Wenn man niemanden mehr
beschuldigen kann, was wird Israel dann tun?
Virginia Tilley, Süd-Afrika
Was wirst du jetzt tun, Israel?
Jetzt, wo drei kleine Jungs von
Mördern getötet worden sind und ein Hamasrichter aus seinem Wagen
gezogen und ermordet wurde, wirst du dich vielleicht freuen? Die
Palästinenser unterwerfen sich endlich deinen Plänen, denkst du. Die
lang geplante Flasche ist endlich versiegelt worden, in der nun die
„trunkenen Kakerlaken“ herumrennen und einander umbringen können.
Vielleicht lehnst du dich in deinem
nationalen Stuhl zurück, reibst triumphierend deine Hände und
beobachtest, wie die Palästinenser sich gegenseitig umbringen und
endlich das werden, was du schon immer behauptet hast. Vielleicht fühlst
du dich davon angewidert, aber in deiner Überlegenheit sehr sicher.
Aber hast du jemals daran gedacht,
was du tun wirst, wenn die palästinensische Führung, die du so
verachtest, sich schließlich auflöst?
Du hast sie an diesen Punkt
gebracht. Du hast seit zig Jahren dahin gewirkt, um genau das zu
erreichen. Du hast ihre Führung bestochen, terrorisiert, vertrieben,
verstümmelt oder getötet, ihre Visionäre und Philosophen verbannt oder
getötet, die Hamas gegen die Fatah oder die Fatah gegen die Hamas
unterstützt und finanziert, ihre Demokratie in den Müll geworfen, ihr
Geld gestohlen, sie eingemauert, sie auf Diät gesetzt, ihre Forderungen
verhöhnt und die Welt und euch selbst über ihre Geschichte angelogen.
Aber was wirst du tun, Israel, wenn
5 Millionen Palästinenser schließlich führerlos unter deiner Herrschaft
leben? Was willst du tun, wenn sie ihre Fähigkeit, mit euch zu
verhandeln, verlieren? Hast du schon darüber nachgedacht, dass innerhalb
der von dir kontrollierten Gebiete so viele Menschen sind wie bei dir?
Und dass du jetzt ihre vereinigte Stimme zerstörst. Hast du darüber
nachgedacht, was geschehen wird, wenn sie tatsächlich diese Stimme
verlieren?
Glaubst du wirklich, wenn du nur
die Fatah mit Geld und Waffen versorgst, dass Fatah die Macht von der
Hamas erhalten wird und die feige palästinensische Marionettenregierung
deiner Träume wieder aufrichten wird. Vielleicht glaubst du tatsächlich,
dass Fatah das Oslo-Wrack aus den Trümmern der palästinensischen
Behördenbüros wieder beleben kann und den Fahrersitz der
palästinensischen Nation beanspruchen kann?
Vielleicht machst du dir selbst
etwas vor: mit nur noch ein paar interfraktionellen Kämpfen und noch
ein bisschen mehr Morden und noch ein bisschen mehr an Hungersnot. Dann
wird sich das ganze palästinensische Volk gegen die Hamas wenden und ihr
die Macht nehmen – zu Gunsten eines grinsenden Mr. Abbas.
Aber warum glaubst du dies alles,
wenn der einzige andere Testfall, der Irak, in Ruinen liegt und die USA
und UK verzweifelt zu fliehen versuchen?
Lebst du wirklich immer noch so
tief in deinen eigenen Fantasien, dass du glaubst, der palästinensische
Widerstand ist nur ein Produkt übler und halsstarriger Führung? Dass
kein kollektives Gedächtnis der Vertreibung und Enteignung den Geist des
kollektiven Widerstands aufrechterhält, der immer und unvermeidlich die
Führung übersteigt? Glaubst du denn wirklich, wenn du nur die Hamas oder
die Fatah zermalmst oder mit ihr zusammenarbeitest, dann werden 5
Millionen Menschen einfach für immer aus deiner Umwelt verschwinden,
über die jordanische oder ägyptische Grenze in die endlose Wüste mit
ihren Klamotten, Kindern und den trüben Erinnerungen bepackt – wie in
einer großen Wiederholung von 1948?
Glaubst du wirklich, dass die
Internationale Gemeinschaft dich einfach gehen lässt aus den
Verhandlungen mit dem Volk, das du enteignet und in Verruf gebracht
hast? Glaubst du, dass du irgendwie schließlich frei und unbeschwert
weglaufen kannst und dass deine Verbrechen gegen sie vergessen sind?
Wir wissen, dass du noch immer der
alten, fatalen, aussichtslosen Fantasie anhängst: den zionistischen
Traum schließlich zu erfüllen, indem du den palästinensischen
Nationalismus zermalmst; die palästinensische nationale Einheit auf dem
Felsen der Besatzung zerbrichst; die Palästinenser zu Indianern in
Reservaten reduzierst, die dann in Verzweiflung, Alkoholismus und
Auswanderung enden; um sie für dich irrelevant zu machen.
Aber hier gibt es eine neue
Nachricht für dich, Israel. Die einheimischen, ursprünglichen Amerikaner
haben bis zum heutigen Tag nicht aufgegeben. Beschädigt und reduziert,
wie sie waren, kennen sie doch ihre Geschichte und erinnern sich an ihr
Leid. Sie sind marginal, weil sie nur ein Prozent der US-Bevölkerung
sind. Die Palästinenser aber sind fünf Millionen stark - an Zahl so
stark wie du, Israel. Und sie leben innerhalb deiner Grenzen. Wenn sich
ihre Führung selbst zu Grunde richtet und sich gegenseitig wie Widder zu
Tode bekämpfen, dann werden sich fünf Millionen Augenpaare dir zuwenden,
weil du dann die einzige Macht bist, die geblieben ist. Du bist dann
hilflos, weil deine papierene Zuflucht – eure Fatah oder PA-Quislinge,
die wie beschädigte und angeknaxte Gefäße, in Verruf geraten sind. Du
wirst es dann sein und die, denen du die Bürgerrechte genommen hast – du
und die Palästinenser in einem Staat – ohne Oslo oder Road-Map-Mythos,
der dich schützt. Dann werden sie dich wirklich hassen.
Vielleicht wird es dir dann
dämmern, was du getan hast, wenn die Auflösung der palästinensischen
nationalen Einheit sich wie ein Tsunami über den ganzen Nahen Osten
ausbreiten wird und sich mit dem Tsunami, der sich vom Irak her
ausbreitet, vereinigen wird, um die Region verwüstet und neu geordnet
über dich legt.
Als Beobachter hast du dir selbst –
ja, selbstmörderisch - diese Katastrophe geschaffen.
Wir können jetzt selbst nur
beobachten, wie du Versprechen brichst und zu viele Leiden zu vielen
Menschen zugefügt hast.
An wen können wir uns wenden, um
den einseitigen Selbstmordpakt mit den Palästinensern abzuwenden? Wir
könnten uns an die Hamas wenden, dass sie die ganze Basis mobilisiert,
die allein die Kapazität besitzt, um zivilen Ungehorsam der Massen in
Gang zu bringen, der nötig wäre, um die eiserne Faust der Israelis zu
lähmen. Nur hat die Hamas keinerlei Erfahrung mit dieser Methode und
seine Staatsmänner werden nun von den Waffen der Fatah bedroht.
Wir könnten uns an den Führer der
Fatah, H. Abbas wenden, der sich einen Platz zu Füßen der israelischen
Macht sucht, um etwas Rückhalt zu bekommen …
Wir könnten uns an die Fatahbande
wenden, dass sie die Herren Abbas und Erekat und die fetten
Zementverträge zurückweist, die man ihnen gab, um die Mauer zu bauen,
mit der sie nun eingesperrt werden.
Wir könnten uns an die winzige PFLP
und DFLP wenden, die an ihren alten Programmen festhalten, die zu alt
sind, um die Jahrzehnte alte Bitterkeit und Rivalitäten mit der Fatah zu
konsumieren, um schließlich den Kopf gegen die alten und neuen
Missstände zu heben.
Wir könnten uns an die USA wenden,
aber keiner macht sich die Mühe damit.
Wir könnten uns an die EU wenden,
aber auch hier macht sich keiner die Mühe.
Wir könnten uns an die Welt wenden
– aber die steht nur entsetzt daneben.
Wir könnten uns an die Medien der
Welt wenden – aber die halten nur teilnahmslos ihren Hintern in die
Luft.
Wir können uns nur an dich, Israel,
wenden. Denke darüber nach, was du tust und kümmre dich darum; denn du
bist dabei, deine eigene Zerstörung zu schaffen.
Du bist in diesem großen nationalen
Projekt so effektiv gewesen, weil du Erfahrung hattest. Selbst das
mutigste, mit hohen Grundsätzen versehene und sensibelste Volk kann -
wie du selbst erfahren hast - nicht auf Dauer ein Konzentrationslager
überstehen. An einem gewissen Punkt wird die Menschlichkeit
zusammenbrechen, wie Holocausthistoriker mit Pathos beschrieben haben.
Individuelles Heldentum kann als Erinnerung überleben, aber Ordnung,
Humanität und schließlich auch menschliche Gefühle verschwinden in
Streit und menschlicher Unmenschlichkeit. Du hast dies alles nur zu gut
und bitter erfahren, wie dieser Kessel das ganze Sozialgefüge zum
Schmelzen bringt und ein Volk am Boden zerstört. Diese Lektion ist
buchstäblich in dein nationales Gedächtnis eingebrannt. Und nun bringst
du jene Lektionen wieder zum Tragen, indem du versucht, die zionistische
Tragödie zu sühnen, indem du den Gazastreifen ins Verderben führst.
Aber wenn du, Israel, tatsächlich
das Chaos, das du den Palästinensern bereitet hast, ernten willst, dann
wirst du herausfinden, dass niemand anders für diese fünf Millionen
Zivilisten verantwortlich ist, außer dir.
Was willst du, Israel, also mit 5
Millionen Menschen unter deiner Herrschaft tun, wenn du der Welt nicht
weiter den Vorwand liefern kannst, dass du mit ihnen zu verhandeln
beabsichtigst? Was willst du mit Menschen tun, die du verachtest – und
die dich schließlich auch verachten, wenn Visionen der Koexistenz
schließlich fehlgeschlagen sind. Du wirst die einzige souveräne
Herrschaft über sie haben. Du wirst sie weder verschlingen noch
ausspucken können. Und sie werden dich anstarren.
Und auch wir werden dich anstarren.
Denn es gibt dann niemanden mehr,
dem man die Schuld in die Schuhe schieben kann, und der für sie sorgen
kann – außer dir allein.
Virginia Tilley ist Professor für politische Wissenschaften,
US-Bürgerin, die in Südafrika lebt und Autorin von „Die
Eine-Staaten-Lösung: ein Durchbruch für Frieden im
israelisch-palästinensischen Patt“. (University of Michigan Press and Manchester
University Press, 2005)
(dt. Ellen Rohlfs) |