Tsafrir Cohen
Representative in Palestine & Israel
medico international e.V. www.medico.de
Nach dem
Angriff - soziale Dienste im Gazastreifen
Ein Interview mit Azzam Shawa,
Sozialarbeiter & Leiter der sozialen Dienste der PMRS im
Gazastreifen
Photoüberschriften:
Das
Haus der Familie Al-Kitnany
Die Gesichtsverletzung des Al-Kitnany-Jungen
heilt langsam
In
Alatatra im Norden Gazas werden die Schäden registriert
Das Alsusi-Haus in Gaza. Auch
hier die Registrierung der Schäden
Matratzen und Decken werden ins Alsusi-Haus
gebracht
Wasserbehälter werden gebracht, um die
Wasserversorgung zu sichern
Hausbesuche in Norden des Gazastreifens
Ein Interview mit Azzam Shawa. Er ist
Sozialarbeiter und leitet die sozialen Dienste der Palestinian
Medical Relief Society (PMRS) im Gazastreifen. Finanziell
unterstützt durch medico schwärmte sein Team mit Beginn der
israelischen Angriffe aus, vor allem in den besonders betroffenen
Gebieten. Jetzt sind sie mit Reha-Maßnahmen beschäftigt.
Die Situation in Gaza verschlechtert sich
seit Jahren. Dennoch hat sich die Arbeit in den letzten beiden
Monaten gewiss stark verändert
Nichts ist bei uns wie früher. Vor dem Krieg
verlief ein Arbeitstag nach einem vorgefertigten Plan, der auch
eingehalten werden konnte. Wir haben uns etwas vorgenommen und dann
versucht, es umzusetzen. Ein Großteil der Arbeit bestand aus
Büroarbeit. Feldbesuche fingen in der Regel gegen acht Uhr morgens
an, und um zwei Uhr nachmittags kamen wir wieder ins Büro. Seit dem
27. Dezember ist es umgekehrt. Das Team ist fast immer unterwegs,
und im Büro sind wir nur, um die Feldbesuche kurz zu koordinieren.
Wir sind bis spät in den Abend unterwegs und beenden unsere Arbeit
erst sehr spät oder wenn wir in der Dunkelheit nicht mehr arbeiten
können, weil der Strom mal wieder ausgefallen ist. Am nächsten
Morgen fangen wir von Neuem an.
Unterscheiden sich auch die Fälle, mit denen
Sie es zu tun haben, stark von denen, die Sie früher behandelt
haben?
Wir waren vieles gewohnt, aber das, was wir in
den letzten beiden Monaten gesehen haben, hat mich persönlich
schockiert. Nach jedem Angriff sind unsere Teams in das betroffene
Gebiet geeilt. Der erste schlimme Fall was die Großfamilie Al-Samuni.
Dutzende von ihnen starben durch einen israelischen Angriff am 3.
Januar, das jüngste Opfer war ein 6 Monate altes Baby. Viele weitere
wurden verletzt. Die Überlebenden harrten in den Trümmern ihrer
Behausungen. Wir verteilten Matratzen und Decken, aber viel mehr
konnten wir nicht tun. Es waren unerträglich Momente, als die
Menschen ihre Häuser in Schutt und Asche wiedergefunden haben.
Ein weiterer Vorfall ereignete sich im
Al-Sahra-Viertel. Ein Familienhaus wurde offensichtlich mit
Phosphor-Bomben beschossen. Das Haus stand in Flammen, als wir
ankamen. Wir fanden ein vierzehnjähriges Mädchen und ihren
zwölfjährigen Bruder mit Verbrennungen an verschiedenen
Körperstellen. Der Junge schrie unentwegt vor Schmerzen und
klammerte sich an uns. „Ich möchte nicht sterben, ich möchte nicht
sterben“, sagte er immer wieder. Wir haben mit ihm nur weinen
können. Ich glaube, keiner von uns wird es jemals vergessen können.
Durch die jüngsten Angriffe hat sich die Lebenslage vieler Menschen
enorm verschlechtert. Wir registrieren immer mehr Menschen, die zu
den absolut Bedürftigen gehören. Diese können dann von den Angeboten
unseres medizinischen Notdiensts profitieren. Etwa die Familie Majid
Al-Kitnany aus Tufah. Dessen bescheidenes Häuschen wurde komplett
zerstört, und sein Sohn wurde im Gesicht verletzt.
Wie entscheiden Sie, wem Sie helfen?
Da haben wir unsere Regeln. Wir registrieren die
Schäden und helfen vor allem Familien, deren Häuser zerstört wurden
durch Bomben und Brände und die bei Verwandten zeitweilige Zuflucht
gefunden haben. Familien, die viele Tote und Verwundete zu beklagen
haben. Dann unterstützen wir Familien, die ihren Versorger verloren
haben, und immer nur Menschen, die Arm sind und keinerlei Reserven
haben, um sich selbst helfen zu können.
Worunter leiden die Menschen momentan am
meisten?
Es herrscht ein großer Mangel an Lebensmitteln
und notwendigen Waren infolge der andauernden Blockade von Gaza.
Auch wenn gewisse Güter auf dem Markt zu erwerben sind, so sind die
Preise aufgrund des Mangels überteuert. Viele leben beengt bei
Verwandten und Bekannten. Sie benötigen Wohnraum, Matratzen, Decken,
Wassertanks und Erste-Hilfe-Kits.
Wie kommen die Menschen mit dieser tristen
Realität um?
In den ersten Angriffstagen blieben die meisten
Familien zuhause, im Schockzustand. Die Bomben fielen ja Tag und
Nacht und überall, einen sicheren Zufluchtsort gab es nicht. Man
hörte von immer mehr Opfern. Nach einigen Tagen lernten die
Menschen, wie man - trotz des ständigen Beschusses und des Anblicks
von Leichen und Blut - einfach weiter funktioniert. Doch vor allem
Kinder können es nicht einfach wegstecken. Viele haben bleibende
Schäden davon getragen, haben Angstzustände, machen sich in die
Hose. Hier versuchen wir den Erwachsenen beizubringen, wie sie ihre
Kinder behandeln sollen, um die Traumata zu lindern. Indem sie die
Kinder etwa vor unnötigem Lärm, der sie an Explosionen erinnern
könnte, oder vor unnötigem Stress schützen.
Wie erlebten Sie persönlich die Angriffe?
Wir haben uns seit der Zweiten Intifada an
Explosionen, Zerstörung und Opfer ‚gewöhnt’, nicht aber an diese
Kriegsart. Die Intensität der Bombardements und das Ausmaß an
zivilen Opfern haben mich ängstlicher, verletzlicher und
hoffnungsloser gemacht. Mein Gerechtigkeitsgefühl ist verletzt, denn
wir alle waren Ziel der Angriffe, Alte und Kinder, Frauen und
Männer. Zur Arbeit zu gehen, war für mich und für meine KollegInnen
eine Art, der Situation zu trotzen. Unsere Teams mussten sich zwar
sehr vorsichtig bewegen, denn auch als Helfer waren wir Ziel der
Angriffe, aber wir mussten nicht tatenlos zuhause bleiben und
konnten agieren, unser Bestes geben.
Und jetzt?
Durch unseren ständigen Kontakt mit den Menschen,
die ihre Liebsten verloren haben, deren Häuser zerstört wurden und
die auf die Genesung ihrer verletzten Angehörigen hoffen, durchleben
wir ihren Schmerz. Aber es gibt auch immer einen Hoffnungsschimmer:
Immer wieder schaffen wir es, einem Menschen ein Lächeln
abzutrotzen, Ruhe in eine Familie zu bringen. Wir sind vorsichtig
hoffnungsvoll, dass die Grenzübergänge wieder geöffnet werden, damit
notwendige Hilfsgüter wieder eingeführt werden können, damit die
Ärmsten nicht weiter leiden müssen.
Haben Sie Unterstützung von den beiden
Regierungen in Ramallah und Gaza erhalten? Oder habt ihr
Schwierigkeiten mit diesen Regierungen gehabt?
Die aktuelle Lage und die Zwietracht zwischen
Hamas und Fatah hat unsre Arbeit beeinträchtigt und das Leid der
Menschen nur noch vergrößert. Die geschlossenen Grenzen, die
Unfähigkeit der Parteien, einen klaren Mechanismus für den
Wiederaufbau und die Güterverteilung zu finden, sind auch Folge
hiervon. Unsere Teams haben einige Belästigungen durch die Behörden
von Gaza erdulden müssen, die einige unserer Mitarbeiter und
Freiwilligen festhielten und ihre Personalien kontrollierten. Da
musste unser Zentralbüro kontaktiert werden, und das hemmte unsere
Arbeit und war auch ansonsten etwas deprimierend.
Mit welchen Problemen haben sie momentan am
meisten zu tun?
Um ehrlich zu sein, haben wir gerade mit ziemlich
vielen Problemen zu kämpfen. Die meisten sind Folgen der Blockade
und des schleichenden Zusammenbruchs der zivilen Infrastruktur im
Gazastreifen. Stromausfälle, der zeitweise Zusammenbruch aller
Kommunikationsnetze, der Zustand der Straße, die durch die
israelischen Angriffe noch schlechter geworden sind.
Was wird in den nächsten Monaten am nötigsten
gebraucht?
Es wird vieles noch benötigt. Bis jetzt wurde nur
das Allernötigste verteilt, aber das reicht kaum, um die
Angriffsfolgen auszugleichen. Die Zahl der betroffenen Familien, die
alles verloren haben, ist hoch. Sie können nicht ewig bei Freunden
und Verwandten wohnen. Und sie haben nichts mehr: Wir versorgen sie
mit einfachen Haushaltsgegenständen, etwa Matratzen, Decken,
Kleidern oder Küchen-Utensilien.
Unser community based rehabilitation
Programm besteht in normalen Zeiten aus Hausbesuchen und der
Begleitung von Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Diese sollen in
die eigene Gemeinde eingegliedert werden. Seit dem israelischen
Angriff sind wir dem medizinischen Notdienst angegliedert. Zusammen
arbeiten wir daran, den Bedarf zu erfassen. Als Folge der Angriffe
stellen wir bei vielen Menschen Schäden an der Hör- und Sehfähigkeit
fest. Andere haben Arme oder Beine verloren und benötigen Prothesen,
regelmäßige Behandlungen und häusliche Betreuung. Ferner benötigen
sie psychologische und medizinische Beratung. Wir müssen das nicht
nur registrieren, sondern diesen Menschen auch eine angemessene
Behandlung zukommen lassen. Wir haben also noch vieles vor.
Das Interview wurde mithilfe von Hekmat
Bessiso-Naji & Ishtar Aljabiri gefertigt