Die stille Besetzung
Von Ran HaCohen
The Palestine Chronicle, 17.
Juni 2005
(ANTIWAR.COM) – Welches ist das
erste Bild, das mit dem Begriff „Besetzung“ in unserem Verstand
assoziiert wird? Vermutlich irgendeine Art extremer Gewalt unter
Zivilisten, tödlicher Kugelhagel in der Stadtmitte, erschrockene Kinder,
die in ihren Pyjamas schwer bewaffneten Soldaten bei der
Hausdurchsuchung zusehen, ein Hubschrauber, der eine Rakete mitten in
Gaza abwirft, … Diese gewaltsamen Vorfälle geschehen zwar alle aber sie
ergeben kein adäquates Bild von dem, wie Besetzung in Wirklichkeit
aussieht.
Sehr wenige
Menschen begreifen, dass Israel das Leben in den besetzten Gebieten
(ausgenommen jenes der israelischen Siedler) in ein komplettes Elend
verwandelt hat, ohne dabei eine einzige Kugel abfeuern zu müssen. Einen
einmaligen Einblick in die Mechanismen, die diese „stille“
Besetzung ausmachen, und die normalerweise hinter dem Nebelschleier der
Gewalt verborgen sind, ermöglicht der erste Jahresbericht der
israelischen Menschenrechtsbewegung Machsom Watch, der in einer
Pressekonferenz in Tel Aviv letzte Woche vorgestellt wurde.
Das Einmaleins: Die
Westbank-Checkpoints
Machsom – Das Wort
„Straßensperre“ auf Hebräisch steht für ein ganzes Arsenal von
Hindernissen, die überall in den besetzten Gebieten verstreut sind:
Befristete oder andauernde Straßensperren, bemannte Checkpoints oder
durch schwere Betonblöcke abgeriegelte Straßen, Tore in der Mauer,
Erdhügel, Gräben, Überwachungstürme. Der am wenigsten bekannte aber
maßgeblichste Umstand ist, dass fast alle diese unterschiedlichen
technischen Hindernisse KEINE „Grenz-Checkpoints“ sind, die also
zwischen Israel und den besetzten Gebieten liegen. Fast alle von ihnen
befinden sich INNERHALB der besetzten Gebiete und behindern dort die
Bewegung von einer palästinensischen Stadt bzw. von einem Dorf zu
einer(m) anderen.
Innerhalb der
vergangenen vier Jahre – die ersten Anzeichen seit Beginn des Jahres
2002 waren deutlich genug – machte Israel jede Bewegung eines jeden
Palästinensers von einer israelischen Erlaubnis abhängig. Unglaublich
aber wahr: Ein Palästinenser, der seine unmittelbare Umgebung – sei es
Stadt, Dorf, Wohnviertel oder auch nur ein beliebiger Dorfabschnitt –
verlassen (oder wieder betreten) will, muss im Voraus von Israel einen
Erlaubnisschein erhalten und diesen dann an jedem bewachten israelischen
Checkpoint vorzeigen. Man kann nicht einfach nur zur Arbeit gehen,
Einkäufe oder Behördengänge erledigen, in die Schule gehen, Familie oder
Freunde besuchen, das Krankenhaus aufsuchen – zuerst hat man einen oder
mehrere israelische Checkpoints zu passieren.
Die Zahlen sind
erschreckend. Das UN-Büro für die Koordinierung der humanitären Hilfe
(OCHA) zählte im November 2004 nicht weniger als 719 (!)
technische Hindernisse überall in der Westbank. Machsom Watch
berichtete, dass weniger als 70 davon in der letzten „ruhigen“
Zeit entfernt wurden, einige von ihnen wurden lediglich durch die rasch
fortschreitende Mauer ersetzt. Ein General der Armee berichtete, dass
die 25 zentralen Checkpoints unter seinem Kommando 1.000 Soldaten
erforderten, und bis zu 5.000 Soldaten in Alarmbereitschaft beschäftigt
seien (Ha’aretz, 22. Juli 2003); kein Wunder, dass die Checkpoints
ständig unterbesetzt sind, was wiederum endlose Menschenschlangen
bedeutet.
So lebt keiner der
über zwei Millionen Palästinenser in der Westbank mehr als einige Meilen
(1 Meile = 1,609 km) entfernt von einer Straßensperre oder einem
Checkpoint. Eine kurze Strecke durch die Westbank könnte zwangsläufig
durch mehrere israelische Checkpoints führen, einige von ihnen sind vom
nächsten fünf Minuten entfernt. Glücklich, einen Checkpoint passiert zu
haben? Der nächste liegt nur ein paar Minuten vor einem, wo man das
Ganze wieder von vorne anfangen wird!
Checkpoints sind an
israelischen, jüdischen, moslemischen und anderen Feiertagen sowie zu
nationalen Anlässen geschlossen, was das palästinensische
wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben lähmt. Machsom Watch
berichtet, dass „von März bis Mai 2004 eine Schließung verhängt
wurde, die in vielen Gebieten der Westbank eine totale Einkesselung zur
Folge hatte. Die Abriegelung begann mit dem Pessachfest, dauerte
ununterbrochen bis zum israelischen Unabhängigkeitstag (mehrere Wochen
später!) und ab da bis zum Referendum der Likudpartei, und sie wurde
schlussendlich nach den letzten vier Entscheidungsspielen (Final Four
play-off games?) wieder aufgehoben.“
Persönliche
Anmerkung
Als ich 18 Jahre alt war,
absolvierte ich meine Grundausbildung bei einer israelischen
Infanterieeinheit, die berüchtigt für ihre Grausamkeiten war. Der
schwierigste Aspekt der 100 Tage, die ich dort verbrachte – es war
Anfang des Jahres 1983 – war nicht die körperliche Härte; dies war
schlimm genug, jedoch ein Kinderspiel verglichen mit der andauernden
Anspannung, die durch eine vorsätzliche, systematische Methode
verursacht wurde, nämlich die neuen Rekruten in totaler Verunsicherung
zu halten. Wir hatten keine Ahnung, was ein paar Minuten später
passieren könnte – würden wir zu einem Vortrag mitgenommen, zu einer
Leibesübung, zu einer Mahlzeit oder würden wir zu einem entlegenen
Stützpunkt verlegt? Wir wurden spät nachts ins Bett geschickt, nur um
eine halbe Stunde später wieder geweckt zu werden; ein freies Wochenende
zu Hause wurde angekündigt und mehrfach bis Freitagnachmittag
zurückgezogen. Und einzelne Soldaten sollten aus keinem klaren Grund
bestraft werden. Wie mein Offizier mir später erzählte, war das Konzept:
„uns als Zivilisten kaputt zu kriegen, um uns als Soldaten wieder
aufzubauen“. Zumindest der erste Teil wurde erfolgreich erfüllt: Die
unerträgliche Anspannung verursachte bei vielen von uns ernsthafte
psychische Schäden, ähnlich wie ein Schock, Identifikation mit dem
Aggressor oder posttraumatische Stresssyndrome. Offensichtlich wurde der
missbrauchende Stab ebenfalls nicht verschont: Mehrere Jahre später
wanderte der von mir gerade erwähnte Offizier nach Amerika aus und wurde
dort von einem reichen, älteren jüdisch-amerikanischen Ehepaar, die von
dem stämmigen, israelischen Kämpfer entzückt waren, „adoptiert“. Jetzt
sitzt er eine lebenslange Haftstrafe ab, weil er beide erschossen hat,
um ihr Vermögen zu erben.
Durch den Checkpoint
Machsom-Watch-Aktivisten
berichten, dass sie das Konzept hinter der Checkpoint-Strategie sogar in
einem Militärdokument gelesen hätten: Das Halten der
palästinensischen Bevölkerung unter permanenter Verunsicherung. Dann
kommt hier also genau dasselbe Prinzip, das auf die „kaputt zu
kriegenden“ Rekruten während der Grundausbildung angewandt wurde, bei
einer gesamten Bevölkerung zum Einsatz, bei Kindern und Erwachsenen,
Frauen und Männern, Kranken und Alten. Die Checkpoints sind der Kern
dieser Strategie.
In dem Augenblick,
in dem man eine Fahrt durch die Westbank beginnt, ist man nicht länger
Herr seiner Zeit. Man weiß weder, ob man sie überhaupt antreten kann,
noch kann man abschätzen, wie lange sie dauern wird. Dank
„Überraschungscheckpoints“ und nur während gewisser Stunden
besetzter Checkpoints kann man selbst nicht einmal sagen, wie viele
Checkpoints man wird passieren müssen. Jeder Checkpoint kann zu jeder
beliebigen Zeit geschlossen sein – ohne vorherige Ankündigung bzw.
irgendeinem Hinweis darauf, ob und wann er wieder geöffnet wird. Man
kann drei Checkpoints auf seinem Weg passieren, nur um am vierten
angehalten zu werden. Einen Checkpoint zu überschreiten kann Minuten
oder Stunden dauern, je nach unvorhersehbaren Menschenschlangen. Die
Armee kann auch plötzlich die berüchtigte Dienstanweisung „Jegliches
Leben anhalten“ verhängen – eine komplette
Blockade der Passage, die jeweils Stunden dauert.
Verzögerungen
Sogar, wenn ein Checkpoint
geöffnet ist, werden die Menschen extremer Willkür und Verunsicherung
ausgesetzt. Eine notwendige aber nicht ausreichende Bedingung, um den
Checkpoint zu passieren, ist ein Erlaubnisschein. Mit einer kaum
merklichen Geste seines oder ihres Fingers kann ein 19jähriger Soldat
darüber entscheiden, ob dein Dokument eine „Überprüfung“ braucht und
dich zurückhalten. Solch eine Verzögerung kann 20 Minuten in Anspruch
nehmen, aber sie kann auch mehrere Stunden dauern, währenddessen man in
der abgedeckten Jora (d.h. „Loch“ in Arabisch,
„Abwasserloch“ in Hebräisch) warten muss, in dem man laut Befehl
stehen bleiben oder auf dem Boden sitzen muss – mit dem Gesicht zur
Wand. Falls man Busfahrer ist, müssen alle Fahrgäste mit einem warten.
Sein Dokument kann vielleicht umgehend zur Überprüfung geschickt werden;
aber es kann auch warten müssen, bis sich 20 oder 30 weitere Dokumente
angesammelt haben, damit sie gemeinsam versendet werden. Falls es mit
einem OK zurückkommt, kann man weiterfahren, jedoch gehen manche der
Dokumente bei dem Verfahren oft verloren.
Wer wird
zurückgehalten? Hier sind ein paar Antworten, die
Machsom-Watch-Aktivisten von Checkpointsoldaten bekamen: „Einer, der
angespannt aussieht“ (wer würde dies unter diesen Umständen wohl
nicht?); „Jeder neunte Mann“; „Jeder, der Mohammed heißt“; „Jeder,
der durch meinen Checkpoint durch will“. Die leibhaftige Willkür!
Viele Soldaten bezeichnen die Verzögerung an den Checkpoints als eine
Art Bestrafung oder „erzieherische Maßnahme“, und ordnen diese
federführend an: „Halte diesen Kerl eine lange Zeit fest“.
Englisches Wetter
Hinter diesem System stecken
unzählige Menschen mit manchmal herzzerreißenden Geschichten – der
verhaftete Nierenpatient, der verprügelte Student. Einige dieser
Geschichten fallen klar unter den Begriff Misshandlung. Israels
Fähigkeit, palästinensisches Leben zur Hölle zu machen, geht verloren,
wenn Klageschriften bearbeitet werden müssen: Von 100 Anzeigen, die von
Machsom Watch im Jahre 2004 an mehrere Staats- und Armeedienststellen
verschickt wurden, wurden 87 % ignoriert oder unzureichend beantwortet.
Vor zwei Jahren gestand die Armee ein, dass nur 18 von 1.200
„Nachfragen“ über Checkpoint-Klageschriften zu Untersuchungen durch die
Militärpolizei geführt hätten; Der Rest - 98,5 % - sei zurückgestellt
worden (Ha’aretz, 22. Juli 2003).
Aber es ist
wichtig, dass die Misshandlungsfälle nicht von der „normalen“
Routine ablenken: Das palästinensische tägliche Leben ist unerträglich
sogar bei – wie es die Machsom-Watch-Aktivisten nennen – „englischem
Wetter“, was so viel heißt wie ein normaler Tag ohne
außergewöhnlichen Zwischenfall. Falls die Wurzeln palästinensischer
Frustration, Verzweiflung und Gewalttätigkeit – „Terrorismus“,
wenn Sie so wollen – gesucht werden müssen, dann ist das
Checkpoint-System ein ausgezeichneter Ausgangspunkt, um mit der Suche
anzufangen.
Dr. Ran HaCohen wurde 1964 in Holland geboren
und wuchs in Israel auf. Er lehrt an einer Universität in Israel.
HaCohens Arbeiten wurden in Israel weithin verbreitet. „Letter from
Israel“ (Brief aus Israel) erscheint gelegentlich auf
www.Antiwar.com.
22.06.2005, Übers. v.
Gabriele Al Dahouk |