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Mag sein, dass ich bau in der Luft
meine Schlösser.
Mag sein, dass mein Gott ist im
ganzen nicht da.
Im Traum ist mir heller, im Traum ist
mir besser,
im Traum ist der Himmel noch blauer
als blau.
Mag sein, dass ich werd’ mein
Ziel nicht erreichen.
Mag sein, dass mein Schiff wird nicht
kommen zum Steg.
S’geht mir nicht darum, ich soll was
erreichen.
S’geht mir um den Gang auf einem
sonnigen Weg.
Josef Papiernikoff, 1924
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Reuven Moskovitz – Jerusalem - Tel. 00972 2
653 51 03,
vardamos@hotmail.com
Jerusalem, 8. April
2013
Liebe Freundinnen
und Freunde, diesen Brief
schreibe ich am Tag des Holocausts oder, wie wir auf
Hebräisch sagen, der Shoah. Als dieser Tag
eingeführt wurde, wagte kaum jemand, daran zu
glauben, dass Israel in den kommenden 70 Jahren die
militärische Supermacht im Nahen Osten und einer der
reichsten Staaten der Welt werden würde.
Schon in den
sechziger Jahren machte sich Levi Eschkol, einer der
sympathischsten Ministerpräsidenten unseres Landes,
über Israel lustig, weil, wie er sagte, Israel als
Herkules den armseligen und ohnmächtigen Samson
spiele. Heute kann Israel mit Hilfe der aus
Deutschland gelieferten U-Boote, die es mit atomaren
Sprengköpfen ausgestattet hat bzw. ausstatten kann,
jede Ecke der Welt unter Beschuss nehmen. Die viel
gefürchtete siegreiche israelische Armee heißt immer
noch "Verteidigungsarmee", obwohl das Land den
letzten Verteidigungskrieg nach der Invasion fünf
arabischer Staaten im Jahre 1948 führte.
Auch der Reporter
der Zeitung Jedi'ot Acharonot, Nahum Barnea,
erwähnt seinem Buch "Israel schießt und weint", dass
man weiter den Bedrohten, den nur sich selbst
verteidigenden Staat spiele. Dieser Titel weist auch
auf die Art und Weise hin, in der der Tag der Shoah
zur Zeit begangen wird.
Neu ist allerdings,
dass es immer mehr empörte Stimmen gibt, die endlich
wahrgenommen haben, dass die israelische Bevölkerung
unaufhörlich in Angst versetzt wird. Schon der
berühmte israelische Schriftsteller David Grossmann
sagte anlässlich der Ermordung Itzak Rabins, dass
wir Israelis Opfer unserer Ängste seien. Seit der
Staatgründung, beginnend mit Ben Gurion, wurde diese
Angst manipuliert und ist zum hervorragend
funktionierenden Bestandteil unseres politischen
Systems geworden. Seitdem ich vor 65 Jahren in
dieses Land kam, frage ich mich, ob wir nicht durch
die permanenten Hinweise auf die Bedrohung diese im
Sinne einer self-fulfilling prophecy selbst
geschaffen haben.
Der berühmte
Philosoph und Schriftsteller George Santayana hat
den Satz geprägt: "Wer nicht aus der Geschichte
lernt, ist gezwungen, sie zu wiederholen." Jedes
Jahr gedenken wir am Tag der Shoah der schrecklichen
nationalsozialistischen Vergangenheit und
vergegenwärtigen uns dieses Inferno noch einmal für
24 Stunden. Damit soll selbstverständlich auch auf
die Gefahren der Zukunft hingewiesen werden. Die
Frage ist jedoch nicht so sehr, ob wir etwas
aus der Geschichte gelernt haben, sondern was
wir aus der Geschichte gelernt haben. Und wir haben
gelernt, dass wir wehrhaft sein müssen, damit uns
dasselbe Schicksal nicht noch einmal widerfährt,
aber wir haben daraus nicht die Schlussfolgerung
gezogen, dass wir Gerechtigkeit, Selbstbestimmung
und eine menschliche Behandlung auch anderen Völkern
zugestehen müssen. Es gab in der jüdischen
Geschichte schon einmal zwei Staaten, die durch die
Hybris der Gewalt und die Ignorierung des
prophetischen Geistes und der Bescheidenheit
untergegangen sind.
"Wirklich, ich lebe
in finsteren Zeiten" stellte Bertold Brecht in
seinem Gedicht "An die Nachgeborenen" fest, und mir
stellt sich die Frage, was das eigentlich für Zeiten
sind, in denen sorgenvolle Äußerungen über Israels
Politik und Zukunft als Antisemitismus angeprangert
werden. Ich muss gestehen, dass ich oft über das
Paradox nachgedacht habe, dass es ohne den Holocaust
wohl keinen Staat Israel gegeben hätte, aber diese
schreckliche Tatsache berechtigt uns nicht dazu, in
einer Weise zu handeln, die weder demokratisch noch
zivilisiert noch rechtschaffen ist.
In den vergangenen
40 Jahren habe ich oft mit dem Gedanken gespielt,
wie Émile Zola in seinem Brief an den französischen
Präsidenten ein "J'accuse" hören zu lassen. Da ich
nicht die literarischen Fähigkeiten eines Zola habe,
habe ich davon Abstand genommen. Nun, in meinen
letzten Lebensjahren, möchte ich es dennoch wagen:
Ich klage alle
israelischen Regierungen mit Ausnahme der nur zwei
Jahre währenden Regierung von Moshe Sharett an,
sich von dem jüdischen Geist entfernt zu haben, der
in dem Satz "Denn die Wege der Thora sind sanftmütig
und alle ihre Pfade sind Frieden." zum Ausdruck
kommt. Man hat von Frieden gesprochen, aber Kriege
geführt. Man hat den Plan zur Aufteilung des Landes
zwischen Juden und Palästinensern akzeptiert, aber
alles getan, um einen palästinensischen Staat zu
verhindern. In der Bibel sagt Abraham zu seinem
Neffen Lot: "Es soll kein Streit zwischen uns sein
[…]. Wir sind doch Brüder, und das Land ist groß
genug! Das beste ist, wir trennen uns." (Genesis 13,
8-9) Diese abrahamitische Botschaft haben wir uns
leider nicht zu eigen gemacht, wie wir überhaupt
Äußerungen der jüdischen Propheten aus den Augen
verloren haben.
Ich klage die
arabischen Politiker an,
die bis zu Sadats Besuch in Israel im Jahre 1977
voller Blindheit und Hass versuchten, die Juden zu
verunsichern und ihnen die Anerkennung zu
verweigern. Jeder, der meine Briefe und mein Buch
liest, weiß wohl, wie sehr ich unter dem Leiden und
der Herzlosigkeit leide, mit der die Palästinenser
behandelt werden. Dennoch zeigen sich auch bei ihnen
gefährliche nationalistische Züge, die in Ihrer
pauschalen Verurteilung des Zionismus zum Ausdruck
kommen. Die Ablehnung der Besatzung und der
Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts für
Palästinenser durch viele - auch neu gebildete -
Gruppen der (zionistischen) Friedensbewegung wird
nicht zur Kenntnis genommen. Man kann versuchen,
dies zu verstehen, aber man kann es nicht
rechtfertigen. Die Entwicklung, die sich auf Grund
von Fehlern auf beiden Seiten ergeben hat, kann
nicht ungeschehen gemacht werden, aber man könnte
versuchen, Tatsachen zu schaffen, die uns näher
zueinander bringen und uns ein friedliches
Nebeneinander ermöglichen.
Mit einem Zitat aus
meinem Buch "Der lange Weg zum Frieden" möchte ich
diese Idee konkretisieren: "Der jetzt hergestellte
Zustand, bei dem mein Volk drei Viertel des Landes
zwischen Mittelmeer und Jordan in Anspruch nimmt,
das palästinensische Volk aber nur ein Viertel, kann
nur ein temporärer Zustand sein, der die Weichen für
einen langen Weg des friedlichen Zusammenlebens
stellt. Ich würde mir wünschen, dass er in einer
Konföderation endet, in der Palästinenser und
Israelis in allen Teilen Palästinas leben können."
Ich klage die
demokratische und angeblich friedliebende Welt an,
die 65 Jahre lang zugeschaut hat, wie alle
Beschlüsse in Bezug auf die Zwei-Staaten-Lösung
unentwegt und rücksichtslos mit Füßen getreten
wurden.
Ich klage dieses
Deutschland an,
das sich in den letzten 60 Jahren reflexartig auf
die Seite einer israelischen Politik gestellt hat,
die den Palästinensern Selbstbestimmung und Freiheit
verweigert.
Ich rufe alle
wohlmeinenden Deutschen auf, trotz verständlicher
Posttraumata nicht den Fehler zu machen, jegliche
Kritik an der israelischen Politik als
Antisemitismus abzutun. Dieser Fehler spielt nur den
wirklichen Antisemiten in die Hände!
In Kürze wird es
eine neue Trauerzeremonie in Israel geben, nämlich
den "Tag der Erinnerung an die Gefallenen" in den
verschiedenen Kriegen und kriegerischen
Auseinandersetzungen vor und nach der Staatgründung.
Es ist herzzerreißend, dass so viele Menschen auf
dem Altar des falschen Glaubens geopfert wurden,
eines Glaubens, der nicht einen jüdischen Staat in
Palästina, sondern Palästina als jüdischen Staat
anstrebt.
Herzlichst Reuven
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