„Only
Teargas and Rubber Bullets“
Ein Freitagnachmittag in Bil’in
Fabian Köhler
Es ist
freitags 11 Uhr, der erste wirklich sonnige Tag seit Wochen. Bei Tee
und Keksen sitzen wir auf dem Dach von Samaras Mutter und staunen
darüber wie dieser Junge es geschafft hat auf die andere Seite des
Zaunes zu kommen, einen israelischen Funkturm zu besteigen und auf
ihm die palästinensische Flagge zu hissen. Sein Name ist Tito, er
kommt aus Puerto Rico und er blickt nun, umkreist von israelischen
Soldaten, auf das hinab was einst zur palästinensischen Stadt Bil’in
gehörte.
Bil’in ist
ein kleines 1500-Einwohner Dorf, ungefähr 15 Kilometer westlich von
Ramallah, 4 Kilometer östlich der „grünen Linie“. Wie in den
meisten anderen palästinensischen Städtchen auch findet man im
Zentrum, umrahmt von staubigen Gassen, eine nette kleine Moschee,
am Straßenrand brät ein kleiner Junge Kebab, während ein
Lautsprecherwagen vorbeifährt und fabrikneue weiße Plastikstühle
anpreist. Nur die notorisch grüßenden Kinder erinnern einen an
diesem Freitagvormittag daran, dass Bil’in eben doch etwas anders
ist. Denn anstatt „marhaba“ oder „welcome“ hören wir nun ständig „shalom“.
Nicht weil die Menschen hier nach 40 Jahren Besatzung ihre
Muttersprache vergessen hätten, sondern weil sie uns für israelische
Friedensaktivisten halten, die wie andere aus der ganzen Welt jeden
Freitag in dieses Mekka der Anti-Mauer-Bewegung strömen. Zu Bil’ins
Verhängnis wurde, dass es in Sichtweite einer der größten
israelischen Siedlungen,
Modi'in Illit,
liegt. Wo vor einigen Jahren noch palästinensische Olivenplantagen
standen, entsteht nun in Massenproduktion billiger grauer Wohnraum
für die jüdischen Neuankömmlinge. 60% ihres Landes haben die
Menschen von Bil’in auf diese Weise in den letzten Jahren verloren.
Dafür bekommen sie seit 2005 Zaun, Mauer und Todeszone.
Es ist ein
Uhr, das Freitagsgebet ist zu Ende und in landestypischer
Langsamkeit setzt sich die Demo in Bewegung. Ein paar hundert
Pali-Tücher tragende Demonstranten, vor allem Europäer, viele
Palästinenser und ein paar Israelis schwenken palästinensischen
Fahnen, skandieren „al-djidar al-djidar nazim minhar“ (Die Mauer,
die Mauer muss abgerissen werden), plaudern und singen. Ein
rastahaariges Mädchen erzählt mir, dass möglicherweise ein
Wasserwerfer auf uns warte, nur falls ich irgendwas dabei hätte, was
nicht nass werden dürfte. So scheint mir alles nach einer ganz
gewöhnlichen Demonstration auszusehen und die einzige Gefahr sind
wohl die Kameramänner die sich plötzlich ohne Vorwarnung vor einem
auf dem Boden knien. Schließlich ist in ein paar hundert Meter
Entfernung der Zaun zu erkennen. Weiter hinten sind Bagger und
Planierrauben damit beschäftigt weitere Siedlungsplattenbauten aus
den Hügeln stampfen. Vor uns liegt ein kleines romantisches Feld aus
knochigen Olivenbäumen, dornigen Büschen und zerfallenen,
überwucherten Mauern. Hinterm Zaun erscheinen einige israelische
Soldaten und ich frage mich ob diese zwei Dutzend 19-Jährigen
vielleicht mit einer kleineren Demonstration gerechnet hätten. Doch
als ich zum ersten Mal diesen kurzen Knall, gefolgt von einem langen
Zischen höre, wird mir klar, warum sie nur so wenige brauchen um uns
aufzuhalten. Wir sind noch keine 200 Meter an ihnen dran und schon
regnen die Tränengasgranaten auf uns nieder.
Mein Hirn,
erfüllt vom naiven Glauben an Dinge wie Rechtsstaatlichkeit und
Meinungsfreiheit, sträubt sich noch einige Minuten zu glauben was
hier passiert und sucht hektisch nach Erklärungen. Selbst eine
Besatzungsarmee wird doch nicht grundlos auf ausländische
Demonstranten schießen. Irgendeine moralische oder rechtliche
Schwelle muss es doch auch für die Soldaten geben. Unter uns sind
zig Kamerateams, da müssen sie sich doch zurückhalten. Sicherlich
hat irgendwer Steine geworfen und den Israelis so einen Vorwand
gegeben. Doch nach weiteren 15 Minuten bin ich in der traurigen
Realität angekommen. Hinter dem Zaun gibt es kein Schwellen, keine
Moral, keine Suche nach einem Vorwand, keine Rücksicht auf
irgendeine öffentliche Meinung. Kein einziger Stein flog bisher und
trotzdem gibt es nun schon kaum jemanden unter uns dem die Augen
noch nicht brennen. Es sind nicht nur ein paar Vereinzelte, sondern
alle paar Sekunden schlägt irgendwo eine Granate auf. Doch das Gas
scheint noch für einen Weile einen Teil meiner Naivität konserviert
zu haben. Denn als wir ein paar Minuten später zu zehnt zwischen
trockenen Büschen und Olivenbäumen mit symbolhaft erhobenen Händen
Richtung Zaun marschieren, fängt es auf einmal wieder an zu zischen.
Doch diesmal nicht am Himmel sondern im Gras und in den
Baumwipfeln. Ich denke an kleine Echsen und erkenne den
Zusammenhang zwischen Zischen und auf uns gerichteten Gewehren so
lange nicht bis mich jemand anschreit, ich solle in Deckung gehen
und eine unsichtbare Hand meinen Nachbarn plötzlich von den Beinen
holt. Der übliche Euphemismus für diese unsichtbare Hand ist
Gummigeschoss, in Wahrheit eine mit Hartgummi ummantelte Stahlkugel.
So vergehen
die nächsten drei Stunden mit kollektivem aufspringen, wegrennen und
heulen.
In
versprengten Grüppchen sitzen wir am Straßenrand, recken nach jedem
Knall den Kopf zum Himmel um zu wissen ob wir oder eine andere
Gruppe mit davonlaufen dran ist. Zwischendurch werden
Zwiebelstückchen verteilt, die man sich gegen das Gas unter die Nase
reibt. Sanitäter rennen vorbei und kehren zwei Minuten später
keuchend mit aufgequollenen Augen wieder zurück. Die Organisatoren
versuchen immer wieder ein paar „Internationals“ dazu zu bewegen,
weiter vor zu marschieren, doch die Israelis wissen wie man
demotiviert. Sie schießen auf die Kamerateams, sie schießen Mitten
in die Menschenmenge, sie schießen auf die Demonstranten die mit
erhoben Händen zum Zaun marschieren, genauso wie auf diese, die
genug vom Gas haben und sich in 500 Meter Entfernung erholen
wollen. Selbst die heldenhaften Sanitäter werden unablässig mit
Gummigeschossen versorgt. Irgendwann findet sich eine kleine
5-köpfige Auswahl 12-jähriger Dorfjugendlicher zusammen und versucht
aus 200 Meter Entfernung die israelischen Soldaten mit Steinen zu
vertreiben, was natürlich misslingt und stattdessen nur noch mehr
Anlass zum Dauerbeschuss gibt.
Zwischendurch als ich mich mal wieder mit verquollenen Augen
keuchend zu Boden kauere, höre ich eine mitt-50-jährige
Journalistin ins Telefon sprechen: „nothing special until now, only
tear-gas and rubber bullets“ und mir vergeht so langsam die Lust auf
Widerstand und der Wunsch nach Schai und Argile in einem ruhigen
Cafe in Ramallah übermannt mich. Keine Minute vergeht ohne dieses
zischende Geräusch, Sanitäter rennen die Straße auf und ab, kaum ein
Ort an dem man fünf Minuten klar atmen kann, gleichaltrige
uniformierte Israelis die ihr Gewehr auf uns anlegen… Und als dann
hinter mir ein Sanitäter seine Hände immer wieder auf den Brustkorb
eines alten Palästinensers drückt, wird es dann wirklich zuviel für
mich verwöhnten Europäer. Plötzlich bin ich froh, dass ein paar
Meter neben mir eine Granate aufschlägt und kein Mensch merken wird,
dass die Tränen schon vorher da waren.
Doch auf
eine merkwürdige Weise bereitet es gleichzeitig auch ein
hoffnungsvolles Gefühl zu sehen, wie Amerikaner, Europäer,
Palästinenser und Israelis zusammen aus den Tränengaswolken gerannt
kommen um dann gemeinsam heulend und hustend zu Boden zu sinken. Sie
reichen sich gegenseitig Zwiebelstückchen, ein bärtiger Jude hält
eine palästinensische Flagge in die Luft, währenddessen in 500 Meter
Entfernung, auf der anderen Seite des Zaunes, israelische
Friedensaktivisten gegen den Wasserwerfer ankämpfen.
Unzählige
Tränengasgranaten, Gummigeschosse, sowie 25 Verletzte später geht
die Demonstration gegen vier langsam zu Ende. Mittlerweile sind wir
so wenige, dass die Israelis uns bis zu sich ran kommen lassen. Bei
Wasser, Zwiebeln und Schokowaffeln, sitzen wir noch ein paar Minuten
vor ihnen, singen „al-djidar al-djidar nazim minhar“ und rufen Tito
zu, der immer noch oben auf seinem Turm hockt. Die zwischenzeitlich
Festgenommen werden frei gelassen und die uniformierten grinsenden
Jungs könnten, würden sie nicht immer noch ihre Waffen auf uns
richten, fast sympathisch wirken. Nicht ohne eine letztes mal die
Wirkung von Tränengas spüren zu dürfen, gehen wir schließlich zurück
nach Bil’in, trinken Schai und rauchen Argile. Nur Tito aus Puerto
Rico bleibt oben auf seinem Turm sitzen und sieht wie weiter
Wohnblocks in die Felder von Bil’in gestampft werden. |