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Überlebensinstinkt oder jüdische Paranoia?
Avigail Abarbanel
 The Electronic Intifada, 18.Januar 2009

 

Gegen Ende 2002 veröffentlichten Yonatan Shapira, ein früherer „Black Hawk“-Hubschrauberpilot, und einige seiner Kollegen einen „Brief der Piloten“, in dem sie feststellten:

   

 „Wir, ehemalige und aktive Piloten, die dem Staat Israel alljährlich während langer Wochen dienten und (teilweise) immer noch dienen, lehnen es ab, illegale und unmoralische Befehle zu Angriffen, die der Staat Israel in den besetzten Gebieten durchführt, zu befolgen.

    Wir, die wir in Liebe zum Staat Israel erzogen wurden, um unseren Beitrag zum zionistischen Projekt zu leisten, weigern uns, an Angriffen unserer Luftwaffe auf dicht besiedelte Wohngebiete teilzunehmen.

    Wir, für die die IDF ( Israeli Defence Forces) und die Luftwaffe ein Teil unserer selbst sind, weigern uns, weiterhin unschuldige Zivilisten anzugreifen.

    Solche Aktionen sind ungesetzlich und unmoralisch. Sie sind die unmittelbare Folge der fortwährenden Besatzung, die die israelische Gesellschaft als ganze korrumpiert.

    Die anhaltende Besatzung versetzt der Sicherheit des israelischen Staates und seiner moralischen Stärke einen tödlichen Schlag.“

 

Dieser Brief erschien nach einer Serie von Angriffen auf die dicht besiedelte Enklave von Gaza. Der letzte Anstoß für Shapira und seine Kollegen war der Auftrag, „eine Ein-Tonnen-Bombe ( gleich 100 Selbstmordbomben ! ) auf ein Haus im Al-Deredg-Viertel, einer der dichtest bevölkerten Gegenden Gazas, ja der ganzen Welt, abzuwerfen.“ Shapira beschrieb, wie er und andere Piloten während und nach diesen Operationen nachts nicht schlafen konnten, und dies trotz des Hinweises von Dan Halutz, des damaligen Oberbefehlshabers der Luftwaffe, „..daß alles im Zusammenhang mit diesem Auftrag nach meinem moralischen Kompaß gerechtfertigt ist...“ und trotz seiner beruhigenden Worte: „Schlaft gut heute Nacht...ihr habt den Auftrag perfekt ausgeführt.“

 

Am 11. Januar 2009 nahm Shapira an einer Sendung des israelischen Rundfunks teil, in der man ihn dem Piloten Ye’ohar Gal, einem Oberstleutnant der israelischen Luftwaffe, gegenüber stellte. Dieser hatte Folgendes zu sagen:

 

„Ich meine, wir sollten entschiedener vorgehen. Dresden, Dresden. Eine Stadt zerstören. Schließlich wurde uns doch beigebracht, dass die Kriegsführung sich verändert hat. Es geht nicht mehr um dröhnende Panzer, wir stoßen nicht mehr auf reguläre Truppen. Raketen zielen auf Wohngebiete. Das hat nicht erst heute oder gestern begonnen. Das ist die Lage seit über einem Jahrzehnt.

 

Die arabischen Staaten haben erkannt, daß es sehr schwer, wenn nicht gar unmöglich ist, uns auf dem Schlachtfeld zu besiegen. Also haben sie ihre Kampfstrategie geändert. Der Kampf findet nun zwischen der alten Frau in Jabaliya und der alten Frau in Sderot oder Ashdod statt. Das ganze Volk, von der alten Frau bis zum Kind, ist jetzt die Armee. Eine Armee, die kämpft.

 

Ich bezeichne die Palästinenser als Volk – obwohl ich sie eigentlich nicht als solches sehe. Ein Volk bekämpft das andere Volk. Zivilisten kämpfen gegen Zivilisten. Ich sage dir, daß wir als Söhne von Holocaustüberle- benden wisssen müssen, daß diese Erfahrung die Essenz unseres Leben ist : keiner wirft mehr einen Stein auf uns. Ich spreche nicht von Raketen. Keiner wird mehr einen Stein auf uns werfen, bloß weil wir Juden sind.

 

Und Yonatan (Shapira) ist einer von denen, die ihren Überlebensinstinkt verloren haben. So einfach ist das. Er begreift nicht, dass hier zwischen Leuten wie ihm und Leuten wie mir ein Kampf der Kulturen ausgetragen wird. Er kämpft für den Frieden. Ich will, genau wie er, auch Frieden … Ich will, dass  die Araber aus Gaza nach Ägypten fliehen. Das will ich. Ich will die Stadt zerstören. Nicht unbedingt ihre Bewohner.

 

Um es glasklar zu machen:          Niemand wird uns beschießen. Es wird keine  Kugel von Gilo nach Jerusalem, keine Rakete von Gaza nach Sderot fliegen. Ich werde nicht hinnehmen, dass der Feind  auch nur eine einzige Kugel auf uns abschießt. Sobald der Feind das Feuer auf mich eröffnet, gebietet mir mein Überlebensinstinkt, ihn zu vernichten, ihn zu besiegen. Wenn wir Hamas  n i c h t  besiegen – unsere Abschreckungsfähigkeit gegenüber den arabischen Staaten, die ja auch darauf aus sind, uns auf die eine oder andere Weise zu vernichten  -  wehe uns, wenn wir diese Kluft  zwischen uns und ihnen nicht bewahren.“ [1]

 

Ich habe oft über das jüdische Trauma und seine Auswirkungen auf die israelische Weltsicht im Allgemeinen und das Verhalten gegenüber den Palästinensern im Besonderen geschrieben.

Ich habe den Eindruck, daß die Menschen an meiner psychologischen Sicht auf den (Palästina-) Konflikt nicht sonderlich interessiert sind. Die Mainstream-Medien scheinen rein politische oder ökonomische Analysen vorzuziehen, und das lese ich auch in den meisten Zeitungen und sehe es bei Fernsehsendern wie der BBC oder der australischen ABC oder SBS. Aber Gals Gefühle, die weitgehend ein Echo der israelischen Medien und der Öffentlichkeit sind – ich höre israelischen Rundfunk, lese israelische Zeitungen und Blogs und korrespondiere mit Israelis -, beweisen einmal mehr, daß es hier nicht einfach um Politik geht, sondern um Psychologie, genauer gesagt: um die Psychologie des jüdischen Traumas. Dieses Trauma geht dem Holocaust voraus und führt direkt zurück zu den frühen jüdischen Erzählungen über die jüdische Identität, direkt zurück zu den Geschichten des Alten Testaments.

 

Gal meint, daß Yonatan seinen „Überlebensinstinkt“ verloren hat, aber das, was er Überlebensinstinkt nennt, bezeichne ich als trauma-bedingte jüdische Paranoia. Shapira und ich haben, zusammen mit einer wachsenden Zahl jüdischer Friedensaktivisten innerhalb und außerhalb Israels, unsere jüdische Paranoia hinter uns gelassen. Gottseidank ist uns das gelungen, denn das bedeutet, daß wir vom jüdischen Trauma geheilt sind. Das Ergebnis ist, daß wir gesündere, friedlichere Menschen sind, die die Welt nicht mehr ausschließlich als feindlich sehen. Wir denken grundsätzlich nicht mehr in Kategorien wie: „ Es ist gut für die Juden oder nicht“. Wir glauben nicht, daß der Zweck unseres Daseins darin besteht, (die Existenz) des jüdischen Volk zu bewahren (preserve), und wir können als Gleiche zusammen mit Nicht-Juden für den Frieden arbeiten. Wir verbringen auch nicht jeden wachen Moment - so wie man es uns beigebracht hat - in Angst vor Antisemitismus. Wir wissen, daß er, so wie andere Formen des Rassismus auch, existiert, aber wir erlauben ihm nicht, darüber zu bestimmen, wer wir sind, was wir tun, oder was wir über uns und andere denken und fühlen. Frei zu sein vom jüdischen Trauma, bedeutet, frei zu sein von der Angst vor Antisemitismus.

 

Zionistische Juden meinen, ich sei verrückt geworden, weil ich den Antisemitismus nicht fürchte und mich weigere, mich auf ihn zu konzentrieren, aber  i c h  meine, ich bin gesund geworden. Ich habe mal eine E-mail von einem Israeli bekommen, der mir schrieb: „Sie sind naiv und dumm, aber dessen ungeachtet, wenn  s i e  schließlich kommen, um Sie zu holen, werden Sie angerannt kommen, und wir werden Sie mit offenen Armen aufnehmen“, worauf ich antwortete: „Danke, aber meine Zeit in Israel ist vorbei, ich werde mein Glück lieber woanders suchen.“

Ihn überzeugen zu wollen, dass niemand kommen wird, um mich abzuholen, war sinnlos.

 

Es handelt sich hier nicht etwa um die abwegigen Ansichten eines einzelnen. In ihnen spiegeln sich die Gefühle der Mehrheit der israelischen Juden und der meisten zionistischen Juden wider. Selbst gebildete Menschen empfinden so. Weil wir Opfer des Antisemitismus wurden, können wir uns nie entspannen und müssen stets wachsam sein für den Fall, dass ein neuer Feind der Juden auftaucht, um uns zu vernichten.

 

Mit einem Trauma zu leben, ist schrecklich und führt geradewegs zu den Ansichten und Gefühlen, die Gal zum Ausdruck brachte und zu den Verbrechen, die Israel gegenwärtig (in Gaza) begeht. Ein Trauma, das ja das Ergebnis von Verletzungen in der Vergangenheit ist, kann zu dem Glauben führen, dass alle dich hassen und dich vernichten wollen – jetzt, immer und nicht nur in der Vergangenheit. Manche Menschen reagieren auf das Trauma, indem sie aggressiv werden und anderen Schrecken einjagen, um sicher zu stellen, dass es ihnen nie wieder passiert. So wie Gal, der sagt: „Keiner wird mehr einen Stein auf uns werfen, bloß weil wir Juden sind.“

 

Dies ist eine menschliche Reaktion auf das Opfersein, und als Psychotherapeutin verstehe ich das. Jeder kann das Bedürfnis, nicht wieder verletzt zu werden, verstehen, aber die Frage ist, zu welchem Preis für einen selbst und für andere? Mit der festen Entschlossenheit, nicht wieder verletzt zu werden, geht oft die Wahrnehmung einher, dass man selbst „im Recht“ ist und „besser“ als die anderen. Darüber hinaus wird das frühere Opfer das Überleben als den höchsten, alles andere überragenden Wert ansehen. Es macht mich traurig, feststellen zu müssen, dass die Identität des jüdischen Volkes völlig auf das Überleben gegründet ist. Mindestens drei wichtige jüdische Feiertage beruhen auf der Geschichte eines blutigen Sieges über einen Feind, der die Juden zu vernichten suchte: Passah, Purim und Hanukah. Ich habe vor Jahren aufgehört, diese Feste zu feiern, weil ich ihre ursprüngliche Bedeutung als ungut aggressiv empfinde.

 

Wenn sich das Leben nur ums Überleben dreht, bleibt nicht viel Energie für irgend etwas anderes. Soweit wir das menschliche Gehirn verstehen, wissen wir, dass ein Leben im Glauben, man sei ständig existentiell  bedroht, zum Tunnelblick führen kann, zu kurzfristigem Denken, zu einem Mangel an Mitgefühl, zu Dauerstress. Und dies führt letztlich zu einer isolationistischen Mentalität und der Unfähigkeit, den anderen als Menschen wahr zu nehmen. Genau das ist Israel im Jahr 2009.

 

Man beachte, dass Gal sagt: „..bloß weil wir Juden sind.“  Und dies ist ein weiteres Problem, das mit dem Trauma einhergeht. Es führt zur Blindheit. Israelis akzeptieren nicht, dass ihr Problem mit den Palästinensern durch die Besatzung hervorgerufen wurde. Sie glauben tatsächlich, dass die Palästinenser  deshalb wütend auf sie sind und sie deshalb angreifen, weil sie  J u d e n  sind. Die meisten Israelis wissen nicht einmal, dass Israel 1948 eine ethnische Säuberung durchgeführt hat. Die meisten Israelis sind im tiefsten Innern überzeugt, dass Israel in dieser Geschichte der „Gute“ ist, der nichts Böses getan hat, der kleine schwache David, der sich einem gigantischen antisemitischen Goliath gegenüber sieht. Für viele Israelis sind die Palästinenser nicht vergleich- bar mit den Nazis, sie  s i n d  die Nazis, die mächtigen, unmenschlichen, gesichtslosen, zielstrebigen, psychopathischen Mörder, die entschlossen sind, die Juden, weil sie Juden sind, zu vernichten. Wenn Israelis Palästinenser töten, töten sie immer wieder aufs Neue Pharaoh und seine Armee (Passah), Hamman und seine zehn Söhne (Purim) und die griechische Besatzungsarmee (Hanukah).

 

Die Palästinenser sind die Adressaten einer zweitausendjährigen unaufgelösten Wut, die mehr mit der Vergangenheit als mit der Gegenwart zu tun hat. In der Therapie nennen wir das „fehlgeleitete Wut“ (misplaced anger).  Aber ich schätze, es ist angenehmer für Israelis, die palästinensische Wut auf den Antisemitismus abzuschieben, als  Verantwortung für die eigene  Geschichte zu übernehmen.

 

Die Fragen, die eine solche Betrachtung des Konflikts durch die Linse des jüdischen Traumas aufwirft, sind sehr schwerwiegend. Wie sollen wir damit umgehen? Können wir den Israelis begreiflich machen, dass ihre Sicht des Leben und des Konflikts äußerst verzerrt ist?  Werden sie zuhören, wenn wir es versuchen, und haben die Palästinenser ausreichend Zeit, darauf zu warten, dass sie es (endlich) tun? Ich bin in Israel geboren und in einer jüdischen Familie aufgewachsen und weiß daher aus eigener Erfahrung, dass diese Weltsicht sehr mächtig ist und tief in die eigene Identität eingepflanzt ist. Sie aufzugeben, bedeutet, alles in Frage zu stellen, wovon man überzeugt war, und das ist schmerz lich. Für mich war es sehr schmerzlich. Aber den Preis dafür, es  n i c h t zu tun, sehen wir gerade in Gaza, und die Palästinenser zahlen ihn schon sehr lange, für gewöhnlich unbemerkt von den aufmerksamen Augen der Welt.

 

Es hilft nichts, dass Israel in den USA einen mächtigen Freund hat, ein Land, dessen kollektive Geisteshaltung derjenigen Israels sehr ähnelt. Solange die USA Israels Blindheit ermöglichen, indem sie jede gegen Israel gerichtete Entscheidung im UN-Sicherheitsrat durch ihr Veto verhindern, indem sie Israel finanziell und militärisch unterstützen, wird es für die israelische Führung keinen Grund geben, ihre Wahrnehmung der Realität in Frage zu stellen. Israel braucht wirkliche Freunde, die es mit „hartnäckiger Liebe“ (tough love) vor sich selbst schützen können, die  ihm helfen können zu sehen, was zu sehen es selbst nicht fähig ist. Nachsicht gegenüber Israels Trauma und Blindheit kostet das Leben und das Wohlergehen der Palästinenser und ist unentschuldbar.

 

Gal denkt, Shapira habe keinen Überlebensinstinkt, aber da irrt er. Shapira und andere tun, was sie machen, weil sie wissen, dass Israels Überleben durch sein eigenes Handeln, seine eigene Psyche gefährdet ist, nicht durch die Palästinenser oder sonst jemanden. Sie fürchten nicht, dass Israel angegriffen wird, oder dass die Israelis „ins Meer getrieben werden“. Sie sind besorgt wegen der sozialen, emotionalen und geistigen Kosten für eine Gesellschaft, die eine der schlimmsten ethnischen Säuberungen der modernen Geschichte zu verantworten hat.

Israel fällt von innen her auseinander, verliert seine Humanität, seine Würde und seine Identität  - und sie wissen es.

 

Gideon Levy hat kürzlich in Ha’aretz gefragt:

„Wenn die Israelis sich der Gerechtigkeit ihrer Sache so sicher sind, warum zeigen sie sich dann so aggressiv intolerant gegenüber jedem, der versucht, einen anderen Standpunkt einzunehmen?“

 

[1] Transkribiert von Eyal Niv, Übersetzung von Tal Haran.

 

 

Übersetzung: Jürgen Jung

 

Avigail Abarbanel (http://www.avigailabarbanel.me.uk/) ist geboren und aufgewachsen in Israel. Die zweijährige Wehrpflicht machte sie zur Pazifistin. Im Alter von 27 ging sie nach Australien und ist seit 2001 Aktivistin für die Rechte der Palästinenser. Sie führt eine private Praxis als Psychotherapeutin in Canberra.

 

  

             Münchner Koordinationskreis Israel/Palästina.   Kontakt: Jürgen Jung, Bachgrund  5, 85276 Pfaffenhofen

 

 

 

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