„Grabscht die Hügel,
erweitert das Land …“
Henry
Siegman, London Review of Books, 10.4.08
( über zwei Bücher über die
israelischen Siedlungen ER)
Gershom Gorenberg: “The
Accidental Empire: Israel and the birth of the settlements ( 1967-77)”
Idith Zertal/ Akiva Eldar :
“Lords of the Land: the War over Israel’s settlements in the Occupied
Territories, 1967-2007” ( deutsch im DVA 2007: “Die Herren des Landes
…”)
Der
Titel von Gorenbergs Buch ist irreführend. Die Errichtung der jüdischen
Siedlungen auf der Westbank und im Gazastreifen wären „zufällig“
gewesen. Während Gorenberg, ein in Amerika geborener israelischer
Journalist bemerkt, dass keine israelische Regierung jemals eine
offizielle Erklärung über die Zukunft der Westbank gemacht, lässt sein
Bericht über das 1. Jahrzehnt der israelischen Besatzung keinen Zweifel
daran, dass die Siedlungen bewusst gegründet wurden und dafür gedacht
waren, eine permanente israelische Präsenz auf so viel Land wie möglich
in den besetzten Gebieten zu schaffen. (Tatsächlich hoffte man, die
ganzen besetzten Gebiete zu besiedeln, wenn die internationale
Gemeinschaft es zulassen würde)
Keine
israelische Regierung hat je die Errichtung eines palästinensischen
Staates östlich der grünen Linie, der Waffenstillstandlinie unterstützt.
Die Siedlungen waren mindestens dafür bestimmt, eine Rückkehr zu jener
Grenze unmöglich zu machen.
Es ist
aus Gorenbergs Bericht und Zertal/Eldars umfassender Untersuchung des
Siedlungsprojektes „Die Herren des Landes“ eindeutig, dass es nicht die
Präsenz der Siedlungen in der Westbank war, was die Regierung teilte.
Shimon Peres von der Labor-Partei spielte eine Schlüsselrolle bei der
Gründung des Siedlungsunternehmens. Die Differenzen bestanden eher wegen
des von den Palästinensern enteigneten Landes. Die meisten diskutierten
darüber, ob man den Palästinensern Selbstbestimmung gewähren soll oder
jordanische Staatsbürgerschaft. Mit den Jahren haben einige
Kabinettsmitglieder Rehavam Zeevi, Rafael Eitan , Effi Eitan und Avigdor
Liebermann z.B. offen für „Tranfer“ gestimmt, ein Euphemismus für
ethnische Säuberung.
Es gab
eine allgemeine Übereinstimmung darin, dass anstelle einer offiziellen
Stellungnahme über den zukünftigen Status der Westbankbewohner
anzunehmen -- wobei man die Provokation der internationalen Opposition
riskiert -- es für Israel besser sei, „neue Fakten vor Ort zu
schaffen“, aber darüber Stillschweigen zu bewahren. Mit der Zeit – so
dachte man - würde die Welt den Jordan als Israels Ostgrenze
akzeptieren.
Diese
Bücher bezichtigen das sorgfältig gepflegte Narrativ, das der Besatzung
zugrunde liegt, der Lüge. Nach diesem Narrativ bot die Regierung
Israels den Palästinensern und seinen Nachbarn nach dem Krieg von 1967
den Frieden an, wenn sie den jüdischen Staat anerkennen würden. Doch bei
einer Konferenz der Arabischen Liga in Khartum am 1. Sept. 1967
antwortete die arabische Welt mit den „drei Neins von Karthum“: „kein
Frieden, keine Anerkennung und keine Verhandlungen“. Israel habe
deshalb keine andere Wahl gehabt, als die palästinensischen Gebiete
weiter zu besetzen. Hätten die Palästinenser keine Gewalt gegen die
Besatzung angewendet, dann hätten sie schon längst ihren eigenen Staat
– wenigstens sagt man so.
Diese
Geschichte ist eine Lüge. Israels militärische und politische Führer
hatten nie die Absicht, die Westbank und den Gazastreifen
zurückzugeben. Das Angebot der Regierung, sich von arabischen Land
zurückzuziehen, betraf nur Ägypten und Syrien und nicht Jordanien oder
die Palästinenser in den „Gebieten“. Die offizielle Resolution der
Regierung sagt nichts über eine Rückgabe des Sinai und des Golan im Juni
1967 und spricht vom Gazastreifen, als einem Gebiet, das ganz zu Israel
gehört. Ohne nennenswerten Widerspruch legte sich das Kabinett, das von
Yigal Allon und Moshe Dayan und dem damaligen Ministerpräsidenten
Eshkol geleitet wurde, auf eine Politik fest, die nur lokale Formen von
Autonomie in der Westbank und im Gazastreifen zuläßt, einer Verabredung,
von der sie glaubten, sie würde ihnen erlauben, den Jordan nicht nur als
Israels Sicherheitsgrenze anzusehen, sondern auch als international
anerkannte politische Grenze.
Die
Entscheidung, die Kontrolle über die Gebiete zu behalten, wurde nur
wenige Tage nach Kriegsende von 1967 getroffen und war keine Antwort
auf palästinensischen Terror oder gar die palästinensische
Zurückweisung, Israels Rechtmäßigkeit anzuerkennen. Zertal und Eldar
zitieren einen Bericht von Mossadbeamten, der auf Anfrage der
IDF-Nachrichtenabteilung vorbereitet und dem IDF am 14. Juni 1967
vorgestellt wurde. Dieser Bericht befand, dass die Mehrheit der
Westbankführer, einschließlich der Extremsten unter ihnen zum
augenblicklichen Zeitpunkt bereit sei, ein Friedensabkommen auf der
Basis einer unabhängigen Existenz Palästinas ohne Armee zu schließen.
Der Bericht wurde als top secret eingestuft und beiseite
gelegt.
Sicherheit war der Grund, den Israel angab, um die Gründung der
Siedlungen zu rechtfertigen. Aber die überwältigende Mehrheit von ihnen
schafft neue Sicherheitsprobleme, wenn man nur an die Menge Militär und
Nachrichtendienste denkt, die sie zu ihrer Verteidigung und Sicherheit
benötigen . Die Siedlungen machen auch die Palästinenser wütend, deren
Land gestohlen wurde, um für diese Siedlungen Platz zu schaffen – auch
dies hilft nicht zu mehr Sicherheit.
Beide
Bücher demonstrieren im Detail, dass dies nicht nur die
Schlussfolgerung externer Kritiker, sondern auch von israelischen
Militär- und Sicherheitsexperten war. Haim Bar-Lev, ein früherer
Generalstabschef, machte 1979 vor dem Obersten Gerichtshof geltend,
dass jüdische Siedlungen in dicht bevölkerten arabischen Gebieten
Terrorangriffen eher ausgesetzt sind, und dass die Absicherung der
Siedlungen Sicherheitskräfte von wesentlichen Aufgaben abhält.
Generalmajor Matityahu Peled wies das Sicherheitsargument zurück: es
stecken keine guten Absichten dahinter. Das Argument dient nur einem
Zweck: den Landraub zu rechtfertigen, der in keiner Weise zu
rechtfertigen ist.
Der
Unterstützer mit dem größten Einfluss auf eine so energische
Siedlungspolitik war Yigal Allon, der legendäre Kommandeur von Israels
Palmach, einer Elitetruppe, die schon vor der Staatserrichtung bestand.
„Ein Friedensvertrag“ , sagte er bei einer Regierungssitzung am 19.Juni
1967 ist die schlechteste Garantie für die Zukunft von Frieden und die
Zukunft von Verteidigung. Zertal und Eldar berichten, dass er davor
warnte, nur einen einzigen qm der Westbank zurückzugeben, und dem
Kabinette sagte er, wenn er zu wählen hätte „zwischen der Gesamtheit des
Landes mit der ganzen arabischen Bevölkerung oder der Aufgabe der
Westbank, dann würde er der Gesamtheit des Landes mit all seiner
Bevölkerung den Vorzug geben.“ Allons Ansichten, die das Strategiedenken
der israelischen politischen und Sicherheitseliten Jahrzehnte lang
formten, waren sehr von seinem Mentor Yitzhak Tabenkin beeinflusst,
einem der Gründer des Yishuv. Tabenkin glaubte, dass Teilung ein
vorübergehender Zustand wäre, und dass die „Ganzheit des Landes“
schließlich erreicht werden würde, entweder friedlich oder durch Krieg.
Die
Herren des Landes und Das
zufällige Empire enthüllen das große Ausmaß von Israels Diebstahl
von palästinensischem Land und der Verwicklung eines jeden Teils der
israelischen Gesellschaft in diese eindeutige und bewusste Verletzung
nicht nur des Völkerrechts, sondern auch von Israels eigenen Gesetzen.
Gorenberg berichtet, dass, als er vom Außenminister Abba Eban 1967 über
die Legalität der Siedlungen gefragt wurde, Theodor Meron, des
Außenministers rechtlicher Berater, antwortete: „Zivile Siedlungen in
den verwalteten Gebieten widersprechen explizit den Bestimmungen der
Vierten Genfer Konvention.“ Er betonte noch, dass das Verbot kategorisch
sei und nicht abhängig von Motiven oder Zwecken für Transfer. Es soll
die Kolonisierung des eroberten Gebietes durch Bürger des erobernden
Staates verhindert werden .
Die
Siedlungen wurden 2005 sorgfältig von einer Kommission untersucht, die
von Talia Sasson geleitet wurde, die zynischerweise von Ariel Sharon
selbst ernannt wurde, um die von ihm selbst organisierten illegalen
Aktivitäten aufzudecken. Sassan fand heraus, dass die nach israelischen
eigenen Gesetzen illegalen Siedlungen mit der geheimen Unterstützung
tatsächlich jedes Regierungsministeriums, der IDF, dem Shin Bet
errichtet wurden. Als Sasson ihre Untersuchungen vorstellte,
täuschten Sharon und seine Minister einen Schock vor und ließen den
Bericht verschwinden.
Zertal
und Eldar machten nicht nur deutlich, dass die Siedler ihr Zepter über
den besetzten Gebieten und deren Bevölkerung schwingen, sondern genau
so auch über dem Staat Israel.
Man
sollte sich daran erinnern, dass die Mehrheit der israelischen Siedler
nicht ideologisch motiviert ist, sondern durch wirtschaftliche und die
Lebensqualität betreffende Ansichten und dass sie von den enormen
Subventionen, die die Regierung den Siedlungen zukommen lässt angezogen
werden. Einige dieser „nicht-ideologischen“ Siedler sind säkulare
Israelis, während andere zu ultra-orthodoxen jüdischen Gemeinden
gehören, die dem zionistischen Unternehmen gegenüber weitgehend
ambivalent, wenn nicht gar ablehnend sind. Aber die treibende Kraft
hinter den Siedlungen ist eine kleine religiös-nationalistische Gruppe,
deren Mitglieder weithin als besonders schlau angesehen werden, und die
gute und effektive politische Verbindungen in Israel haben. Ihre
Ideologie verbindet eine Art religiöser Messianismus mit einem extremen
Nationalismus, der viel mehr mit dem religiösen und ethnozentrischen
Nationalismus der serbisch orthodoxen Milizen von Mladic und Karadzic
gemeinsam hat als mit den mir vertrauten jüdischen Werten. Dass Sharon
und einige seiner Siedlerfreunde tatsächlich die einzigen Politiker des
Westens waren, die gegen militärische Maßnahmen waren, um die serbische
ethnische Säuberung in Bosnien und Kosowo zu verhindern, war kein
Zufall.
Die
religiös-nationalistische Führung scheint jetzt viel von ihrer Autorität
mit der weit radikaleren jüngeren Generation verloren zu haben, die in
den Siedlungen geboren und groß gezogen wurde. Diese neue Generation
bezieht ihre Inspirationen von der ‚Hügeljugend’, jungen Leuten, die
Sharon im Oktober 1998 - damals Außenminister in Netanyahus Regierung
– dazu aufrief, möglichst viele Hügel der Westbank zu grapschen, Hügel,
von denen er und Netanyhu nach dem Oslo-Abkommen sich zurückzuziehen
versprochen hatten. ‚Grapscht noch mehr Hügel, dehnt das Gebiet aus!’
drängte Sharon im Radio. ‚Alles was ihr jetzt grapscht wird in euren
Händen bleiben. Alles war wir jetzt nicht grapschen, wird in ihren
Händen bleiben.’
Die
Hügeljugend weist die Autorität des jüdischen Staates und seiner
Institutionen zurück. Sie laufen in Kleidung herum, die in ihrer
Phantasie biblisch sei, greifen die Palästinenser an, stehlen und
zerstören deren Häuser, Ernten, und Obstgärten, schlagen sie
gelegentlich und töten sie zuweilen. Gelegentlich greift die IDF ein.
Aber deren Wirksamkeit wird von ihrem Glauben unterlaufen, dass es ihr
Job sei, die Siedler zu schützen, nicht die Bevölkerung unter Besatzung.
David
Shulman, einem angesehenen Akademiker, Friedensaktivist und ein Mitglied
von Ta’ayush, einer Organisation von israelischen Palästinensern und
Juden, die sich für Ko-Existenz engagieren, schrieb über die Hügeljugend
in seinem letzten Buch „Dark Hope“ ‚Dunkle Hoffnung:
Friedensarbeit in Israel und Palästina’: Wie jede Gesellschaft hat
Israel gewalttätige soziopathische Elemente. Was in den letzten vier
Jahrzehnten in Israel ungewöhnlich ist, sind die vielen destruktiven
Individuen, die hier eine Zufluchtsstätte gefunden haben, die innerhalb
des Siedlungsunternehmens ideologisch völlig legitimiert sind. an Orten
wie Havat Maon, Itamar, Tapuah und Hebron haben sie unbehinderte
Freiheit, um die lokale palästinensische Bevölkerung zu terrorisieren,
anzugreifen, zu beschießen, zu verletzen, manchmal auch zu töten – alles
im Namen der angeblichen Heiligkeit des Landes und dem exklusiven Recht
der Juden zu diesem Land.
Sich
sonst selbst an Gesetze haltende Israelis sehen in der Hügeljugend
moderne Haluzim, zionistische Pioniere, die einst die von Malaria
verseuchten Sümpfe trocken legten und die Kibbuzim aufbauten.
Als
Folge von Sharons Auflösung der jüdischen Siedlungen im Gazastreifen
2005 wurden viele junge Leute des national-religiösen Lagers noch
radikaler und distanzierten sich von der Siedlerführung. Sie sahen den
Rückzug als einen nicht zu verzeihenden Verrat an und beschuldigten
ihre eigenen Führer für ihr Versagen. Sie konnten Sharons Argument nicht
akzeptieren, dass die Auflösung der Gaza-Siedlungen für Israel
unvermeidbar war, wenn Israel am palästinensischen Land auf der Westbank
und in Ostjerusalem festhalten will. Es war der Deal, mit dem Präsident
Bush einverstanden war und den er in einem Brief bestätigte, den er
Sharon in Camp David 2004 gab: Er bestätigte die Position seiner
Regierung, dass auf Grund der neuen Realitäten vor Ort, einschließlich
schon bestehender größerer israelischer Bevölkerungszentren, es
unrealistisch sei, zu erwarten, dass das Ergebnis von
Endstatusverhandlungen es eine volle und komplette Rückkehr zu den
Waffenstillstandlinien von 1949 geben wird.
In
einem Leitartikel klagte Haaretz vor kurzem nicht nur die Siedler an,
sondern den ganzen religiösen Zionismus, er habe ‚sich selbst als
Bewegung positioniert, die die Souveränität des Staates leugnet’: So
lange der Staat den Zielen der Siedlungen dient, werden sie ihn
unterstützen. Aber in dem Augenblick, in dem eine gegensätzliche
Entscheidung getroffen wird – über territorialen Rückzug oder
Evakuierung von Außenposten – dann wird dieses Lager es sich erlauben,
die Gesetze zu übertreten. Dies ist nicht eine Laune von ein paar
Teenagern, sondern die Metamorphose eines ganzen Lagers von einem
Zentrum konstruktiver Aktivität zu einem Zentrum von Unterminierung.
Ähnliche Kritik wurde schon von Mitgliedern des religiös-nationalen
Lagers geäußert. Der Rabbiner vom Moschaf Nov Yigal Ariel,
veröffentlichte kürzlich ein Buch („Um Himmels Willen“) in dem die
Bewegung für seine Feindseligkeit gegenüber den „grundlegendsten Regeln
des Gesetzes“ verurteilt wird. Er klagt die Siedler an, dass sie
‚irrgläubig und irrational’ geworden seien und in der Gefahr, ‚in einen
dunklen Abgrund, den sie sich selbst schaffen, gestürzt zu werden’.
Das
Buch „Die Herren des Landes’ lässt keinen unberührt. Aber in einer
Gesellschaft, in der Sicherheit ein zentrales Thema ist, spielt das
Militär eine unvermeidbar mächtige Rolle bei der Wertebildung von
jungen Männern und Frauen, die 2-3 Jahre oder länger beim Militär
dienen. Sein durchgreifender Einfluss bildet bei weitem die größte
Gefahr für Israels Zukunft: Für sein Überleben als demokratischer Staat
und für seine jüdischen Werte, die der Staat verkörpern wollte.
Seit
1967 hat sich die IDF selbst in eine Armee der Siedler gewandelt, an die
sich ein missbrauchter Palästinenser nicht um Schutz wenden kann. Die
engen Verbindungen der Siedlerführung zu Regierungsmacht-Maklern
bedeutet, dass sie die Karrieren von ranghohen IDF-Offizieren fördern
oder auch brechen können. Der beunruhigendste Teil von Zertal und Eldars
Geschichte ist ihre Beschreibung, wie die Siedlerführer einen
IDF-Kommandeur einschüchtern … Der am höchsten ausgezeichnete Soldat in
der Geschichte der IDF, Ehud Barak, Israels früherer Ministerpräsident
und augenblickliche Verteidigungsminister in Olmerts Regierung, musste
seine Worte zurücknehmen, als Siedlerführer während einer seiner Reden
hinausgingen, als er IDF-Chef vom Zentralkommando im Mai 1987 war, weil
er das Wort „Besatzung“ benützte, um Israels Präsenz auf der Westbank
zu beschreiben. Sie kehrten auf ihre Plätze zurück, als er sich damit
einverstanden erklärte, er würde seine Rede wiederholen, ohne dieses
Wort zu benützen.
Während die IDF mit Hilfe des Shin Bet irgendwie fast jeden
potentiellen palästinensischen Terroristen auf der Westbank ausfindig
macht und anscheinend ihre intimsten Gespräche kennt, scheinen sie nicht
in der Lage zu sein, jüdische Siedler, die unschuldige Palästinenser
angegriffen, ihre Häuser oder Farmen zerstört oder sie gar ermordet
haben, ausfindig zu machen. Die meisten Verbrechen der Siedler bleiben
unaufgeklärt, wie auch die Verbrechen, die von IDF-Soldaten begangen
werden. Dem militärischen Justizsystem gelingt es meistens, mildernde
Umstände für IDF-Missbrauch zu finden. Und die wenigen Israelis, die für
schuldig befunden werden, erhalten lächerliche Strafen. Mittlerweise
befinden sich mehr als 10 000 Palästinenser, einschließlich Frauen und
Minderjährige in Israels Gefängnissen, viele ohne Verurteilung oder
wegen spezieller Verbrechen verurteilt.
Der
Kontrast zu Gerichtsverhandlungen von Siedlern ist auffallend. Pinchas
Wallerstein, einer der prominentesten Siedlerführer, schoss auf einen
arabischen Jugendlichen, den er sah, wie er einen Reifen auf der Straße
verbrannte. Der Junge, den er in den Rücken schoss, starb. Wallerstein
wurde dazu verurteilt, Gemeindedienst zu verrichten. Der Richter Ezra
Hadaiya, zitierte die rabbinische Ermahnung ‚man solle nicht jemanden
richten, bis man nicht an seiner Stelle ist.’ 1982 feuerte ein Siedler,
Nissan Ishegoyer, mit seinem Uzi- Maschinengewehr in eine Gasse, aus der
pal. Kinder mit Steinen warfen, und tötete einen 13jährigen Jungen.
Seine Strafe war drei Monate Gemeindedienst. Zwischen 1988 und 1992
wurde von 48 palästinensischen Todesfällen in den besetzten Gebieten
berichtet (Anscheinend nur von Siedlern, denn die Todesfälle lagen in
diesem Zeitraum bei ca. 1200 - Übers.) In nur 12 dieser Fälle wurden
Anklagen gegen israelische Verdächtige erhoben; Nur einer wurde wegen
Mordes verurteilt, ein anderer wegen Totschlags und sechs, weil sie den
Tod aus Nachlässigkeit verursacht hätten. Der Angeklagte, der wegen
Mordes angeklagt worden war, für den die Höchststrafe 20 Jahre
Gefängnis lautet, bekam 3 Jahre Gefängnis.
Die
Vorstellung, dass Leute, die einige ihrer wichtigsten Jahre beim
Militär verbracht haben, mit demokratischer, humanitärer und egalitärer
Einstellung intakt zurückkommen, ist ein absurder Mythos, der der
IDF-Täuschung zu Grunde liegt, dass sie die moralischste Armee der Welt
sei. Genau so absurd ist die Behauptung, dass Israel ein modellhaftes
Justizsystem habe, in dem Palästinenser faire Behandlung erhalten.
Israelis, die sich über die double standards ihres Rechtssystems
Sorgen machen, beruhigen sich über die fortschrittlichen Regeln des
israelischen Obersten Gerichts. Aber darauf kann man sich nicht mehr
verlassen. Vor kurzem akzeptierte der Oberste Gerichtshof bei einem
Zwischenentscheid zum ersten Mal den Gedanken von getrennten Straßen für
Palästinenser in den besetzten Gebieten; die „Assoziation für Zivile
Rechte in Israel“ sieht diese Anordnung als Beginn für legale
Apartheid.
Was
die Situation besonders erschreckend macht , ist, dass ranghohe Führer
der IDF in zunehmendem Maße Siedler aus dem national-religiösen Lager
sind. Viele von ihnen sind unter dem Einfluss von Siedlerrabbinern, die
wie ihr Jihadi-Gegenstück religiöse Regeln liefern – tatsächlich Fatwas
– und ihre Nachfolger dazu aufhetzen, die israelischen
Ministerpräsidenten zu ermorden, wenn sie die rote Linie der Siedler
überschreiten. Das Ausmaß dieses Wechsels in der IDF wurde von Steven
Erlanger in der New York Times im letzten Dezember beschrieben. Der
Oberst Aharon Haliva, der Kommandeur der israelischen
Offizierstrainingsschule, erzählte Erlanger, dass mehr als ein Drittel
der Freiwilligen in den Kampfeinheiten jetzt von der religiösen
Siedlerjugend komme. ‚Man findet sie nicht in Tel Aviv, sondern überall
auf den Hügeln in Judäa und Samaria,’ sagte Haliva. ‚Sie sind die
Pioniere von heute’. Ihr Einfluss auf ihre Schützlinge ist gewaltig. ‚In
zwei Monaten werde ich 20 Soldaten kommandieren’, sagte einer von ihnen
zu Erlanger, und unter ihnen werden es vielleicht zwei Offiziere geben
– und das sind weitere vierzig Soldaten und weitere vierzig Familien …
die Art, wie ich meine Waffe halte, ist so, wie sie mein erster
Kommandeur hielt.’
Haggai
Alon, ein ranghoher Beamter im Verteidigungsministerium von Olmerts
Regierung, als das Ministerium von Amir Peretz geleitet wurde,
beauftragte die IDF vor kurzem, die Siedler-Agenda zu fördern. Alon
sagte zu Haaretz, dass die IDF die Instruktionen des Obersten
Gerichtshofes über den Verlauf des sog. Sicherheitszaunes ignorierten
und ‚stattdessen den Verlauf so setzten, dass er die Errichtung eines
palästinensischen Staates verunmöglicht.’ Alon bemerkte, dass, als 2005
James Wolfensohn ein von Israel und der palästinensischen Behörde
unterzeichnetes Abkommen erreichte, das dafür bestimmt war, die
Restriktionen der Bewegungsfreiheit für die Palästinenser zu
erleichtern, haben die IDF sie stattdessen für die Siedler erleichtert;
für die Palästinenser wurde die Zahl der Kontrollpunkte verdoppelt. Nach
Alon führt die IDF eine Apartheid-Politik durch, was die ethnische
Säuberung Hebrons ( vgl. die Aktionen gegen das Waisenhaus in Hebron
und seine Islamische Wohlfahrts-Gesellschaft ER.) bedeutet und die
Judaisierung des Jordantales. Gleichzeitig operieren sie offen mit den
Siedlern, um den Versuch einer Zwei-Staatenlösung unmöglich zu machen.
Die
Behauptung, dass es nur an der palästinensischen Gewalt und ihrer
Zurückweisung liegt, dass Israel gezwungen ist, in den besetzten
Gebieten zu bleiben, ist eine glatte Lüge. Wie ich schon im LRB
(16.August 2007) behauptete: die eifrig vorgebrachte Geschichte von
Israels Friedensbemühungen und seiner Suche nach einem palästinensischen
‚Partner für Frieden’, wurde erfunden, um Zeit zu gewinnen, um noch
mehr neue Fakten vor Ort zu schaffen: Siedlungen, die die territoriale
und demographische Nachbarschaft und Integrität des palästinensischen
Landes und Lebens derart zerteilen, dass die Errichtung eines
palästinensischen Staates unmöglich gemacht wird. Dies gelang Israels
Führern so gut, dass Olmert schließlich behauptet, ihm sei klar
geworden, ohne eine Zwei-Staatenlösung würde Israel ein Apartheidstaat
werden und nicht überleben können. Er ist aber nicht in der Lage, auch
nur die kleinste Veränderung, die er in Anapolis versprochen hatte,
auszuführen.
Die
Erweiterung der Siedlungen und eines Schnellstraßensystems nur für
Juden in der Westbank geht ohne Unterbrechung weiter. Den Preis, den
Israel und die Juden in aller Welt – abgesehen vom palästinensischen
Volk – noch für diesen „Erfolg“ werden zahlen müssen, darüber
nachzudenken, bereitet nur Schmerzen.
Henry Siegman ist Direktor des US/ Nahostprojektes und ein
Forschungsprofessor des Sir-Joseph-Hotung-Nahost-Programmes bei SOAS. Er
war ranghoher Mitarbeiter im Rat für Ausländische Beziehungen von 1994
–2006 in den USA.
(dt.
Ellen Rohlfs )