und damit das Minimum
garantieren, was zum überleben notwendig ist.
Dennoch können wir nicht von einem normalen Leben
der Bürger im Gazastreifen reden. Es gibt zwar eine
Bewegungsfreiheit innerhalb eines geschlossenen
Raums, innerhalb des Gazastreifens, aber man muss
bedenken, dass auch diese Freiheit durch
militärische Angriffe der israelischen Armee aus der
Luft, von See oder von Land gefährdet und
beeinträchtigt wird. Die israelischen Stützpunkte an
der Grenze zum Gazastreifen sind mit
Boden-Boden-Raketen bestückt; die israelischen
Zeppeline, die den Streifen überfliegen
kontrollieren jede Bewegung darin, und so kann
Israel jede Person angreifen und das Leben eines
jeden Bürgers bedrohen.
Frage:
Andererseits berichten die Medien täglich darüber,
dass die Attacken mit Kassam-Raketen auf israelische
Orte fortgesetzt werden. Die meisten Beobachter hier
sind der Auffassung, dass Israel das Recht auf
Selbstverteidigung hat. Was sagen Sie dazu?
Antwort:
Der Beschuss israelischer Orte mit Kassam-Raketen
ist innerhalb der Palästinenser umstritten. Die
Meinungen über die militärische und
sicherheitspolitische Effizienz solcher Attacken
gehen weit auseinander. Der Einsatz solcher
gebastelten Raketen gibt Israel einen Vorwand für
massive Angriffe und Kollektivstrafen. Die Reaktion
Israels auf den Beschuss mit diesen Raketen ist
überzogen; auf geringfügige Schäden, die oft in
nicht bewohnten Gebieten erfolgen, reagiert die
israelische Armee nicht verhältnismäßig, sondern mit
extremer Härte. Wenn dem nicht so wäre, dann würde
die Raketendebatte bei uns vermutlich einen anderen
Verlauf nehmen.
Die Palästinenser haben unterschiedliche Positionen
nicht nur zur
Raketenfrage, sondern auch zur Gewalt überhaupt. Die
Mehrheit des palästinensischen Volkes ist der
Meinung, dass die Nachteile des bewaffneten
Widerstands unter den gegebenen Bedingungen größer
als die Vorteile sind, obwohl die Palästinenser das
Recht auf Widerstand gegen die Besatzung haben, da
Israel sich nach wie vor weigert, die
UNO-Resolutionen zu akzeptieren, die den Rückzug
Israels aus den besetzten Gebieten fordern.
Die Mehrheit der Palästinenser ist derzeit der
Meinung, dass die Vorteile des gewaltloses
Widerstands überwiegen, auch wenn die meisten von
ihnen die Hoffnung verloren haben, dass Israel dazu
bereit ist, einer friedlichen Lösung zuzustimmen,
die dahin führt, dass es die Besiedlungspolitik
aufgibt und die 1967 besetzten Gebiete räumt und
sich mit der Errichtung eines palästinensischen
Staates mit Ostjerusalem als Hauptstadt
einverstanden erklärt. Der größte Teil der
Palästinenser erwartet nichts von den friedlichen
Lösungen, obwohl sie sich nach einer solchen Lösung
sehnen, welche die Rechte beider Seiten garantiert
und das Leben der Israelis und der Palästinenser in
gesicherten Grenzen herbeiführen würde.
Frage: Sie
haben als Bürger von Gaza selbst erlebt, wie Hamas
die Macht von Al Fatah erzwang. Wie haben Sie
diese Entwicklung empfunden?
Antwort:
Diese Entwicklung ist natürlich für jeden
Palästinenser bedauerlich, der sich für die
palästinensische Einheit einsetzt. Nach meiner
Auffassung ist das Scheitern des Friedensprozesses
eine wichtige Ursache für die Verschärfung der
Polarisierung innerhalb der palästinensischen
Gesellschaft…So kann es auf keinen Fall weiter
gehen. Die Wiederherstellung der Einheit muss auf
dem Dialogwege erreicht werden, da das
palästinensische Volk sonst seine minimalen
Forderungen nicht durchsetzen kann…Das Scheitern der
bisherigen Bemühungen um die Überwindung der Kluft
zwischen Hamas und Al Fatah ist – meiner Meinung
nach – nicht nur auf die unterschiedlichen
Standpunkte beider Seiten zurückzuführen, sondern
auch auf die Politik der USA und Israels,
die das Ziel verfolgen, dass jeder
Annäherungsversuch zwischen Hamas und Al Fatah
erfolglos bleibt.
Frage: Am
11.11.2007 versammelten sich Zehntausende zum 3.
Todestag von Palästinenserführer Jasser Arafat. Es
kam zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den
Anhängern von Al Fatah und von Hamas. Damit hat
keiner gerechnet. Können Sie die Hintergründe
erläutern?
Antwort:
Selbstverständlich gibt es eine politische
Auseinandersetzung zwischen der größten
palästinensischen Organisation Al Fatah und der
islamischen Organisation Hamas. Der Verlauf dieser
Veranstaltung ist ein politisches Indiz dafür, dass
die überwiegende Mehrheit des palästinensischen
Volkes mit der Entwicklung nicht einverstanden ist.
Die Veranstalter rechneten mit der Teilnahme einiger
Tausende von Anhängern der Palästinensischen
Befreiungsorganisation, dann wurden sie selbst
überrascht, als Hunderttausende kamen. Eine
Viertelmillion ist erschienen, alle Alters- und
Volksgruppen waren vertreten. Nach meiner
Einschätzung ging es dabei nicht nur darum, den
palästinensischen Führer Abu Ammar anlässlich seines
3. Todestages zu würdigen, sondern vielmehr war es
ein Ausdruck für die Ablehnung der bestehenden
Verhältnisse und der Machtübernahme durch Hamas. Es
war eine spontane Reaktion, die deutlich macht, dass
der Gazastreifen jeden Moment explodieren könnte…
Frage: Ja,
die Blockade verschärft auch die
innerpalästinensischen Auseinandersetzungen. Gibt es
denn keine privaten Initiativen von der Bevölkerung,
um sie zu beheben?
Antwort: Ja, es gibt eine Initiative des Nationalen
Komitees zur Aufhebung der Blockade gegen den
Gazastreifen und eine ähnliche
Initiative des Internationalen Komitees. Die
Tatsache, dass Hamas die Macht übernahm, gibt keinem
das Recht, 1,5 Millionen Menschen mit einer
Kollektivstrafe zu belegen… Eine solche Strafe
lehnen die Palästinenser ab, da sie einen
Widerspruch zum Völkerrecht und zur Genfer
Konvention darstellt… Wir hoffen, dass diese
Initiativen die internationale Solidarität mit dem
palästinensischen Volk forcieren, damit die
Weltgemeinschaft Druck auf Israel mit dem Ziel
ausübt, diese Blockade zu beseitigen. Zum anderen
wollen diese Initiativen die Weltöffentlichkeit
darauf aufmerksam machen, dass der
palästinensisch-palästinensische Konflikt eine
interne Angelegenheit ist; seine Beilegung
muss den Palästinensern überlassen werden, und er
darf nicht von anderen Parteien benutzt werden, um
das palästinensische Volk auf die Knie zu zwingen…“
Übersetzung: Hakam Abdel-Hadi |