ICH HABE NUR NOCH EUCH
Vera Macht
„Ich habe nur noch euch, an die ich mich
wenden kann. Von jetzt an hängen meine Kinder von euch ab“,
ist die verzweifelte Forderung eines Mannes, der keinen
Ausweg mehr sieht für sich und seine Kinder, und die wir
ISM-Mitglieder, die nach seinem Anruf gekommen sind, hilflos
schweigend entgegennehmen. Es ist nicht das erste Mal, dass
wir diese Familie besuchen, und jedes Mal fahren wir
bestürzter nach Hause.
Es war am 14. Juli 2010, als wir das
letzte Mal da waren, am Tag nachdem seine Frau starb.
Ermordet wurde, anders kann man es nicht nennen. Nasser Jabr
Abu Said lebt in Johr al-Dik, 350 Meter entfernt von der
Grenze zu Israel. Am Abend des 13. Juli war Nassers Ehefrau
mit zwei weiteren Frauen aus der Familie und den Kindern im
Garten, als die Familie von einem nahen Panzer mit
Artilleriegranaten beschossen wurde. Mit Flachettebomben,
die in der Luft explodieren, sodass 5 bis 8000 Nägel aus
ihnen herausschießen, die in einem Radius von 300 mal 100
Metern alles durchspießen. Eine illegale Waffe.
Nassers Ehefrau blieb unverletzt, doch
die Schulter der Schwester Nassers wurde durchbohrt, sowie
das Bein der dritten Frau, Sanaa Ahmed Abu Said, 26. Die
Familie suchte Schutz im Haus, der heran gerufene
Krankenwagen wurde von Maschinengewehrschüssen der nahen
israelischen Soldaten vertrieben. Zu diesem Zeitpunkt wurde
der 33jährigen Ehefrau Nassers, Nema Abu Said bewusst, dass
das jüngste ihrer Kinder, Nader, noch im Garten schlief. Als
Nema nach draußen lief, um diesen in Sicherheit zu bringen,
wurden sie und ihr Schwager von den Nägeln einer weiteren
Flachettebombe durchbohrt. Es dauerte vier endlos lange
Stunden bis der Krankenwagen die Erlaubnis erhielt der
Familie zu helfen, bis dahin war Nema gestorben.
Als wir damals die Familie besuchten,
hatte es noch niemand übers Herz gebracht, Nader zu
erklären, dass seine Mutter gestorben war. Er fragte ständig
nach ihr, während wir dort waren. Doch wie erklärt man so
etwas einem dreijährigen Kind?
Doch als wir jetzt kamen, da wussten alle
Kinder nur zu gut, was passiert war. Nasser erklärte uns,
dass er nicht länger in dem Haus wohnen konnte, weil die
fast täglichen Panzereinbrüche, Bomben und Schüsse die
angegriffene Psyche der Kinder so belastet hatten, dass sie
jede Nacht schreiend aus Alpträumen aufwachten, das Bett
genässt. UNRWA mietete ihnen eine winzige Wohnung – direkt
neben dem Friedhof auf dem die Mutter begraben liegt. „Meine
Kinder waren nicht mehr vom Grab ihrer Mutter weg zu
bekommen. Als es immer häufiger passierte, das ich auf
einmal nachts bemerkte, wie eins der Kinder weg war, und ich
es dann weinend auf dem Friedhof fand, wusste ich, dass ich
dort nicht länger bleiben konnte“, erzählt uns Nasser.
Seine Alternative ist bestürzend. Er hat
ein Zelt aufgeschlagen, vom Roten Kreuz finanziert, wenige
hundert Meter von seinem alten Haus entfernt. Sie brachten
ihm auch drei Decken, auf weitere Nachfrage bekam Nasser die
Antwort, sie hätten doch jetzt schon geholfen. UNRWA gab die
Auskunft, dass sie ihm kein neues Haus finanzieren könnten.
Sie würden zwar anerkennen, dass die Gefahr zu groß sei, um
im alten Haus zu bleiben, aber dieses müsste erst zerstört
worden sein. Vorher handeln sie nicht.
In diesem Zelt, inmitten der Regenschauer
des Winters, schläft Nasser nun mit seinen vier Söhnen und
seiner Tochter, 3, 5, 8, 9 und 10 Jahre alt. Auf zwei
Matratzen, alle paar Wochen müsste er die alten Matratzen
verbrennen, jede Nacht nässen die Kinder sie ein. Doch für
ausreichend neue fehlt das Geld, genauso wie für ausreichend
Decken, Kleidung und Schuluniformen für die Kinder, und das
Geld für ihren Transport zur Schule. Er traut sich auch
nicht, diese zur Schule zu schicken bevor es hell ist, was
bedeutet, dass sie jeden Tag zwei Schulstunden verpassen.
„Sie brauchen dringend psychologische Betreuung“, sagt
Nasser leise, er weiß gar nicht wo er anfangen soll, als wir
ihn fragen, was er am dringendsten bräuchte. Sie hatten
psychologische Betreuung, eine kurze Weile, der Psychologe
diagnostizierte, das sie geistig auf dem Stand geblieben
sind, auf dem sie waren, als ihre Mutter starb.
Als vor ein paar Tagen die Bomben fielen,
eine davon in Nähe des Hauses, weckten die Kinder den Vater
schreiend.
Sie brauchen die ununterbrochene
Betreuung ihres Vaters, doch das ist nicht das einzige, was
diesen darin hindert, Geld verdienen zu können. Nasser kann
sein Land nicht mehr bewirtschaften, es wurde zu oft platt
gewalzt, es liegt größtenteils in der unerreichbaren
Pufferzone, und ihm fehlen die Mittel, um auf dem Restland
überhaupt mit Landwirtschaft beginnen zu können. Er hat das
Geld nicht für Samen, um etwas an zu pflanzen. „Ich würde
gerne wieder Auberginen, Kohl und Wassermelonen anbauen.
Auch Schafe wären eine große Hilfe. Aber mein Wassersystem
ist durch die Bomben komplett zerstört, mir fehlt das Geld,
es wieder aufzubauen.“
„Ich bin ein alter Mann“, sagt Nasser Abu
Said, 37 Jahre alt, „auf mich kommt es nicht mehr an. Aber
was ist mit meinen Kindern? Haben die kein Recht auf Leben,
kein Recht darauf in Sicherheit und etwas Freude
aufzuwachsen?“
„Von jetzt an hängen meine Kinder von
euch ab“, dieser Satz geht einem nicht so schnell wieder aus
dem Kopf. Und so tue ich das, was in meiner Macht steht. Ich
schreibe darüber. Denn das Unglück Nassers, das geht uns
alle an. Das war kein Schicksal, das war keine
Naturkatastrophe. Vor ein paar Jahren waren Nema und Nasser
Abu Said eine glückliche und zufriedene Familie.
Vera Macht
lebt und arbeitet seit April 2010
in Gaza. Sie ist Friedensaktivistin und berichtet über den
täglichen Überlebenskampf der Menschen im Gazastreifen (Vera.Macht@uni-jena.de)