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Ein Mythos stirbt
Uri Avnery, 14.5.05

 

Seit zwei Wochen gibt es einen Aufruhr, und es ist kein Ende abzusehen. Israel ist bis ins Innerste erschüttert. Ist es wegen des hinausgeschobenen Abzugsplanes? Oder wegen des Mordes   von Demonstranten  bei der Protestdemo gegen die Mauer? Nein, es handelt sich um ein Lied.

 

Wie eine gläubige Christin hat Naomi Shemer auf ihrem Sterbebett die größte Sünde  ihres Lebens gebeichtet: die Melodie ihres unsterblichen Liedes „ Goldenes Jerusalem “ ist die Kopie eines baskischen Wiegenliedes, das sie vor Jahren von einem spanischen Sänger gehört hatte.

So wie sie erzählte, habe sie die Melodie nicht bewusst gestohlen, sondern habe sie unbewusst aufgenommen  und geglaubt, es sei ihre eigene. Es war, wie sie es nannte, ein „Arbeitsunfall“. Sie betonte auch extra, sie habe acht Noten  der Melodie verändert, so dass sie nach dem Gesetz das Recht auf  Lizenzgebühren hatte, die sie seit 38 Jahren kassierte.

Gut. So etwas kann jedem passieren. Man sieht oder hört etwas, das ins Unterbewusstsein sinkt. Und wenn es später wieder auftaucht, glaubt man, es sei die eigene Idee. Aber in diesem Fall geschah noch  Ernsthafteres: mehrfach wurde sie in der Vergangenheit nach der Ähnlichkeit der Lieder gefragt, und  sie reagierte ärgerlich, leugnete jede Ähnlichkeit und griff die Fragenden sogar an. Aber in ihrem Bekenntnisbrief, den sie einem nahen Freund am Vorabend ihres Todes sandte, gab sie zu, dass sie das schlechte Gewissen zutiefst quälte und dass dies vielleicht auch die Ursache ihrer tödlichen Krebserkrankung sei.

Bis zu diesem Punkt ist es wohl eine schmerzliche, aber keine sehr bedeutsame Geschichte. Einer Liedermacherin unterlief  ein Fehler; ihr Lied hat sich als Plagiat herausgestellt. Nur war  sie eben nicht irgendeine Liedermacherin und dies war eben  nicht irgend ein Lied.

Naomi Shemer ist ein Symbol für das, was – nostalgisch - „das schöne Israel“ genannt wird. Sie wurde in einem sozialistischen Kibbuz am See Genezareth geboren, und sie rühmte mit Worten und Musik die Landschaft des Landes. Selbst als sie einen extrem Rechten heiratete und eine Ikone dieser Richtung wurde, bewunderten die Linken sie weiter wegen ihrer Bescheidenheit, ihrer sympathischen Persönlichkeit und wegen der Qualität ihrer Lieder.

Doch das Lied war viel bedeutender  als die Liedermacherin. Nicht nur wegen seiner Qualität, sondern auch wegen seiner besonderen Geschichte.

 

Genau vor 38 Jahren, am Vorabend des Unabhängigkeitstages von 1967, nahm Shemer an einem israelischen Liederfestival teil. Für diese Gelegenheit schrieb sie das Lied – die Lyrik und die Musik – und bestand darauf, dass es von einer unbekannten jungen Sängerin gesungen wurde.  Eben einfach noch ein Lied in einem weiteren  Festival. Aber in dem Augenblick, in dem das Lied in der Halle und im Radio gehört wurde, geschah etwas. Es berührte alle, die es hörten, zutiefst.

Es wäre auch dann nur ein wunderbares Lied geblieben, wenn nicht der Sechs-Tage-Krieg ein paar Wochen später ausgebrochen wäre. Die israelische Armee eroberte Ost-Jerusalem, die Soldaten erreichten die Klagemauer, ( nach jüdischer Tradition ) Reste des jüdischen Tempels*. Israel wurde vom Siegesrausch, der von  halbreligiöser Mystik durchsetzt war,  mitgerissen.

Über Nacht  wurde das Lied „ Goldenes Jerusalem “  zum höchsten Ausdruck der Nationalgesinnung, zum Symbol des Sieges, der als Erlösung angesehen wurde.

 

Dies war eine Gelegenheit für mich. Ich war damals Knessetmitglied. Ich mag – gelinde ausgedrückt - unsere Nationalhymne nicht. Sie war vor mehr als hundert Jahren geschrieben worden und drückte die Sehnsucht der jüdischen Diaspora nach dem Land Israel aus. Es ist eher die Hymne einer zerstreuten religiös-ethnischen Gemeinschaft als die Hymne eines souveränen Staates.

 

Und was noch schlimmer ist, mehr als 20% der Bürger Israels sind keine Juden. Es ist nicht gut, wenn sich so viele Bürger  nicht mit der Hymne und der Flagge ihres Staates identifizieren können. Übrigens auch die Melodie der Nationalhymne HaTikva (die Hoffnung) war „ausgeliehen“ – aber nie hat dies jemand  zu verbergen versucht. Es ist ein rumänisches Hirtenlied mit einer Version, die in „Die Moldau“ erscheint, einer Symphonie des tschechischen Komponisten Smetana.)

Ich dachte, wenn ich Naomi Shemers Lied als Nationalhymne vorschlagen würde, dann könnte ich in der Lage sein, einen Konsens über die Veränderung der bestehenden zu erlangen. Ich war über  mehrere angehängte nationalistische Phrasen nicht glücklich, aber ich glaubte, dass wir dies mit der Zeit ändern könnten.

Ich brachte eine Gesetzesvorlage  mit eben diesem  Inhalt ein. Der Knessetpräsident bestand  darauf, dass ich das Einverständnis der Autorin einholen müsse. Also traf ich sie in einem Tel Aviver Cafe. Ich glaubte, bei ihr eine leises Zögern bemerkt zu haben, das ich erst jetzt  verstehe. Schließlich erlaubte sie mir, mitzuteilen, dass sie nichts gegen diesen Gedanken habe.

Über die Gesetzesvorlage wurde niemals abgestimmt, aber während all der Jahre erfreute sich das Lied „Goldenes Jerusalem“ des inoffiziellen Status einer zweiten Nationalhymne und besonders als der Hymne des Sechs-Tage-Krieges.

 

Das ist es, was den  augenblicklichen Aufruhr zu mehr als einem Skandal über ein Lied und  seine Autorin macht. Das Lied „Goldenes Jerusalem“ hat dasselbe Schicksal erlitten wie der Sechs-Tagekrieg (1967).

Diesem Krieg gingen drei Wochen mit zunehmender, nerven-aufreibender Angst und Sorge voraus, da die meisten Israelis – vom Knessetmitglied bis zum letzten Bürger – glaubten, der Staat und seine Bewohner seien in tödlicher Gefahr. Die Armeen Ägyptens, Syriens und Jordaniens waren anscheinend bereit, Israel von drei Seiten zu überfallen und es von der Erdoberfläche zu tilgen. Aber            die israelische Armee griff zuerst an, besiegte alle drei  und eroberte  nicht nur den Rest Palästinas, sondern auch noch die Sinaihalbinsel und die Golanhöhen.

Jahre später wurde den Historikern klar, dass für den Staat keine wirkliche Gefahr bestand, dass die Nachbarstaaten gar nicht die Absicht hatten, anzugreifen, sondern nur bluffen wollten, dass Israels Sieg kein Wunder gewesen ist, sondern das Ergebnis peinlichst genauer Vorbereitungen, besonders von Seiten der Luftwaffe. Aber der Mythos hat bis heute überlebt.

Während des Kampfes und in den folgenden Tagen sah es wie ein klassischer Verteidigungskrieg aus. Keiner dachte an eine lang andauernde Besatzung. Es war klar, dass  man uns zwingen würde, die besetzten Gebiete sehr bald wieder zu verlassen, wie es nach dem Sinai-Krieg (1956)  geschah. Die Frage war, wer sollte sie wem  zurückgeben: Die Regierung und die meisten Parteien dachten an Jordanien und Ägypten, während ich und diejenigen, die meine Ansicht teilten, einschließlich einiger Armeegeneräle, vorschlugen, sie dem palästinensischen Volk zu übergeben, damit es den palästinensischen Staat errichten könne. Bis das geschieht  - so glaubte man -  würden sie unter einer „freundlichen Besatzung“ leben.

 

Seitdem sind 38 lange Jahre vergangen. Die „freundliche Besatzung“ hat sich seit langem in ein brutales und hässliches Unterdrückungsregime verwandelt. Die Prophezeiung von Professor Yeshayahu Leibowitz, dass die Besatzung uns durch und durch korrumpieren  würde und uns in ein Volk von Ausbeutern und Geheimdienstleuten macht, hat sich schrecklich bewahrheitet. Nichts ist von dem „schönen Erez Israel“ geblieben außer  einer klebrigen Nostalgie, deren Bannerträgerin Naomi Shemer war.

 Ein kleiner und tapferer Staat, progressiv und (einigermaßen) egalitär, von der Welt geachtet, ist zu einem Staat von Besatzern und Plünderern geworden und in Geiselhaft  irrer Siedler, voll interner Gewalt und „schweinischem Kapitalismus“ ( einem  von Shimon Peres geprägten Ausdruck,  und dabei  ist er einer von denen, die am meisten für diese Situation verantwortlich sind.)

 

Rund um die Welt gewinnt die Idee, Israel zu boykottieren,  immer mehr Anhänger.

Was seinerzeit wie ein göttliches Wunder aussah, sieht jetzt eher wie ein Pakt mit dem Teufel aus.

 

Israel ist ein Land, das auf vielen Symbolen und Mythen aufgebaut wurde. Was könnte symbolischer sein als die Zerstörung des Mythos vom Sechs-Tage-Krieg, dem nun der Kollaps des Mythos vom „Goldenen Jerusalem“ folgt, dem Kriegssymbol in Liedform.

 

*Archäologisch gesehen, ist die sog. Klage- oder Westmauer ein Rest der Stützmauer des von König Herodes erweiterten Tempelplatzes

 

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs , vom Verfasser autorisiert)

 

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