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Das Land, das nicht erwachsen werden will
Tony Judt, Haaretz, 1.5.06

 

Mit einem Alter von 58 sollte ein Staat– genau wie ein Mann – eine gewisse Reife erreicht haben. Nach fast 6 Jahrzehnten der Existenz wissen wir  ein für alle Mal, wer wir sind, was wir getan haben, wie wir gegenüber anderen erscheinen ...Es wird uns klar, wenn auch zögerlich und nur für uns ganz persönlich, wo unsere Fehler und unsere Fehlschläge sind. Auch wenn wir noch gelegentlich Illusionen über uns selbst und unsere Aussichten nachhängen, sind wir doch weise genug, um diese als solche anzuerkennen. Kurz gesagt: Wir sind Erwachsene.

 

Aber der Staat Israel bleibt seltsamerweise ( und unter den westlichen Demokratien einzigartig) unreif. Die sozialen Wandlungen des Landes und seine vielen wirtschaftlichen Errungenschaften haben ihm nicht die politische Weisheit gebracht, die sonst dieses Alter begleiten. Von außen gesehen benimmt sich Israel noch immer wie ein pubertierender Jugendlicher: erfüllt von einem zerbrechlichen Vertrauen in die eigene Einzigartigkeit; sicher, dass  ihn  keiner versteht und alle gegen ihn sind; voll verletzlicher Selbstbewunderung, schnell gekränkt  und schnell im Auszuteilen. Wie viele Jugendliche ist Israel davon überzeugt, dass es tun und lassen kann, was es will, dass seine Aktionen keine Folgen haben und dass es unsterblich sei.

Dem entsprechend ist es diesem Land  nicht gelungen, erwachsen zu werden - und war bis vor kurzem in den Händen einer Generation von Männern, die vor 40 Jahren für ihre öffentlichen Affären bekannt waren: ein israelischer Rip van Winkel der  - sagen wir mal – 1967 eingeschlafen ist, würde beim Aufwachen 2006 überrascht sein, noch immer Shimon Peres und General Sharon vorzufinden, die die Angelegenheiten des Landes regeln - der letztere allerdings nur im Geiste.

 

Aber  - so werden israelische Leser  zu mir sagen – das ist doch nur  eine vorgefasste Meinung eines Außenseiters. Was von außen wie ein schwaches, eigensinniges Land aussieht – pflichtvergessen in seinen internationalen Verpflichtungen und gleichgültig gegenüber der Weltmeinung – ist einfach ein kleiner Staat, der tut, was er immer getan hat: er schaut nur nach seinen eigenen Interessen in einem ungastlichen Teil der Welt. Warum sollte  das kampfbereite Israel solch ausländische Kritik zur Kenntnis nehmen oder gar darauf reagieren?  Sie – die Einheimischen, die Muslime, die Linken  - haben ihre eigenen Gründe, Israel nicht zu lieben. Sie, die Europäer, Araber, Faschisten, haben Israel für spezielle Kritik auserwählt. Ihre Motive sind zeitlos. Sie haben sich nicht verändert. Warum soll sich Israel verändern?

 

Aber  sie haben sich gewandelt. Und es ist dieser Wandel, der weithin innerhalb Israels nicht bemerkt worden ist. Darauf möchte ich aufmerksam machen. Vor 1967 mag der Staat Israel winzig und kampfbereit gewesen sein, aber er wurde nicht gehasst: sicher nicht vom Westen. Der offizielle kommunistische Sowjetblock war natürlich anti-zionistisch; aber genau deshalb wurde er – der Staat Israel - von allen anderen besonders gut behütet, einschließlich der nicht kommunistischen Linken. Das romantische Image der Kibbuzim und der Kibbuzniks hatte im Ausland  während der ersten beiden Jahrzehnte von Israels Existenz eine breit gefächerte Werbewirkung. Die meisten Bewunderer Israels (Juden genau wie Nicht-Juden)  wussten dagegen wenig über die palästinensische Nakba (Katastrophe) von 1948. Sie sahen  im jüdischen Staat eher  die letzte Inkarnation des landwirtschaftlichen Sozialismus, eines Idylls des 19. Jahrhunderts oder ein Vorbild, das „die Wüste zum Blühen bringt“.

 

Ich erinnere mich noch gut an den Frühling 1967, wie die Meinung der Studenten an der Universität Cambridge in den Wochen nach dem Sechstagekrieg überwältigend pro-israelisch war – und wie wenig man sich  um  die Lage der Palästinenser kümmerte oder  noch früher um  den Zusammenstoß Israels mit Frankreich und Großbritannien beim verheerenden Suez-Abenteuer von 1956. In Diplomaten- und politisch aktiven Kreisen übten nur altmodisch konservative Arabisten Kritik am jüdischen Staat.

 

Nach 1967 blieben diese Gefühle noch eine Weile unverändert. Der pro-palästinensische Enthusiasmus der radikalen Nach-60er-Gruppen und nationaler Bewegungen, der sich in gemeinsamen Trainingslagern und  Terrorprojekten widerspiegelte, wurde durch die wachsenden internationalen Erkenntnisse über den Holocaust durch Bildung und  Medien  kompensiert: was Israel an Ansehen durch seine andauernde Besatzung von arabischem Land verlor, gewann es durch seine Identifizierung mit dem neu entdeckten Gedenken an Europas ermordete Juden. Selbst die Eröffnung  illegaler Siedlungen und die verheerende Invasion in den Libanon hat die internationale Meinungsbalance  nicht  erschüttert, während diese die Argumente der Israelkritiker stärkten. Erst etwa in den frühen 90-ern wurde den Leuten die ( von Israel besetzte von Palästinensern bewohnte) „Westbank“ vage bewusst und was dort geschah. Selbst jene, die versuchten, den Fall Palästina in die internationalen Foren zu bringen, müssen zugeben, dass ihnen fast keiner zuhörte. Israel konnte tun, was es wollte.

 

Die israelische Nakba

 

Aber heute ist alles anders. Wir können im Rückblick sehen, dass der Sieg Israels im Juni 1967 und die andauernde Besatzung der damals besetzten Gebiete zur eigenen Nakba des jüdischen Staates  wurde: eine moralische und politische Katastrophe. Israels Aktionen in der Westbank und im Gazastreifen haben das Fehlverhalten des Landes vergrößert und es vor einer beobachtenden Welt  zur Schau gestellt. Ausgangssperren, Kontrollpunkte, Bulldozer, öffentliche Demütigungen, Hauszerstörungen, Landdiebstahl, Schießereien, „gezielte Tötungen“, der Trennungszaun: All diese  Besatzungroutine und Unterdrückung war bis jetzt nur wenigen Spezialisten und  Insidern  bekannt. Heute kann dies life von jedermann mit dem Computer oder via Satellitenschüssel beobachtet werden. Dh. dass Israels Verhalten unter täglicher Beobachtung von hundert Millionen Menschen weltweit  steht. Die Folge davon ist ein völliger Wandel bei der internationalen Beurteilung Israels. Bis vor kurzem herrschte ein sorgfältig aufpoliertes Image einer ultra modernen Gesellschaft – aufgebaut von Überlebenden ( des Holocaust), von Pionieren und von fried-liebenden Demokraten bevölkert – in der internationalen Meinung. Aber heute? Was ist das universelle Symbol für Israel, das in Tausenden Zeitungen bei politischen Karikaturen weltweit dargestellt wird? Der Davidstern auf einem Panzer.

 

Heute sieht nur noch eine sehr kleine Minderheit von Außenseitern die Israelis als Opfer. Die wirklichen Opfer - und weitgehend akzeptiert –  sind die Palästinenser. Tatsächlich haben die Palästinenser nun die Juden  als die symbolisch verfolgte Minderheit ersetzt: verletzt, gedemütigt und staatenlos. Diese nicht gesuchte Unterscheidung hilft, den palästinensischen Fall ebenso wenig voran zu bringen, wie sie den Juden half, aber sie hat Israel für immer neu definiert. Es ist inzwischen üblich geworden, Israel mit einem besetzenden Kolonialherren zu vergleichen, und was schlimmer ist, mit dem Südafrika der Rassengesetze und Bantustans. In dieser Stellung weckt es wenig Sympathie - nicht einmal wenn seine eigenen Bürger leiden: tote Israelis werden  - wie die gelegentlich ermordeten weißen Südafrikaner in der Apartheid-Ära oder britische Kolonialherren, die von Eingeborenen zu Tode gehackt wurden – im Ausland weniger als  Opfer des Terrorismus, sondern als Kollateralschaden der eigenen fehlgeleiteten Politik  angesehen.

 

Solche Vergleiche sind für Israels moralische  Glaubwürdigkeit tödlich. Sie treffen das, was einmal  sein stärkstes Anliegen war: die Behauptung, eine verwundbare Insel der Demokratie und des Anstandes in einem Meer von autoritären Regierungssystemen und  von Grausamkeit zu sein; eine Oase des Rechtes und der Freiheit, umgeben von einer Wüste der Unterdrückung.

Aber Demokraten sperren ein hilfloses Volk, dessen Land sie erobert haben, nicht in Bantustans, und freie Menschen ignorieren das Völkerrecht nicht, und stehlen auch nicht die Häuser der anderen. Die Widersprüche der israelischen Selbstdarstellung – „wir sind stark/ wir sind verwundbar“; „wir kontrollieren selbst unser Schicksal/ wir sind die Opfer“; „ wir sind ein  ganz normaler Staat/ wir verlangen eine Sonderbehandlung“  sind nicht neu: sie sind ein Teil der besonderen Identität des Landes  fast von Anfang an. Und Israels hartnäckige Betonung seiner Isolierung und Einzigartigkeit, sein Anspruch, beides zu sein, Opfer und Held, war einst Teil seiner David gegen Goliath-Werbung.

 

Kollektive kognitive Funktionsstörung

 

Das heutige nationale Narrativ eines Macho-Opfertums  erscheint dem Rest der Welt aber schlicht absonderlich. Offensichtlich hat eine Art kollektiver kognitive Funktionsstörung Israels politische Kultur befallen. Und die lang gehegte Verfolgungsmanie: „jeder möchte uns eins auswischen“ löst nicht länger Sympathie aus. Stattdessen reizt sie zu sehr unappetitlichen Vergleichen: Bei einer internationalen Konferenz vor nicht langer Zeit hörte ich von einem Redner - analog zu Helmut Schmidts berühmter Aburteilung der Sowjetunion als ein „Obervolta mit Raketen“ - Israel als ein „Serbien mit Atombomben“  beschreiben.

 

Israel ist dasselbe geblieben, aber die Welt hat sich – wie ich schon sagte – gewandelt. Welchen  Einfluss Israels Selbstwahrnehmung noch immer auf die Vorstellung der Israelis selbst hat, außerhalb der Grenzen hat sie keinen Einfluss mehr. Selbst der Holocaust kann nicht länger als Entschuldigung für Israels Verhalten instrumentalisiert werden. Dank  des  verhältnismäßig großen Zeitabstandes zum Holocaust haben  die westeuropäischen Staaten inzwischen ihrem Anteil anerkannt, was vor einem Viertel Jahrhundert noch nicht der Fall war. Von Israels Standpunkt aus hat dies widersprüchliche Konsequenzen: bis zum Ende des Kalten Krieges konnte Israel mit der Schuld der Deutschen und anderer Europäer spielen und ihr Fehlverhalten ausnützen, sie würden nicht voll anerkennen, was Juden in ihrem Lande angetan wurde. Jetzt, wo die Geschichte des 2. Weltkrieges sich von den öffentlichen Plätzen in die Klassenzimmer und von dort in die Geschichtsbücher zurückzieht, kann eine wachsende Menge (besonders junger Wähler) nicht verstehen, wie man sich auf die Schrecken des letzten europäischen Krieges berufen kann, um  ein unannehmbares Verhalten in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort zu genehmigen und zu verzeihen. In den Augen der  beobachtenden Welt ist die Tatsache, dass die Urgroßmutter eines israelischen Soldaten in Treblinka starb, keine Entschuldigung dafür, dass er eine  am Kontrollpunkt wartende palästinensische Frau  demütigend behandelt. „Denk an Auschwitz!“ ist keine akzeptable Antwort mehr.

 

Kurz gesagt: in den Augen der Welt ist Israel ein normaler Staat – aber er benimmt sich anormal. Er kontrolliert sich selbst – aber die Opfer sind andere. Er ist stark, sogar sehr stark, aber sein Verhalten verletzt andere. Indem es nun keine Rechtfertigungen  für  sein Verhalten hat, fallen Israel und seine Unterstützer mit wachsendem Lärm auf die ältesten Behauptungen zurück: weil Israel ein jüdischer Staat ist, wird er kritisiert. Der Vorwurf, dass Kritik an Israel  stillschweigend  antisemitisch ist, wird in Israel und den USA als Israels Trumphkarte  betrachtet. Wenn sie in den letzten Jahren hartnäckiger und aggressiver ausgespielt wurde, dann hängt es damit zusammen, dass es die einzig verbliebene Karte ist.

 

Die Gewohnheit, jede Kritik des Auslands ( an Israel) mit der Bürste des Antisemitismus zu behandeln, liegt tief im israelisch politischen Instinkt: Ariel Sharon pflegte dies mit besonderer Übertreibung – er war aber nur der letzte in einer langen Reihe von israelischen Führern, die diese Behauptung ausnützten. David Ben Gurion und Golda Meir taten nichts anderes. Aber Juden  außerhalb Israels zahlen einen hohen Preis für diese Taktik. Diese  beeinträchtigt nicht nur die eigene Kritik an Israel aus Angst, man könnte mit der schlechten Gesellschaft ( der Antisemiten) in Verbindung gebracht werden. Und  sie ermutigt andere, Juden, egal wo, als Kollaborateure von Israels schlechtem Verhalten anzusehen. Wenn Israel in den besetzten Gebieten das Völkerrecht bricht, wenn Israel offen die unterworfene Bevölkerung, deren Land sie raubt,  demütigt – aber dann seinen Kritikern mit lauter Stimme „Antisemit“ entgegenschleudert – sagt es in Wirklichkeit, das seien alles keine israelischen, sondern jüdische Akte: die Besatzung ist keine israelische Besatzung, es ist eine jüdische Besatzung. Und wenn du das nicht magst, dann weil dir Juden unsympathisch sind.

 

In vielen Teilen der Welt ist dies in Gefahr, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung zu werden: Israels unbekümmertes Verhalten und  die hartnäckige Gleichstellung jeder  Kritik mit Antisemitismus ist jetzt der Ursache  antijüdischen Gefühls im westlichen Europa und in großen Teilen Asiens. Aber die traditionelle Folge – wenn antijüdisches Gefühl verbunden ist mit  einer Abneigung gegenüber Israel, dann sollten  „ korrekt denkende“ Leute zu Israels Verteidigung eilen – trifft nun nicht mehr zu. Stattdessen hat sich der zionistische Traum voll erfüllt: für zig Millionen von Menschen auf der Welt  von heute ist Israel tatsächlich der Staat aller Juden geworden. Und deshalb glauben viele Beobachter, es wäre gut, wenn  Israel  den Palästinensern ihr Land zurückgäbe, um die Ursache des wachsenden Antisemitismus in den Vororten von Paris und in den Straßen Jakartas  zu nehmen.

 

 

Israels Untätigkeit (Selbstblockade)

 

Wenn  Israels Führer solche Entwicklungen haben ignorieren können, dann liegt es daran, dass sie auch weiterhin mit der unkritischen Unterstützung der USA rechnen konnten – dem einzigen Land der Welt, wo die Behauptung, dass Antizionismus gleich Antisemitismus ist, nicht nur in den Meinungen vieler Juden, sondern auch bei öffentlichen  Erklärungen von Politikern  und der Massenmedien zu hören ist. Aber dieses träge, tief verwurzelte Vertrauen in die bedingungslose amerikanische Anerkennung – und die sie begleitende moralische, militärische und finanzielle Unterstützung  - führt zu Israels Selbstblockade.

 

In den USA ist ein Wandel im Gange. Es war allerdings vor noch nicht langer Zeit, dass Ministerpräsident Sharons Berater  fröhlich ihren Erfolg feiern konnten, als sie  dem US-Präsidenten die Bedingungen eines öffentlichen Statements  diktieren konnten, das die israelischen  illegalen Siedlungen billigte. Keiner der US-Kongressabgeordneten hat bis jetzt eine Kürzung der jährlichen 3 Milliarden-Hilfe für Israel vorgeschlagen  ( 20% des gesamten US-Auslandsbudget) , die geholfen hat, das israelische Verteidigungsbudget  und die Kosten des Siedlungsbaus  in den besetzten Gebieten aufrecht zu erhalten.  Israel und  die US scheinen zunehmend in einer symbiotischen Umarmung verbunden zu sein, wobei die Aktionen  beider Seiten ihre allgemeine Unbeliebtheit im Ausland nur vergrößern – und so auch ihre immer engere Verbindung in den Augen der Kritiker.

 

Aber während Israel keine andere Wahl hat, als nach Amerika zu schauen – hat es auch keine anderen Freunde - höchstens die eingeschränkte Zuneigung der Feinde seiner Feinde wie Indien.  Amerika aber ist eine  Großmacht – und Großmächte haben  Interessen, die früher oder später die örtlichen Obsessionen  auch ihrer engsten abhängigen Staaten  überschreiten. Es scheint mir von nicht geringer Bedeutung, dass der vor kurzem erschienene Aufsatz über „Die Israel-Lobby“ von Mearsheimer und Walt solch ein großes öffentliches Interesse und eine weite Diskussion auslöste. Mearsheimer und Walt sind prominente  Akademiker mit tadellosen  konservativen Referenzen. Es stimmt, dass sie – nach ihrem eigenen Bericht – ihre vernichtende Anklage über den Einfluss der israelischen Lobby auf die US-Außenpolitik in keiner  angesehenen US Zeitung  veröffentlichen konnten ( der Aufsatz erschien in der London Review of Books), aber die Sache ist die, dass sie diesen vor 10 Jahren  wahrscheinlich  gar nicht hätten veröffentlichen können. ...

 

Tatsache ist, dass die verheerende Irakinvasion und die Nachwirkungen beginnen, einen Wandel in der Außenpolitikdebatte hier in den USA in die Wege zu leiten . Es wird prominenten Denkern aus dem gesamten politischen Spektrum – von früheren neo-konservativen  Befürwortern wie Fukuyama bis zu den hart gesottenen Realisten  wie Mearsheimer  -- klar, dass die USA  in den vergangenen Jahren  unter einem katastrophalen Verlust des internationalen politischen Einflusses gelitten haben und unter einer beispiellosen Degradierung ihres moralischen Image. Die außenpolitischen Aktivitäten  des Landes sind  sinn- und zwecklos, ja, irratonal gewesen. Da gibt es in Zukunft eine Menge zu reparieren, vor allem was Washingtons Geschäft mit wirtschaftlich und  strategisch vitalen Gemeinschaften und Regionen vom Nahen Osten bis  Südostasien betrifft. Und diese Neugestaltung des Image  und des Einflusses im Ausland kann nicht gelingen, solange die Außenpolitik der USA  wie mit einer Nabelschnur an die Bedürfnisse und Interessen  eines kleinen nahöstlichen Landes gebunden ist, eines Landes, das  sehr  wenig mit den langfristigen Interessen der USA zu tun hat – einem Land das nach Mearsheimer und Walts Aufsatz  eher eine strategische Bürde ist....

 

Dieser Essay ist demnach wie ein Strohhalm im Wind – ein Hinweis auf die wahrscheinliche Richtung der zukünftigen Debatte hier in den USA über die finanziellen Verbindungen zu Israel. Natürlich gab es einen Feuersturm der Kritik von Seiten der üblichen Personen – und genau so  wie Mearsheimer und Walt vorausgesagt hatten – wurden sie des Antisemitismus’ bezichtigt . ...Doch überraschte mich, wie wenig Leute, mit denen ich ins Gespräch gekommen bin, diese Anklage ernst nehmen. Dies ist für Juden nicht gut, da dies bedeutet, dass echter Antisemitismus – selbst wenn er zunimmt – nicht mehr ernst genommen wird - und das dank der Israel-Lobby, die diesen Terminus missbraucht. Noch schlimmer ist dies für Israel.

 

Die neue Bereitschaft, sich von Israel zu distanzieren, ist nicht auf  Spezialisten ausländischer Politik begrenzt. Als Dozent war ich in den vergangenen Jahren über den Wandel der Haltung der Studenten überrascht. Ein Beispiel von vielen: An der New Yorker Universität lehrte ich im vergangenen Monat die Geschichte des Nachkriegs-Europa. Ich versuchte, den jungen Amerikanern die Bedeutung des Spanischen Bürgerkrieges  im politischen Gedächtnis der Europäer zu erklären  und warum Frankos Spanien  solch einen besonderen Platz in unserer moralischen  Vorstellung hat: ...als  ein Symbol von Unterdrückung in einer Zeit des Liberalismus und der Freiheit und ein Land der Schande, das wegen seiner Verbrechen und der Unterdrückung boykottiert wurde. Ich erinnere mich – so sagte ich zu den Studenten – an kein anderes Land, über das im demokratischen Bewusstsein so abschätzig gedacht würde. „Sie haben nicht recht“, erwiderte eine junge Frau: „Wie ist es denn mit Israel?“  Zu meiner großen Überraschung hat der größte Teil der Seminars, einschließlich des jüdischen Teilnehmer     , zustimmend genickt. So ändern  sich die Zeiten.

 

Dass Israel jetzt in den Augen junger Amerikaner mit dem Spanien des General Frankos verglichen wird, sollte Israelis schockieren und sie aufwecken – es ist fünf Minuten vor 12.

Nichts dauert ewig. Es scheint mir sinnvoll,  auf die Jahre von 1973 bis 2003 als auf eine Ära tragischer Illusionen für Israel  zu sehen:  von Heuschrecken gefressene Jahre , die von der bizarren Vorstellung verschwendet wurden, dass egal, was Israel tut oder wünscht, unbegrenzt mit der nicht hinterfragten Unterstützung der USA rechnen könnte und dass es nie einen Rückschlag  riskieren würde. Diese mit Scheuklappen versehene Arroganz  ist  tragischerweise in einer Bemerkung von  Shimon Peres am Vorabend  des katastrophalen Irak-Krieges zusammengefasst:

„Die Kampagne gegen Saddam Hussein ist ein Muss“. Im Nachhinein besehen, glaube ich, dass dies den Beginn von Amerikas  Entfremdung  von seinem israelischen Verbündeten beschleunigt hat.

 

Die Zukunft Israels sieht düster aus. Es ist nicht das erste Mal, dass sich ein jüdischer Staat an der verwundbaren Peripherie eines anderen Empire befand: mit übersteigertem Selbstbewusstsein seiner eigenen Rechtschaffenheit und eigenwillig blind gegenüber der Gefahr, dass seine Exzesse  letztlich seinen imperialen Mentor an den Punkt der Irritation und drüber hinaus  bringen. ...Gewiss, der moderne israelische Staat hat große Waffen – sehr  große Waffen. Doch kann es damit etwas anderes als sich Feinde machen? Das moderne Israel hat jedoch auch Optionen. Gerade weil das Land ein Objekt von universalem Misstrauen und  Unmut ist, weil die Menschen heute so wenig von Israel erwarten – ein wahrlich staatsmännischer  Wandel in seiner Politik ( indem z.B. größere Siedlungen aufgelöst,  bedingungslose Verhandlungen mit den Palästinensern eröffnet werden, indem man die Hamas ernst nimmt und ihr  für die Anerkennung Israels und eine Waffenpause etwas Seriöses anbietet) das alles  könnte unverhältnismäßig wohltuende Auswirkungen haben.

 

Aber solch eine radikale Neuausrichtung der israelischen Strategie würde eine schwierige  Neubeurteilung  jedes Klischees und jeder Illusion  nach sich ziehen, nach denen sich das Land und seine politische Elite bis jetzt  behaglich  eingerichtet hatte.

Es würde auch die Erkenntnis erforderlich machen, dass Israel keine besonderen Ansprüche auf internationale Sympathie oder Nachsicht hat; dass die Vereinigten Staaten nicht immer zur Stelle sind; dass Waffen  und Mauern Israel genau so wenig auf Dauer schützen können, wie sie die DDR und das weiße Südafrika geschützt haben; dass Kolonialsiedlungen immer dem Untergang geweiht sind, wenn man  die einheimische Bevölkerung nicht vertreiben oder auslöschen will. Andere Länder und ihre Führer haben dies verstanden und eine vergleichbare Neuorientierung zustande gebracht: Charles De Gaulle wurde bewusst, dass Frankreichs Kolonien in Algerien, die viel älter und besser etabliert waren als Israels Siedlungen in der Westbank, für sein Land eine militärische und moralische Katastrophe bedeuteten. In einem Akt von herausragendem politischen Mut handelte er nach dieser Einsicht und  zog sich aus Algerien zurück. Doch als De Gaulle zu dieser Erkenntnis kam, war er ein erfahrener Staatsmann, fast 70 Jahre alt. Israel kann es sich nicht leisten , noch solange zu warten. Im Alter von 58 sollte die Zeit gekommen sein, um die Pubertät hinter sich zu lassen und erwachsen zu werden.

 

Tony Judt ist Professor und Direktor des Remarque Instituts an der New Yorker Universität und sein Buch „Nachkriegszeit: die Geschichte Europas seit 1945“ wurde 2005 veröffentlicht.

 

(dt. und geringfügig gekürzt, Ellen Rohlfs)

 

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