Kluger Widerstand: Ein palästinensischer Aufruf zur
„unbewaffnetem Kriegsführung“
Jonathan Cook
Aus Nazareth schreibt der britische Journalist
Jonathan Cook angesichts der seit September eskalierenden Krise über die
Debatte unter den Palӓstinensern zwischen den Verfechtern des
bewaffneten Kampfes und Vertretern des gewaltlosen Widerstandes. Der
palӓstinensische Geschӓftsmann Sam Bahour beschrieb den “klugen
Widerstand” als Weg zur nationalen Befreiung angesichts der stetig
fortgesetzten Stangulierung des Lebens für Palӓstinenser in ihrer
Heimat. Cook schreibt:
(…)Eine Umfrage im Frühsommer zeigte, dass 49% der
18- bis 22-jӓhrigen Palӓstinenser einen bewaffneten Aufstand unterstüzen.
Bis September und nach den ersten Zusammenstӧssen in Jerusalem stieg
diese Zahl auf 67 % an.
Diesen Anstieg kann man zum Teil durch ein
unvermeidliches Verlangen nach Vergeltung erklӓren, wenn Palӓstinenser
sehen, wie ihre Landsleute durch israelische Soldaten getӧtet und
verletzt werden.
Aber er zeigt auch einen Mangel an palӓstinensischer
Führung und Strategie. Stattdessen wurden die Palӓstinenser in
polarisierte Lager geteilt, wo sich vereinfachend gesagt die ‘Rethorik
des bewaffneten Kampfes’ der Hamas und die festgefahrene Diplomatie von
Mahmoud Abbas und seiner Palӓstinenserbehӧrde gegenüber stehen.
Die Gewaltlosigkeit hatte früher einen zentralen
Platz im palӓstinensischen Widerstand gegen die Besatzung. Wӓhrend der
ersten Intifada Ende der 80er Jahre beteiligten sich die Palӓstinenser
am weitverbreiteten zivilen Ungehorsam: sie verweigerten die
Zusammenarbeit mit den Militӓrbehӧrden, verbrannten ihre Ausweise,
verweigerten die Steuerzahlung und führten Streiks durch.
Dieser Weg wurde nie vollstӓndig aufgegeben. Heute
findet er seinen Ausdruck in den wӧchentlichen Protesten und Mӓrschen in
den Dӧrfern gegen Israels Stahl-und Zementbarriere, die das Agrarland
der Palӓstinenser verschlingt. Diese Proteste sind zumeist friedlich
geblieben, selbst angesichts der unaufhӧrlichen Brutalitӓt der Armee.
Aber der Einsatz der Gewaltlosigkeit war auf ӧrtliche
Aktionen begrenzt, die auf kleine, isolierte Erfolge abgerichtet sind.
Neben der Gewaltlosigkeit existierten immer auch gewaltsamere Methoden,
vom Steine werfen bis zu den gegenwӓrtigen Angriffen mit Messern.
Abbas trӓgt einen grossen Teil der Schuld daran, weil
er sich die Sprache der Gewaltlosigkeit aneignete, ohne sie in eine
nationale Strategie des Widerstandes umzusetzen. Sogar die Unterstützung
der PA für die Widerstandskampagnen der Dorfbewohner gegen Israels Mauer
war nicht einmal lauwarm.
In den Augen der Palӓstinenser ist die Gewaltlosikeit
durch die Verbindung mit Abbas’ jahrelanger Ineffizienz in ein
schlechtes Licht geraten: seine verzeifelten und erfolglosen Versuche,
Israel zu Friedensgesprӓchen zu bringen und sich gleichzeitig in
Washington in ein gutes Licht zu stellen. Der Tiefpunkt wurde mit seiner
ӧffentlichen Erklӓrung vom “heilgen” Status der Koordinierung der PA mit
Israel in Sicherheitsfragen erreicht.
Es hat auch nicht geholfen, dass von Aussenstehenden
und unehrlichen Vermittlern einseitige Aufrufe zur Gewaltlosigkeit an
die Palӓstinenser gerichtet wurden, zum Beispiel aus Washington. Im
vergangenen Monat hat der amerikanische Aussenminister John Kerry den
Palӓstinenser einseitig die Schuld an den letzten Zusammenstӧssen
zugeschoben. “Es gibt keine Entschuldigung für die Gewalt,” tadelte er,
wӓhrend er gleichzeitig Israels jahrzehntelange brutale Unterdrückung
der palӓstinensischen Befreiungskampagnen ignorierte.
Trotz allem sprechen sich einige palӓstinensische
Intellektuelle für den gewaltlosen Widerstand aus und warnen gegen einen
bewaffneten Aufstand. Palӓstinenser haben nach dem Vӧlkerrecht ein
Recht, gegn die Besatzung auch mit Waffen Widerstand zu leisten, aber
diese Gruppe betont, dass Gewalt nutzlos ist angesichts der Übermacht
der israelischen Armee. Sie argumentieren pragmatisch.
In einem Artikel mit der Überschrift „Geht nicht zum
Sterben hinaus , Palästina braucht Euch am Leben“, rief der Journalist
Mohammed Daraghmeh die Palӓstinenser dazu auf, “den nationale Zorn in
Massenproteste umzusetzen.” Daragmeh erinnerte die Palӓstinenser daran,
dass die westliche Welt den Konflikt geschaffen habe und ihn lӧsen
müsse, und warnte: “Sie werden das nicht machen, wenn wir Selbtsmord
begehen.” …
Einer der Architekten des gewaltlosen Widerstands der
ersten Intifada, Mubarak Awad, machte vor kurzem in einem Interview
deutlich, dass dies keine leichtere Wahl sei. „Es geht um die militante
Anwendung der Gewaltlosigkeit, als Form der unbewaffneten
Kriegsführung.”
Er gibt stattdessen einige Beispiele, wie die
Weigerung, dass man israelische Ausweise mit sich führt, Missachtung von
Ausgangssperren, Strassenblockaden, Anpflanzen von Bӓumen auf Land, das
für Siedlungen vorgesehen ist, Niederreissen von Zӓunen, Organisieren
von Sit-ins und Massenverhaftungen, um die israelischen Gefӓngnisse zum
Überfüllen zu bringen.
Für solche Aktionen braucht man eine massive
Teilnahme, die Frauen, Kinder und Senioren mobilisiert – genau die
Gruppen, die von der Teilnahme am bewaffneten Kampf eher ausgeschlossen
sind.
Und Gewaltlosigkeit braucht Leute, die diese
Techniken und Prinzipien geübt haben, sagt Awad. Deshalb hat er die
Lehren von Mahatma Gandhi und Martin Luther King ins Arabische
übersetzt.
Politische Organisatoren und Strategen wie Awad waren
immer an oberster Stelle auf Israels Verhaftungsliste. Er wurd zu Beginn
der ersten Intifada ins Gefӓngnis geworfen und gefoltert und spӓter in
die USA ausgewiesen.
Der disziplinierte gewaltlose Widerstand ist so
mӓchtig, sagt er, weil er dem Besatzer eine grosse Bürde auflastet: “Er
muss mit unserer Bereitschaft umgehen, dass wir für uns einstehen,
lediglich mit unserem Kӧrper und Herzen.”
Israelis stehen vor der Wahl “was für ein Volk sie
sind”, und es bringt Spaltungen und Unstimmigkeit in der Bevӧlkerung des
Unterdrückers und schwӓcht so die Entschlossenheit.
Es ist eine schwierige Botschaft, vor allem wenn
Israel die Hoffnungen und die Würde der Palӓstinenser so skrupellos
zermalmt. Awad betont trotzdem, dass die Palӓstinenser vor allem durch
das Demonstrieren einer unzerstӧrbaren Menschlichkeit wieder Hoffnung
finden kӧnnen,sich ihre Würde zu eigen machen und ihre Freiheit
gewinnen.
Jonathan Cook, Smart resistance: A Palestinian call for
‘unarmed warfare’, Counterpunch, 9. November 201;
http://www.jonathan-cook.net/2015-11-11/a-palestinian-call-for-unarmed-warfare/#sthash.3oxHTlWH.dpuf
Ein Aktivist des friedlichen Widerstandes, Saeed Amireh aus Nilin, ist
zur Zeit auf Vortragsreise in Deutschland. Hier ist eine Liste der
Veranstaltungen:
http://saeedamireh.com/events/