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Der Alltag der Palästinenser ist ein Leben mit Schikanen, Demütigungen und in raffinierter Unterdrückung.


Der Alltag der Palästinenser ist ein Leben mit Schikanen, Demütigungen und in raffinierter Unterdrückung. Wenn Maria und Josef an Weihnachten 2003 von Nazareth nach Bethlehem gezogen wären – sie hätten Bethlehem nicht erreicht, sondern wären an einem Checkpoint hängen geblieben. Diese Realität unterscheidet sich von der vor 2000 Jahren.

Ich habe Städte gesehen, die Gefängnisse sind, allerdings mit zeitweisem Freigang, den die israelischen Soldaten bestimmen. Ich habe eine alte Frau gesehen, die über steile Geröllhalden ihre schwere Lebensmitteltasche ins Dorf hoch schleppte, weil die Zugangsstraße vom israelischen Militär gesperrt war; einen Vater mit seinem weinenden dreijährigen Sohn, der zurück nach Kalkilia wollte und ebenso wenig hineinkam, wie einige hundert Meter weiter vor der Sperre Hunderte Einwohner von Kalkilia nicht auf ihre Äcker und Arbeitsplätze hinauskamen.

Den Ambulanzwagen, der hinter uns stand und nicht in die Stadt fahren durfte wie wir auch; die Plakate der kleinen schwarzhaarigen Christina auf den Häuserwänden von Bethlehem. Christina wurde von den Israelis in die Luft gesprengt. Ihr Pech: Sie fuhr mit ihrem Vater in einem weißen Peugeot, in dem die Israelis einen Terroristen vermuteten. Verwechslung, sorry!

Und ich habe gesehen, wie in Hebron die Bewohner der schwer bewachten israelischen Häuser ihren Müll aus den Fenstern auf die palästinensischen Passanten in den engen Gassen schütteten. Die Palästinenser schützen sich inzwischen durch Drahtnetze davor, dass ihnen der israelische Dreck auf den Kopf gekippt wird.

Ich habe erlebt, wie ein Palästinenser, der ins Gespräch vertieft friedlich neben mir ging, von einem jungen israelischen Soldaten mit dem Winken des Zeigefingers herbeigeordert wurde, um ihm den Pass abzunehmen. Eineinhalb Stunden warteten wir ohne Angabe von Gründen auf die Rückgabe, derweil der Israeli fortgesetzt mit seiner Waffe vor dem Gesicht des Palästinensers herumfuchtelte. Was mag im Kopf meines Freundes vorgegangen sein, während er sich stumm die Pöbeleien des Soldaten anhören musste!

Willkür am Checkpoint

Ich habe miterlebt, mit welch schikanöser Arroganz die Kontrollen am Checkpoint zelebriert werden. Mit dem Finger der rechten Hand wird das Auto herbeigewinkt und mit der linken Hand wieder zurückkommandiert, bis das Tempo von Herbei und Zurück dem kontrollierenden israelischen Soldaten endlich passt.

Allerdings auch die Resignation eines israelischen Soldaten, der uns die Ablehnung unserer Weiterfahrt mitteilte und wortlos mit Kopfnicken zustimmte, als wir ihn fragten, ob er glaube, dass diese Willkür keine Sympathiewerbung für Israel sei. Israels Ministerpräsident Ariel Scharon betreibt eine Siedlungspolitik, die den Palästinensern die Luft zum Atmen nimmt. Palästina wird durch Zäune und Mauern zerhackt.

Die Krankenschwester, die früher von ihrem Wohnort Hebron zu ihrem Arbeitsplatz in Bethlehem in 25 Minuten fuhr, braucht heute in der Regel ein bis zwei Stunden. Drei Checkpoints versperren ihr den Weg. Wann ein Durchkommen ist, weiß sie am Beginn der Fahrt so wenig zu berechnen wie die Launen eines Glücksspiels. Die israelische Besatzungsarmee ist eine launische Fee, doch sie bringt nicht Glück, sondern verteilt als großes Los Schikanen.

Die CDU-Chefin Angela Merkel hat vor kurzem die Hoffnung geäußert, „dass der Bau des Trennzaunes nicht zu große psychische Verwerfungen mit sich trägt“. Wenn es nicht Ahnungslosigkeit ist, dann ist es Zynismus, der dem Redenschreiber die Feder führte, vergleichbar dem Wunsch, das brennende Haus möge nicht zu viel Hitze für die Bewohner mit sich tragen.

Was Mauern bedeuten, wissen wir in Deutschland. Sie trennen, was zusammengehört. Ein zerstückeltes Palästina, das von Straßen durchzogen wird, die nur von Israelis befahren werden dürfen, kann kein Staat werden. Es ist die programmierte Anarchie.

Wie soll mit Zäunen Sicherheit geschaffen werden? Der Zaun in Jerusalem verläuft nach den Planungen durch palästinensische Viertel und schlägt unbebaute Gebiete kurzerhand Großjerusalem zu. Dort sollen jetzt israelische Wohnviertel entstehen. Westjerusalem soll mit der Siedlung Maale Adumin vereint werden. Das ist ein Landstück von der Größe Tel Avivs. Der Zaun und die Ringstraße trennen die Verbindung des südlichen zum nördlichen Westjordanland.

Der Weg ins Paradies?

Insgesamt werden durch die Zaunmauer eine halbe Million Araber vom Westjordanland kurzerhand zu Israel geschlagen. Israel wehrt sich gegen die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge einerseits und gemeindet andererseits Hunderttausende von Arabern gegen deren Willen ein. Wenn das kein Widerspruch ist! Scharon stolpert in blindem Hass über seine eigenen Beine.

Mit Demütigung ist noch nie Frieden geschaffen worden. Scharon schafft keinen Frieden. Will er ihn überhaupt? Die Siedlungspolitik, die er betreibt, steht im Widerspruch zu internationalen Vereinbarungen und UN-Resolutionen. Es kümmert ihn nicht. Was er von Menschenrechten hält, hat er im Libanon als militärischer Befehlshaber bewiesen, als Menschen in einem palästinensischen Flüchtlingslager abgeschlachtet wurden und seine Soldaten keinen Finger rührten, um das Massaker zu verhindern. Scharon hat Erfahrung im Tötenlassen.

Daher nenne ich die Politik Scharons verbrecherisch. Verbrecherisch sind auch die Selbstmordattentate. Ich kann mir keinen Gott vorstellen, der sein Wohlgefallen daran findet, wenn Attentäter sich und Unschuldige in die Luft sprengen.

Ich warte auf eine islamische Stimme mit Autorität, die erklärt, dass Selbstmordattentate nicht der Weg ins Paradies sind. Großscheich Said Mohammed Tantawi von der Kairoer Al-Ashar-Universität hat die terroristischen Untaten gegen Unschuldige vor einem Jahr verurteilt, allerdings die Verurteilung mit dem Schlupfloch versehen, es gebe ein Recht auf Selbstverteidigung. Wer sich gegen fremde Aggressoren, Soldaten oder Besatzer mit einem Selbstmordattentat zur Wehr setze, sei ein Märtyrer, so Scheich Tantawi. Was sollen diese Halbheiten, die der Interpretation Tür und Tor öffnen?

In der Verurteilung Salman Rushdies war der Islam eindeutiger. Die Fatwa war schnell ausgesprochen und der Ausschluss aus der Umma, der islamischen Gemeinschaft, prompt vollzogen.

Todesurteile lehne ich ab. Auch gegen Salman Rushdie. Was jedoch der Vorgang beweist, ist, dass es geht: eindeutige Verurteilungen auszusprechen.

Wann wird Osama bin Laden aus der Umma ausgeschlossen? Muss noch ein 11. September folgen? Wann werden Selbstmordattentäter nicht mehr „heilig gesprochen“, sondern verdammt? Muss noch eine Diskothek in die Luft gejagt werden?

Scharon und die Selbstmordattentäter sind aufeinander angewiesen, damit der Teufelskreis von Gewalt geschlossen bleibt. Für mich ist Israel kein Staat wie hundert andere. Israel ist nicht nur ein Staat, sondern eine Idee: Ein über die Welt versprengtes Volk – verfolgt, gequält, ermordet – sucht und findet seine Heimat wieder, baut sich eine Demokratie mitten in autoritärer Region. Das klingt wie ein biblisches Märchen, ist jedoch eines der großen Projekte unserer Zeit.

Stärker als alle Waffen, die Israel hat und die gegen Israel gerichtet sind, ist die Idee, welche darauf vertraut, dass ein Buch, die Bibel, eine Sprache das stärkste Fundament ist, auf dem Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen sich zu einem neuen Staat verbinden können.

Dieses Israel – es ist fast eine Utopie. Auf dieser Welt können selbst Utopien nicht waffenlos sein. Doch wenn die Waffen der Unterdrückung anderer Völker dienen, verlieren sie ihre moralische Rechtfertigung. Und Moral ist der Gründungsimpuls Israels.

Politik frisst Moral

Es ist fast der Beweis für die Hinterlist des Diabolos, der alle und alles durch- einander wirbelt, dass Israel in Gefahr gerät, Unterdrückung, unter der die Juden Jahrhunderte litten, jetzt gegen andere auszuprobieren. Das wäre ein teuflischer Triumph für ein Volk, das sich auf den Bund mit Jahwe beruft.

Die Politik Scharons zerfrisst die Moral des Staates Israel. Als ich vor zwei Jahren im israelischen Parlament die Frage stellte, welchen Sinn im September 2000 der demonstrative Marsch Scharons auf den Tempelberg gehabt habe, bekam ich zur Antwort: „Das kennen wir doch: Betreten verboten!“ Sollen mithilfe der Verbrechen der Nazis nachträglich Denk- und Frageverbote befestigt werden? So gelingt Vergangenheitsbewältigung nie. Sie degeneriert auf diesem Weg zur Verdrängung.

Pinochet und Botha, Tausende von Kilometern und zwei Jahre voneinander getrennt, reagierten auf meine Vorhaltung in Sachen Menschenrechte mit den gleichen Worten, so, als hätten sie diese aus einem gemeinsamen Drehbuch abgelesen: „Auschwitz! Ausgerechnet die Deutschen!“ Darauf antwortete ich damals und heute: „Gerade deshalb.“

Auschwitz bleibt ein Wundmal in den Geschichtsbüchern. Wir können es nicht ausradieren. Doch die passive Betrachtung der deutschen Vergangenheit schafft außer Betroffenheit und Bedauern keine produktive Kraft, die Rücksicht auf alte Verbrechen mit der Vorsicht für eine neue Zukunft verbindet, in der nie mehr Menschen gequält, gefoltert und ermordet werden.

Daran mitzuarbeiten und die Stimme zu erheben für die, die schweigen und nicht gehört werden, ist meine Form der Vergangenheitsbewältigung und mein kleiner Beitrag zur Wiedergutmachung für das, was Deutsche den Juden angetan haben. Deshalb verteidige ich Israel mit voller Überzeugung. Scharon bekämpfe ich nicht mit allen Mitteln, aber mit ganzer Kraft.

Norbert Blüm - 31.12.2003
 

 Links zum Thema:

lese auch: „Demütigungen und Schikanen“

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Siehe auch:
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