„Hass säen und Tod ernten“
Rede von Rami Elhanan am Abend des Alternativen Gedenktages der
Kämpfer für den Frieden. 18.4.2010
Mein Name ist Rami Elhanan. Vor 13 Jahren, am Nachmittag des
Donnerstags am 4. September 1997 verlor ich bei einem
Selbstmordattentat in der Ben-Yehuda-Straße in Jerusalem meine
Tochter Samadar. Ein bildhübsches 14jähriges Mädchen. Meine Samadar
war die Enkelin des Friedenskämpfers General Matti Peled, einer von
jenen, die den Durchbruch für einen israelisch-palästinensischen
Frieden schafften. Und sie wurde ermordet, weil wir nicht klug genug
waren, ihre Sicherheit in der Weise von Matti zu bewahren, dem
einzigen und möglichen Weg – dem Weg des Friedens und der
Versöhnung.
Ich brauche keinen Gedenktag, um mich an Samadari zu erinnern. Ich
denke die ganze Zeit an sie – 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag,
60 Sekunden in einer Minute. Ohne Pause, ohne Ruhe seit 13 langen,
verwünschten Jahren jetzt – und die Zeit heilt die Wunden nicht…
Aber die israelische Gesellschaft benötigt dringend Gedenktage. Von
Jahr zu Jahr wird sie in der Woche nach Pessach in das jährliche
Ritual gezogen: vom Holocaust zur Wiedergeburt des Staates, ein Meer
von Feierlichkeiten, Sirenen und Lieder – ein ganzes Volk wird in
einen Strudel von süchtig machender Traurigkeit gefegt …gegenseitige
Umarmungen werden von „Besatzungsliedern“, von „Schwert- und
Sichelliedern“ (1) begleitet auf dem Hintergrund von Bildern des
Lebens, das abgeschnitten wurde, und auf dem Hintergrund von
herzzerreißenden Geschichten …es ist schwierig, das Gefühl zu
vermeiden, dass diese Konzentration auf den schmerzlichen Verlust
…dafür gedacht ist, unser Gefühl des Opferseins, das der
Gerechtigkeit auf unserm Weg und in unserm Kampf uns an unsere
Katastrophen erinnert, die wir nicht einem Moment vergessen sollten.
Das ist der Sinn unseres Lebens – bewaffnet zu sein und bereit,
stark und entschlossen, damit das Schwert nicht aus unserer Hand
fällt und unser Leben abgeschnitten wird. (2)
Und wenn all diese große Traurigkeit sich im Rauch des abendlichen
Barbecue (3) auflöst, wenn die Israelis zu ihrer täglichen Routine
zurückkehren, bleibe ich in großer Traurigkeit zurück. Ich vermisse
das alte, gute Land Israels, das nie existierte und ich habe Gefühle
der Entfremdung, die von Jahr zu Jahr, von Krieg zu Krieg, von Wahl
zur Wahl, von Korruption zu Korruption zunimmt.
Ich denke über die Stationen meines Lebens nach, an die lange Reise,
die ich auf dem Weg zur Selbstfindung, meines Israeli-Sein, meines
Jüdisch-Seins und meiner Menschlichkeit unternommen habe. Über die
Lichtjahre, die ich gereist bin: als junger Mann, der vor 37 Jahren
in einer Panzerkompanie auf der andern Seite des Suez-Kanals
kämpfte, von dem jungen Vater, der vor 28 Jahren durch die Straßen
des bombardierten Beirut ging; es kam mir überhaupt nicht in den
Sinn, dass die Dinge auch anders verlaufen könnten. Ich war das
reine Produkt eines pädagogischen und politischen Systems, das mich
gehirngewaschen und mein Gewissen vergiftet hat und mich und
andere meiner Generation als Opfer auf dem Altar des Heimatlandes
vorbereitete – ohne überflüssige Fragen, im unschuldigen Glauben,
dass wenn wir es nicht tun, dann würden sie ( die Araber) uns – die
zweite Generation nach dem Holocaust – ins Mittelmeer werfen.
Seitdem sind fast 40 Jahre vergangen, und jedes Jahr bekommt diese
Aufrüstung als Opfer … weiter einen Riss. Die Selbstgerechtigkeit
und das Gefühl der Erbärmlichkeit verbreitet sich, und die Mauer,
die mich von der anderen Seite der Geschichte trennt, zerbröckelt.
Als Yitzhak Frankenthal mich vor 12 Jahren ins Forum trauernder
Familien (Bereaved Family Forum) rief, war ich zum ersten Mal in
meinem Leben der bloßen Existenz der anderen Seite ausgesetzt. An
diesem Tag – ich schäme mich es zu sagen - begegnete ich das erste
Mal in meinem Leben ( ich war 47) Palästinensern als normalen
Menschen, die mir sehr ähnlich waren, mit dem selben Schmerz,
denselben Tränen und denselben Träumen. Das erste Mal in meinem
Leben stand ich der Geschichte, dem Schmerz und der Angst gegenüber
und auch dem Edelmut und der Menschlichkeit der „anderen Seite“ –
wie man bei uns sagt.
Der Höhepunkt dieser Reise war das Treffen zwischen mir und meinem
Bruder , dem „Terroristen“, der sieben Jahre in einem israelischen
Gefängnis saß, dem Friedenskämpfer Bassam Aramin, der uns u.a.
folgende bewegende Worte schrieb:
„Liebe Nurit und lieber Rami, ich fühle mich an diesem traurigen
Tag, dem Jahrestag des Todes eurer schönen Tochter wie ein Bruder
von euch. Das ist zweifellos einer der traurigsten Tage. Und seit
dem Augenblick, wo wir uns trafen, hatte ich nicht den Mut, euch
darüber zu schreiben, aus Sorge, dass ich euren Herzen noch mehr
Sorge und Schmerzen bereite. Ich dachte, die Zeit würde diese tiefe
Wunde heilen. Aber nachdem ich selbst diesen bitteren Kelch
getrunken habe, den Ihr vor mir getrunken habt, als meine Tochter
Abi am 16. Januar 2007 ermordet wurde, verstehe ich, dass Eltern
niemals vergessen können. Wir leben unser Leben auf besondere Weise,
wie es andere nicht kennen und ich hoffe, dass niemand anders –
Palästinenser oder Israelis – gezwungen wird, dies kennen zu
lernen…“
Heute ist meine Wahrnehmung beider Seiten völlig anders als vor 40
Jahren.
Für mich ist die Linie, die die beiden Seiten trennt, heute nicht
zwischen Arabern und Israelis oder Juden und Muslimen. Heute ist die
Linie zwischen denen, die Frieden wollen und bereit sind, dafür
einen Preis zu zahlen und den übrigen, die das nicht wollen. Sie
sind die andere Seite. Und heute besteht diese andere Seite - zu
meinem Entsetzen – aus korrupten Politikern und Generälen, die uns
führen und sich wie eine Maffiabande benehmen, aus
Kriegsverbrechern, … die Hass säen und Tod ernten.
Aber an diesem Abend will ich vor allem zu denen sprechen, die
dazwischen sitzen, die auf dem Zaun sitzen und uns vom Rand
beobachten, ich möchte zur übersättigten israelischen
Öffentlichkeit reden, die nicht den Preis der Besatzung bezahlt, der
Öffentlichkeit, die ihren Kopf in den Sand steckt und nichts wissen
will, die in einer Seifenblase lebt, TV schaut, in Restaurants isst,
in Ferien geht und sich eines guten Lebens erfreut und sich nur nach
den eigenen Interessen richtet, geschützt von den Medien, die
helfen, die bittere Realität vor ihr zu verbergen, die Realität, die
nur wenige Meter von ihrem Leben entfernt liegt: nämlich die
Besatzung, der Diebstahl des Landes und der Häuser, die tägliche
Schikane, Unterdrückung und Demütigung, die Checkpoints, die
verabscheuungswürdige Blockade des Gazastreifens, die Abwässer (
der jüdischen Siedlung) auf den Straßen des palästinensischen
Ortes Anata …
An
diesem Abend will ich mich besonders an das linke Publikum in allen
seinen Schattierungen wenden, an die, die desillusioniert und zornig
sind, an die, die mit Teilnahmslosigkeit, mit Verzweiflung und
Schwäche belastet sind, an die, die sich in sich selbst verschließen
und Freitagabend murren, aber nicht mit uns in diesem schweren Kampf
gegen den aggressiven Krankheitserreger der Besatzung engagiert
sind, die die Menschlichkeit in uns allen zu zerstören droht. Und an
diesem Abend, dem Abend des Gedenktages für die Toten auf beiden
Seiten möchte ich sie bitten, sich uns in unserm Krieg gegen dieses
fatale Leid anzuschließen. Ich möchte ihnen sagen, wer daneben
stehen bleibt ( und nichts tut) ist ein Komplize des Verbrechens!
Ich möchte ihnen sagen, dass es viele gibt, die nicht bereit sind,
angesichts des Bösen, der Dummheit, fehlender Verantwortlichkeit und
Gerechtigkeit zu schweigen.
Ich möchte ihnen von den wahren anonymen Helden unseres dunklen
Zeitalters erzählen.
Über jene, die bereit sind, einen hohen persönlichen Preis für ihre
Ehrlichkeit und Anständigkeit zu zahlen, und jene, die es wagen,
sich mit seltenem und bewundernswertem Mut vor die Bulldozer zu
stellen, ‚die Verweigerer’, die nein zum allgegenwärtigen
Militarismus sagen, die ‚Kämpfer für den Frieden’, die ihre Waffen
wegwerfen zugunsten eines gewaltfreien Widerstandes, die
entschlossenen Demonstranten, die jedes Wochenende in Bilin, in
Nilin, in Sheikh Jarrah und Silwan gegen den Terror der Polizei und
der Armee vorgehen, die Anwälte, die jeden Tag im
Ofer-Militärgericht und im Obersten Gericht kämpfen, der heroische
Kampf der MachsomWatch-Frauen, die Friedensaktivisten vom Ausland
wie die verstorbene Rachel Corrie, die ihr Leben gab, und auch jene,
die Verbrechen und Mittäterschaft verraten, von Anat Kam bis Gideon
Levy und Akiva Eldar und auch die Friedensorganisationen beider
Völker und besonders die trauernden palästinensischen und
israelischen Familien, die trotz ihrer Tragödien das Wunder der
Versöhnung fertig bringen.
Je
dunkler der Himmel wird, um so sichtbarer werden diese leuchtenden
Sterne in der Finsternis.(4) Je unklarer und übler die Unterdrückung
wird, um so mehr retten sie mit ihrem Heldentum die Ehre und die
Menschlichkeit von uns allen!
Und heute benötigen wir dringend eine Erweiterung der Kreise, die
gewaltfrei gegen die Besatzung opponieren! Heute Abend rufe ich von
hier und aus der Tiefe meines Herzens: verlasst eure Seifenblase!
Liegt der Besatzung, die belästigt, irritiert und schikaniert,
ständig in den Ohren und lasst nicht das Dreckspack sich still
durchsetzen. Lasst nicht die andere Seite die Zukunft von uns allen
stehlen! Lasst nicht die andere Seite länger die Sicherheit der uns
verbliebenen Kinder gefährden!
Danke.
-
Lied der
Nahal-Brigade
-
Moshe Dayans
Nachruf auf Roi Rutenberg 19.4.56
-
Israelis haben
am Abend des Unabhängigkeitstages ein Barbecue
-
Martin Luther
King
(dt. und geringfügig gekürzt. Ellen Rohlfs)
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