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 Israels Lügen
Henry Siegman

 London Review of Books    29. Januar 2009  

 

Henry Siegman

 

Israels Lügen

15. Januar 2009  

 

Die Regierungen der westlichen Staaten und die meisten westlichen Medien übernahmen folgende israelische Behauptungen zur Rechtfertigung des militärischen Angriffs auf Gaza: Hamas verletze in einem fort den sechsmonatigen Waffenstillstand, den Israel einhielt und den Hamas nicht verlängern wollte; Israel bliebe deshalb keine andere Wahl, als die Fähigkeit von Hamas, Raketen auf israelische Städte zu schießen, zu zerstören;  Hamas sei eine Terroristen-Organisation und Teil eines globalen Dschihad-Netzwerks; Israel sorge also nicht nur für seine eigene Verteidigung, sondern nehme zugleich teil am Kampf der westlichen Demokratien gegen dieses Netzwerk.

 

Ich weiß von keiner einzigen größeren amerikanischen Zeitung, keiner Rundfunk- oder Fernseh-Station, dass sie in ihrer Berichterstattung zum Angriff auf Gaza diese Lesart in Frage stellte. Soweit es Kritik an Israels Handlungen gab (keine von der Bush-Regierung),  beschränkte sie sich auf die Frage, ob die von der IDF veranstaltete Schlächterei in einem vernünftigen Verhältnis stehe zu der Bedrohung, die sie abzuwehren suche; und ob die IDF alles Nötige tue, Verluste der Zivilbevölkerung zu vermeiden.

 

Da alles Frieden-Schaffen im Nahen Osten durch irreführende Euphemismen erstickt wird, möchte ich ohne Umschweife feststellen: jede dieser Behauptungen ist eine Lüge. Israel, nicht Hamas, verletzte den Waffenstillstand: Hamas hatte sein Raketenfeuer auf Israel unterbrochen; im Gegenzug war es an Israel, seinen Würgegriff um Gaza zu lockern. Tatsache ist jedoch, dass es ihn während des Waffenstillstands verstärkte. Dies wurde nicht nur durch jeden neutralen internationalen Beobachter und durch NGOs vor Ort bestätigt,  sondern auch durch Brigadegeneral Shmuel Zakai, den ehemaligen Befehlshaber der IDF in Gaza. In einem Interview in Haaretz vom 22. Dezember beschuldigte er die israelische Regierung, während der Tadijeh, der sechsmonatigen Zeitspanne relativer Waffenruhe, einen „zentralen Fehler“ gemacht zu haben: „Statt die Ruhezeit zu nutzen, die wirtschaftliche Notlage der Palästinenser im Gazastreifen abzumildern“, habe die IDF sie spürbar vergrößert… „Wenn man eine Tadijeh vereinbart und der wirtschaftliche Druck geht weiter“, sagte General Zakai, „steht doch wohl außer Frage, dass Hamas versuchen wird, eine bessere Tadijeh zu bekommen, und ihre Methode, dies zu erreichen, ist die Wiederaufnahme des Raketenbeschusses… Man kann nicht einfach Schläge austeilen, die Palästinenser in ihrer wirtschaftlich verzweifelten Lage schmoren lassen und dann erwarten, dass Hamas einfach nur dasitzt und nichts tut.“

 

Der Waffenstillstand, der im Juni vergangenen Jahres begann und dessen Erneuerung im Dezember anstand, verlangte von beiden Seiten, auf Gewalt gegeneinander zu verzichten. Die Hamas musste ihre eigenen Raketenangriffe einstellen und Raketenfeuer durch andere Gruppierungen wie den islamischen Dschihad verhindern (sogar die israelischen Nachrichtendienste erkannten an, dass ihr dies erstaunlich wirkungsvoll gelang), und Israel musste aufhören mit gezielten Tötungen und militärischen Einfällen. Diese Übereinkunft wurde aufs schwerste verletzt, als die IDF am 4. November nach Gaza eindrang und sechs Hamas-Mitglieder tötete. Hamas antwortete mit Kassam- und Grad-Raketen. Zugleich bot sie eine Verlängerung des Waffenstillstands an unter der Bedingung, dass Israel seine Blockade beende. Israel lehnte ab. Es hätte seine Pflicht, die eigene Bevölkerung zu schützen, durch eine Abschwächung der Blockade erfüllen können, aber es machte nicht einmal den Versuch. Man kann deshalb nicht behaupten, dass Israel den Gaza-Streifen überfiel, um seine Bürger zu schützen. Israel tat es, um sein Recht zu schützen, mit der Strangulierung der Bevölkerung von Gaza fortzufahren.

 

Anscheinend haben alle vergessen, dass Hamas ein Ende der Selbstmordattentate und der Raketenangriffe erklärte, als sie sich  entschied, am palästinensischen politischen Prozeß  teilzunehmen, und dass sie sich im wesentlichen über ein Jahr lang daran gehalten hat. Bush begrüßte diese Entscheidung in aller Öffentlichkeit und nannte sie als Beispiel für den Erfolg seiner Kampagne für Demokratie im Nahen Osten. (Er konnte keinen anderen Erfolg vorweisen.) Als Hamas entgegen allen Erwartungen die Wahl gewonnen hatte, erklärten Israel und die USA dies Ergebnis für nicht legitim und wandten sich Machmud Abbas zu, dem Führer der Fatah, den die israelische Führung zuvor als „gerupftes Huhn“ abgetan hatten. Sie bewaffneten und trainierten seine Sicherheitsdienste für einen Sturz von Hamas; und als Hamas – zugegeben: auf brutale Weise – diesem gewaltsamen Versuch, das Ergebnis der ersten ehrlichen demokratischen Wahl im modernen Nahen Osten auf den Kopf zu stellen, zuvorkam, verhängten Israel und die Bush-Regierung die Blockade.

 

Israel  begegnet diesen unbestreitbaren Tatsachen mit dem Hinweis, dass Ariel Sharon, als er im Jahr 2005 die israelischen Siedlungen von Gaza abzog, den Palästinensern die Chance gab, einen eigenen Staat zu gründen. Hamas habe es abgelehnt, diese Chance zu ergreifen, und Gaza stattdessen in eine Abschussrampe für Raketenangriffe auf die israelische Zivilbevölkerung verwandelt. Der Vorwurf ist eine doppelte Lüge. Erstens hat die Hamas, unbeschadet aller ihrer Mängel, in Gaza für Gesetz und Ordnung gesorgt in einem Maß, das in den vorangegangenen Jahren unbekannt war, und dies ohne Hilfe der großen Beträge, mit denen Geldgeber die von der Fatah geführte Palestinian Authority  überschütteten. Sie beseitigte die gewalttätigen Banden und Warlords, die Gaza unter der Herrschaft der Fatah terrorisiert hatten. Nicht-praktizierende Muslime, Christen und andere Minderheiten hatten mehr religiöse Freiheit unter der Hamas-Regierung, als sie beispielsweise in Saudi-Arabien oder unter vielen anderen arabischen Regierungen haben würden.

 

Die zweite und größere Lüge ist, Sharons Rückzug aus Gaza sei gedacht gewesen als erster Schritt zu weiteren Rückzügen und zu einem Friedensvertrag. Dov Weisglass, Sharons wichtigster Berater und zugleich sein Chef-Unterhändler für Vereinbarungen mit den Ameri-kanern, sagte über den Rückzug aus Gaza in einem Interview mit Haaretz im August 2004:

 

            Mit den Amerikanern habe ich mich klipp und klar darauf geeinigt, dass über die größeren Siedlungsblöcke der Westbank überhaupt nicht verhandelt wird; und über die anderen erst, wenn die Palästinenser zu Finnen ((gemeint ist: zu willfährigen Klienten)) geworden sind … Die Bedeutung (der Vereinbarung mit den Amerikanern) besteht im Einfrieren des politischen Prozesses. Und solange er eingefroren ist, solange kommt es nicht zur Bildung eines palästinensischen Staates und auch nicht zu einer Diskussion über die Flüchtlinge, die Grenzen und Jerusalem. Kurz, das ganze Paket namens Palästinensischer Staat - mit allem was dazugehört - ist für unbegrenzte Zeit von der Tagesordnung. Und dies mit Präsident Bushs Autorität und Erlaubnis… und der Absegnung durch beide Häuser im Kongreß.

 

Glauben die Israelis und die Amerikaner, dass Palästinenser keine israelischen Zeitungen lesen? Oder dass sie, als sie sahen, was auf der Westbank passierte, sich nicht selber sagen konnten, worauf Sharon hinauswollte?

 

Die Regierung von Israel würde die Welt gern glauben machen, dass Hamas seine Raketen losschickte, weil Terroristen dergleichen nun mal tun; und dass Hamas eine Gruppierung von geborenen Terroristen ist. In Wahrheit ist Hamas nicht mehr und nicht weniger eine „Terror-Organisation“ (Israels bevorzugte Bezeichnung) als die zionistische Bewegung während ihres Kampfes für einen Judenstaat. In den späten dreißiger und vierziger Jahren verlegten sich Gruppierungen innerhalb der zionistischen Bewegung aus strategischen Gründen auf terroristische Aktivitäten. Laut Benny Morris nahm die Irgun als erste Zivilisten ins Visier. Wie er in Righteous Victims schreibt, löste 1937 ein Anstieg des arabischen Terrorismus „eine Welle von Irgun-Attentaten auf arabische Menschenansammlungen und Busse aus, wodurch der Konflikt eine neue Dimension bekam“. Darüber hinaus dokumentiert er Gräueltaten, die die IDF während des Krieges 1948-49 beging, und räumt in einem von Haaretz veröffentlichten Interview 2004 ein, dass Materialien, die das Verteidigungsministerium inzwischen zugänglich gemacht hatte, „wesentlich mehr israelische Massaker auswiesen als ich bislang gedacht hatte… In den Monaten April-Mai 1948 erhielten Einheiten der Haganah Befehle, die ausdrücklich verlangten, dass sie die Dorfbewohner entwurzeln und vertreiben sollten und die Dörfer selbst zerstören“. In mehreren palästinensischen Dörfern und Städten führte die Haganah planmäßig die Erschießung von Zivilisten durch. Von Haaretz gefragt, ob er die ethnische Säuberung verurteile, antwortete Morris, er täte es nicht:

 

Es hätte kein jüdischer Staat ins Leben gerufen werden können ohne die Entwurzelung von 700 000 Palästinensern. Deshalb war es notwendig, sie zu entwurzeln. Wir hatten keine Wahl. Wir mussten sie vertreiben. Es war notwendig, das Hinterland zu säubern und die Grenzregion zu säubern und die wichtigsten Straßen zu säubern. Es war notwendig, die Dörfer zu säubern, von denen unsere Konvois und unsere Siedlungen beschossen wurden.

 

Mit anderen Worten, wenn Juden unschuldige Zivilisten töten, um mit ihrem nationalen Kampf voranzukommen, sind sie Patrioten. Wenn ihre Gegner dies tun, sind sie Terroristen.

Es ist zu einfach, Hamas lediglich als eine „Terror-Organisation“ zu beschreiben. Es ist eine religiöse nationale Bewegung, die ihre Zuflucht zu Terrorismus nimmt (wie es die zionistische Bewegung tat während ihres Kampfes für einen eigenen Staat) in dem irrigen Glauben, dies sei die einzige Möglichkeit, eine unterdrückende Besatzung zu beenden und einen palästinensischen Staat ins Leben zu rufen. Zwar fordert die offizielle Ideologie von Hamas, den palästinensischen Staat auf den Ruinen des Staates Israel zu errichten. Dies ist für die tagtägliche Politik von Hamas jedoch ebenso wenig maßgebend, wie es die gleichlautende Erklärung in der PLO-Charter für die tatsächliche Politik der Fatah war. 

 

Dies sind nicht die Schlussfolgerungen eines Hamas-Apologeten, sondern die Ansichten von Ephraim Halevy, dem früheren Mossad-Chef und nationalen Sicherheitsberater von Sharon. Die Hamas-Führung hat sich „direkt unter unseren Augen“ verwandelt, schrieb er unlängst in Yedioth Ahronoth; sie nahm zur Kenntnis, „dass ihr ideologisches Ziel unerreichbar ist und für alle absehbare Zukunft bleiben wird“.  Sie ist nun bereit und willens, einen palästinen-sischen Staat in den temporären Grenzen von 1967 errichtet zu sehen. Zwar habe die Hamas-Führung nicht gesagt, wie „temporär“ diese Grenzen sein würden. „Sie weiß aber, dass sie die Spielregeln ändern muß von dem Augenblick an, wo ein palästinensischer Staat unter ihrer Mitwirkung errichtet wird. Sie wird einen Weg einschlagen müssen, der sie weit weg führen dürfte von ihren ursprünglichen ideologischen Zielen.“ In einem früheren Artikel hatte Halevy dargelegt, dass es absurd sei, Hamas mit al-Qaida in Verbindung zu bringen.

 

In den Augen von al-Qaida sind die Hamas-Mitglieder Häretiker, seit sie (zumindest indirekt) an Verständigungs- oder Vereinbarungs-Verhandlungen mit Israel beteiligt zu werden wünschen. Die Erklärung von Khaled Mashal, dem Chef des Politbüros von Hamas, widerspricht diametral den Ansichten von al-Qaida. Sie gibt Israel eine (vielleicht historische) Gelegenheit, eine Wendung zum Besseren zu erreichen.

 

Warum sind dann die Führer Israels so erpicht darauf, Hamas zu zerstören? Weil sie glauben, dass die Führung von Hamas, ungleich der von Fatah, sich nicht einschüchtern lassen wird, eine Friedensvereinbarung zu akzeptieren, die einen palästinensischen „Staat“ vorsieht, der aus ein paar nichtzusammenhängenden Stücken Land besteht, über die Israel eine ständige Kontrolle behalten würde. Kontrolle über die Westbank ist das unerschütterliche Ziel der militärischen, geistigen und politischen Eliten Israels seit Ende des Sechs-Tage-Kriegs. Sie glauben, Hamas würde niemals eine solche Kantonisierung des palästinensischen Bodens erlauben, gleich wie lang die Besetzung anhält. Sie mögen sich irren über Abbas und seine Rentner-Truppe; sie haben jedoch vollkommen recht bezüglich Hamas.

 

Nahost-Beobachter fragen sich, ob Israels Angriff auf Hamas erfolgreich genug sein wird, die Organisation zu zerstören oder sie aus Gaza zu vertreiben. Eine irrelevante Frage. Über welches künftige Palästina auch immer Israel die Kontrolle zu behalten plant -  es wird niemals einen palästinensischen Partner dafür finden; und selbst wenn es ihm gelingt, Hamas zu demontieren, so wird die Bewegung alsbald ersetzt werden durch eine weitaus radikalere palästinensische Opposition.

 

Falls Barak Obama einen kampferprobten Nahost-Emissär ernennt, der sich an die Idee klammert, Außenstehende sollten keine eigenen Vorschläge machen für eine gerechte und dauerhafte Friedenslösung, und schon gar nicht sollten sie Druck ausüben auf die Parteien, sie zu akzeptieren, sondern es ihnen überlassen, ihre Meinungsverschiedenheiten abzuarbeiten, dann stellt er sicher, dass der künftige palästinensische Widerstand weitaus radikaler sein wird als Hamas – und mit einiger Wahrscheinlichkeit alliiert sein mit al-Qaida. Für die Vereinigten Staaten, Europa und den größten Teil der restlichen Welt wäre dies das schlimmstmögliche Ergebnis. Vielleicht glauben einige Israelis, und zumal die Führer der Siedler, dies diene ihren Zielen, weil es der Regierung einen zwingenden Vorwand gäbe, die Kontrolle über ganz Palästina zu behalten. Aber dies ist eine Täuschung. Sie würde zum Ende von Israel als jüdischem und demokratischem Staat führen.

 

Anthony Cordesman, einer der verlässlichsten Militär-Analytiker des Nahen Ostens und Freund Israels, legte am 9. Januar in einem Bericht für das Center for Strategic and International Studies dar, dass die taktischen Vorteile einer Fortführung der Operation in Gaza geringer seien als ihre strategischen Nachteile – und vermutlich nicht größer als alle Erfolge, die Israel zu Anfang des Kriegs erzielt haben mag durch gezielte Schläge gegen Schlüsselstellungen der Hamas. „Ist Israel hineingestolpert in diesen sukzessive eskalierenden Krieg ohne ein klares strategisches Ziel? Hatte es nicht wenigsten eine glaubwürdige Vorstellung, was es erreichen könnte?“, fragt er. „Wird Israel am Ende einen Feind politisch gestärkt haben, den es taktisch besiegt hat? Werden Israels Aktionen die Position Amerikas in der Region schwer schädigen - wie auch jede Hoffnung auf Frieden - und auch die gemäßigten arabischen Regierungen und Stimmen? Ohne Umschweife gesagt: wie es jetzt aussieht, lautet die Antwort ja.“

 

Cordesman schließt: „Natürlich kann sich jeder hinstellen und unerschütterlich behaupten, taktische Erfolge seien ein bedeutender Sieg. Sollte dies alles sein, was Olmert, Livni und Barak zu antworten wissen, dann stehen sie entehrt da und haben ihrem Land und ihren Freunden geschadet.“

Aus: London Review of Books, 29. Januar 2009

 

Henry Siegman, früherer Direktor des American Jewish Congress und des Synagogue Council of America, ist Visiting Research Professor an der School of Oriental and African Studies der University of London und  leitet das US Middle East Project in New York.

 

Übersetzung: Harm Rösemann

 

 

 

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