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Entscheidet sich die Zukunft
Palästinas im September 2011 ?
Jeff Halper
14. April 2011,
www.icahd.org
Wenn die
Generalversammlung der Vereinten Nationen Ende September auf der
Ebene der Staats- und Regierungschefs tagt, steht möglicherweise auf
ihrem Programm die Anerkennung eines Staates Palästina in den
Grenzen von 1967. Das könnte für den palästinensischen
Befreiungskampf ein entscheidender Moment sein – oder auch nicht.
Für Ehud Barak, den israelischen Verteidigungsminister, wäre es „ein
diplomatischer Tsunami für Israel“; Ali Abunimah, der bekannte
palästinensisch-amerikanische Kommentator, nennt es eine
„Nebenvorstellung“, eine „raffinierte Farce“. Bislang gibt es unter
Aktivisten kaum oder wenig Diskussion darüber, ob das Ganze wichtig
oder unwichtig ist, und ob und wie man dafür mobilisieren sollte.
Einige
Schlüsselereignisse im Vorfeld verdienen Beachtung.
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Am 15.
April hätte das Nahostquartett (USA, Europa, Russland und UN) in
Berlin zusammentreten sollen, um bei diesem bereits verschobenen
Termin zum letzten Mal zu versuchen, die Friedensverhandlungen
wieder in Gang zu bringen. Dazu kam es nicht. Die USA zeigten sich
unfähig, Druck auf Israel auszuüben, damit es wenigstens minimalen
Forderungen zur Wiederaufnahme der Gespräche zustimmte:
Siedlungsstop und eine klare Agenda für die ausstehenden Fragen,
nämlich Grenzen und Souveränität, Jerusalem, die Flüchtlinge, Wasser
und Sicherheit. Großbritannien, Frankreich und Deutschland waren
darüber so frustriert, dass sie eine handfeste Erklärung zu den
Siedlungen vorbereiteten. Daraufhin sagten die USA das Treffen
kurzerhand ab mit der Erklärung, jetzt sei nicht die richtige Zeit
dafür.
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Es
besteht keine Aussicht auf eine neue israelische Friedensinitiative
(Bar Ilan 2), Termine für weitere Treffen des Nahost-Quartetts sind
nicht vorgesehen. Fazit: die „Verhandlungen“, die vor zwanzig Jahren
in Madrid begonnen hatten, sind endgültig am Ende.
Das hat sein Gutes.
Der „Verhandlungsnebel“ verzieht sich. Im Rahmen eines sinnlosen,
endlosen „Friedensprozesses“ hatte er stets nur einem Zweck gedient:
die israelische Besatzung zu verlängern. Die Absage der Sitzung des
Quartetts am 15. April durch die Amerikaner ist bezeichnend (und
heuchlerisch), wenn man bedenkt, dass die USA im März ihr Veto gegen
eine Resolution des Sicherheitsrats über den geforderten
Siedlungsstop damit begründet hatten, dass Verhandlungen der einzige
Weg seien, den Konflikt zu beenden. Richtiger Weise wäre die Antwort
der anderen drei Quartett-Mitglieder darauf gewesen, formell zu
erklären, der „Friedensprozess“ sei beendet. Damit hätten sie den
Weg zur einzigen Alternative freigemacht - die Aufnahme Palästinas
innerhalb anerkannter Grenzen als Mitglied der Vereinten Nationen im
kommenden September. Eine solche offizielle Erklärung wird es nicht
geben. Umso wichtiger ist es, dass die Palästinenser klar und
deutlich machen, dass der Zusammenbruch der Verhandlungen auf Konto
Israels geht. Nur so können sie die Voraussetzungen für die
Ausrufung eines unabhängigen Staates im September schaffen.
Indessen gibt es noch
einige weitere Stolpersteine auf dem Weg zu einer Aufnahme in die
Vereinten Nationen. Noch im Mai wird Netanyahu zum zweiten Mal bei
einer gemeinsamen Sitzung von Senat und Repräsentantenhaus in
Washington sprechen. Für ihn ist das ein Heimspiel: Demokraten und
Republikaner, Liberale, Konservative und die christlichen Zionisten
von der Tea-Party – sie hören auf ihn. Der amerikanische Kongress
ist Israels Trumpfkarte. Netanyahu ist mit Recht überzeugt, dass der
Kongress die Obama-Regierung davon abhalten wird, Israel
unverhältnismäßig unter Druck zu setzen. Der Kongress wird es nicht
zulassen, dass ein Beschluss für einen Palästinenserstaat vor die UN
gelangt; und sollte das doch passieren, wird er mit Sicherheit ein
weiteres US- Veto durchsetzen.
Ende Mai soll eine
neue Freiheitsflotte, fünfzehn Schiffe mit Aktivisten aus mehr als
zwanzig Ländern, versuchen, die israelische Blockade von Gaza zu
durchbrechen. Schon hat die israelische Regierung die UN und die
internationale Gemeinschaft aufgefordert, das Unternehmen zu
stoppen. Vor ein paar Tagen hat Israel allerdings zu verstehen
gegeben, es könnte den Schiffen vielleicht sogar den Weg nach Gaza
freigeben. Anzeichen für Israels zunehmende Ratlosigkeit, während
der September näher rückt.
Zweifellos wird es
noch andere schwache Versuche geben, den September-Plan zum
Entgleisen zu bringen. Netanyahu, der meint, es gebe nichts zu
verhandeln, zieht einen einseitigen Rückzug israelischer Truppen von
Teilen der Westbank und die Überlassung von etwas mehr Land an die
palästinensische Autonomiebehörde in Erwägung. Wahrscheinlicher ist,
dass Israel versuchen wird, den Lauf der Dinge durch einen Angriff
auf Gaza zu stören – in israelischen Regierungskreisen ist schon
offen die Rede von Operation „Gegossenes Blei“ Nr.2. Oder aber, als
ultimatives Störmanöver, ein Angriff gegen Iran.
Die Palästinensische
Autonomiebehörde hat es all die Jahre versäumt, ihre wichtigsten
Ressourcen und Verbündeten zu mobilisieren, die Graswurzel-
Aktivisten in aller Welt. Jetzt müsste sie ihnen sagen, wo es
langgeht. Wir haben ja keine Ahnung, wo die PA hin will. Fayyad, der
nicht gewählte Premierminister, hat erklärt, im September werde er
sich um Aufnahme Palästinas in die Vereinten Nationen bemühen, die
Krönung seines Zweijahresplans zur Errichtung eines
Palästinensischen Staates „von unten.“ Abbas ziert
sich. Manchmal gibt
er zu verstehen, die Ausrufung des Staates sei der einzige Weg
vorwärts, dann wieder lehnt er solch einen Schritt ausdrücklich ab.
Das Treffen des
Nahost-Quartetts am 15. April wurde abgesagt, die Amerikaner planen
angeblich „einen neuen Vorstoß in Richtung auf einen umfassenden
arabisch-israelischen Frieden“, das Code-Wort für weitere endlose
„Verhandlungen“, die zu nichts führen – das ist die Lage. Es sollte
klar sein, dass die Verhandlungsphase des falschen
„Friedensprozesses“ zu Ende ist. Der Nebel hat sich gelichtet. Die
Anerkennung eines palästinensischen Staates innerhalb vereinbarter
Grenzen durch die Vereinten Nationen ist für die Palästinenser die
einzige verbliebene Option. Abbas sollte das laut und deutlich
sagen. In diesem Zusammenhang gewinnen Bemühungen um eine Aussöhnung
mit Hamas vermehrt an Bedeutung.
Sollte Abbas andere
Pläne haben, sollte er tatsächlich nicht bereit sein, die
fruchtlosen Verhandlungen aufzugeben, und nicht bereit, im September
vor die Vereinten Nationen zu gehen, dann sollte er uns das sagen.
September 2011
Sollen die
Palästinenser einen Antrag bei den UN einreichen, sie als
Mitgliedsstaat in den Grenzen von 1967 anzuerkennen? Diese Frage
beschäftigt viele Aktivisten, besonders diejenigen, die die
Zwei-Staaten-Lösung zugunsten eines Ein-Staaten-Modells aufgeben
wollen, sei es in der Form eines Einheitsstaates oder eines
bi-nationalen Staates. Die Entscheidung liegt am Ende natürlich bei
den Palästinensern. Wir Nicht-Palästinenser können nur hoffen, dass
es zu einer engagierten Debatte innerhalb der palästinensischen
Gesellschaft kommt – im besetzten Palästina, in Israel, in den
Flüchtlingslagern und der Diaspora - die uns die Richtung weist.
Wird der September tatsächlich ein politisch bedeutender Termin?
General Amos Gilad, der das Amt für diplomatische Sicherheit im
israelischen Außenministerium leitet, erklärt warnend, dass „der
Beginn der Isolierung Israels im September nicht weniger ernst als
ein Krieg sein wird.“ Wenn es im September tatsächlich so weit
kommt, wie sollen wir reagieren? Wenn nicht, welche alternativen
Möglichkeiten zur Lösung des Konflikts gibt es?
Lassen wir diese
Fragen einen Moment beiseite und fragen, was wahrscheinlich im
September geschehen wird. Zwei Szenarien sind möglich: entweder ein
palästinensischer Staat innerhalb festgelegter Grenzen als
Vollmitglied der UN, oder eben nicht – egal aus welchem Grund. Wir
wollen diese beiden Szenarien im Hinblick auf die Rolle der
Zivilgesellschaft skizzieren.
Szenario 1: Palästina wird UN-Mitglied als unabhängiger Staat
innerhalb
anerkannter Grenzen
Nachdem sie, wie zu
hoffen ist, das Terrain für ihre Zulassung zu den UN gut geebnet
hat, ruft die palästinensische Führung, möglichst als
Einheitsregierung auf breiter Basis, einen unabhängigen Staat
innerhalb festgelegter Grenzen aus. Anschließend schickt sie der UNO
ein entsprechendes Gesuch und bekennt sich darin zu ihren
Verpflichtungen gemäß der UN-Charta. Zunächst geht die Angelegenheit
an den Sicherheitsrat. Wenn das Gesuch der Palästinenser die
Unterstützung von wenigstens neun der fünfzehn Mitglieder des
Sicherheitsrates, darunter aller Ständigen, gewinnt, empfiehlt der
Sicherheitsrat der Generalversammlung die Aufnahme als neues
Mitglied. Die Generalversammlung muss ihr mit Zweidrittelmehrheit
zustimmen. Sollten die USA im Sicherheitsrat mit Ja stimmen oder
sich wenigstens enthalten, könnten die Palästinenser mit nahezu
einstimmiger Zustimmung in der Generalversammlung rechnen.
Es gibt Leute, die
eine derartige Initiative bei den UN als lediglich symbolisch abtun,
ohne praktische Folgen für die Palästinenser. Gewiss ist es
unmöglich voraus zu sagen, wie sich die Ereignisse nach einer
Annahme entwickeln würden. Auf jeden Fall hätte sie mehrere wichtige
Folgen:
-
Eine Aufnahmeempfehlung des
Sicherheitsrates mit nachfolgender überwältigender Zustimmung durch
die Generalversammlung (mit „Nein“ nur von Seiten Israels und
Mikronesiens, seinem ergebenen Verbündeten im Pazifik) würde
Palästina zum vollberechtigten UN-Mitglied machen. Es könnte
Botschafter in die Hauptstädte der Welt entsenden, es könnte
UN-Resolutionen einbringen, an internationalen Konferenzen
teilnehmen und die Durchsetzung des Völkerrechts gegen die
israelische Besatzung betreiben, einschließlich Zugangs zum
internationalen Strafgerichtshof.
-
Palästina hätte anerkannte
Grenzen (entsprechend den Waffenstillstandslinien von 1949, über die
international Einmütigkeit herrscht). Es könnte dann nicht mehr
unter Druck gesetzt werden, über Gebietstausch zu verhandeln, seine
Grenzen „anzupassen“, um israelischen Siedlungen in Ost-Jerusalem
und in der Westbank Platz zu machen oder übertriebene israelische
Sicherheitsforderungen zu erfüllen, wie etwa alleinige Kontrolle
Israels über das Wasser, über die Grenzen zu den arabischen
Nachbarstaaten, den palästinensischen Luftraum oder die
Kommunikationswege. Der neue Staat könnte Bündnisse mit anderen
Staaten eingehen.
Aufnahme in die UN würde auch jede Zweideutigkeit
bezüglich der Besatzung beenden, die es Israel bisher erlaubt, sich
völkerrechtlicher Verantwortung zu entziehen. Weitere
(Friedens)Verhandlungen wären unnötig. Ost-Jerusalem ist
palästinensisch. Punkt. Israels Präsenz auf palästinensischem
Staatsgebiet ist illegal. Punkt. Fortsetzung der Besatzung würde den
wichtigsten Prinzipien der Souveränität, auf der das internationale
Rechtssystem beruht, widersprechen; sie wäre nicht hinnehmbar.
Israel würde sich Sanktionen aussetzen, ohne dass die USA oder
Europa dies verhindern könnten.
Und was würde aus den Siedlungen? Ganz einfach.
Alle Siedlungen, die auf privatem Grund und Boden stehen, müssten
aufgelöst werden. Bei den anderen, vornehmlich den großen
Siedlungsblöcken, könnte die palästinensische Regierung sagen: Ihr,
die Siedler, könnt gern in Euren Häusern wohnen bleiben. Aber Ihr
lebt jetzt in Palästina, nach palästinensischem Recht, und
Palästinensern steht es frei, Häuser in Euren Gemeinden zu erwerben.
Wahrscheinlich würden die Siedler freiwillig gehen. Sie würden ihre
Häuser an Palästinenser verkaufen, für die sie ein wertvoller
Bestand an Qualitätswohnraum wären. Richtig angegangen, könnten sich
die alle Siedlungsprobleme nach diesem Szenario von selbst
erledigen.
Kürzlich erklärte Karma Nabulsi von der
Universität Oxford, ein früherer PLO-Verhandlungsführer, im
englischen Guardian, die Zeit sei reif für eine wirklich
repräsentative palästinensische Regierung. Es sollten Wahlen
stattfinden zum Palästinensischen Nationalrat, dem Exil-Parlament
der Palästinenser. Der Nationalrat vertritt das ganze
palästinensische Volk: die Menschen in den Flüchtlingslagern ebenso
wie diejenigen unter Militärbesatzung, die Palästinenser in Israel
ebenso wie die in der Diaspora weit Verstreuten. Diese Wahlen
gehören mit dem Streben nach staatlicher Unabhängigkeit zusammen.
Ihre Ergebnisse bildeten die Grundlage für eine Übergangsregierung.
Allerdings, die Wahrscheinlichkeit, dass die USA
im September wirklich die Entstehung eines palästinensischen Staates
zulassen, ist gering, schon allein weil der Kongress dagegen ist.
Aber wenn es überraschender Weise doch geschähe - was wäre die
Antwort der Zivilgesellschaft? Die Antwort scheint klar: Israels
Präsenz in Palästina beenden. Die BDS-Bewegung würde sicherlich ihr
Teil zu dieser Anstrengung beitragen. Aber dann würde sie von
Regierungen, auch von einigen in Europa, die substantielle
Unterstützung erfahren, die ihr bislang fehlt. Die Kampagne könnte
sich dann auch auf das internationale Recht berufen. Nochmals: in
diesem Szenario hätten wir Mittel zur Verfügung, die uns heute
fehlen, vor allem den Rechtsweg für die Anwendung internationalen
Rechts sowie durch Einzelstaaten oder die Staatengemeinschaft
beschlossene Sanktionen.
Szenario 2: Palästina wird nicht als
Mitgliedstaat in die Vereinten Nationen
aufgenommen.
Für den Fall, dass der Sicherheitsrat nicht die
erforderliche Empfehlung für die Aufnahme Palästinas in die UN
ausspräche, könnte die Generalversammlung den Antrag mit einem
deutlichen Votum zur nochmaligen Beratung an den Sicherheitsrat
zurückschicken. Man kann darüber spekulieren, was dann geschehen
würde, ob zum Beispiel aus dem amerikanischen Veto eine Enthaltung
werden könnte. Aber die Wahrscheinlichkeit ist eher, dass ein
palästinensischer Staat im September nicht Mitglied der Vereinten
Nationen wird.
Was dann? Die Palästinensische Autonomiebehörde
kann nicht überleben, wenn es weder einen politischen Prozess noch
eine Aussicht auf Unabhängigkeit gibt. Die Autonomiebehörde würde
entweder zurücktreten oder zusammenbrechen. Wenn das geschieht und
die Besatzung in die alleinige Verantwortung Israels zurückfällt,
müsste es die palästinensischen Städte erneut besetzen. Auch Gaza,
um Hamas daran zu hindern, in die Bresche zu springen. Schon die
bloße Drohung mit erneuter vollständiger Besetzung würde die gesamte
muslimische Welt in Brand setzen. Sollte sich eine solche
Entwicklung abzeichnen, wäre die Weltgemeinschaft gezwungen zu
handeln. Ob die
Vereinigten Staaten in internationale Bemühungen
zur endgültigen Lösung des israelisch-
palästinensischen Konflikts hineingezogen würden,
oder ob die übrige Welt die US einfach übergehen würde – das ist
eine offene Frage. Der Status quo jedoch wäre nicht hinnehmbar.
Wer weiß, wohin das alles führen würde? Drei
Dinge jedoch scheinen sicher:
-
Eine solche Situation wäre
unhaltbar, schon allein wegen der dadurch verursachten weltweiten
Unruhe.
-
Der lineare
„Friedensprozess“ der vergangenen 20 Jahre – Definition des
Problems, Verhandlungen zur Lösung und schließlich seine Lösung –
ist vorbei und gescheitert.
-
Ein solches Debakel würde,
wenn es nicht durch die Schaffung eines souveränen palästinensischen
Staates innerhalb gesicherter Grenzen gelöst würde, zu Chaos und
Zusammenbruch führen. Wenn dabei nichts anderes herauskäme als ein
weiterer amerikanisch geführter Vorstoß für Verhandlungen wäre das
eine gute Sache. Allein der Zusammenbruch des erschöpften
“Friedensprozesses“ kann neue Möglichkeiten der Konfliktlösung
eröffnen und zu neuen Chancen und Gelegenheiten, zu neuer Logik und
Strategie führen Sogar zu neuen Akteuren, etwa Palästinenser
außerhalb der Besetzten Gebiete, zu einer neuen palästinensischen
Führung und dazu, dass sich Regierungen aktiv mit der
Zivilgesellschaft zum Widerstand gegen die Besatzung verbünden. Man
kann nur hoffen, dass die bei Chaos und Zusammenbruch drohende
Gewalt den Weg zu einer friedlichen Lösung des Konflikts ebnen
würde.
In einem so ungewissen und unvorhersehbaren
Szenario käme der Zivilgesellschaft noch mehr als heute zentrale
Bedeutung zu. Wir müssen handeln, um die Palästinenser vor einer
erneuten, gewaltsamen und womöglich noch repressiveren Besatzung zu
schützen. Wir müssen uns tatkräftig für die Einhaltung des
Völkerrechts und für Sanktionen einsetzen. Dabei müssen wir neue
Formen der Zusammenarbeit mit Regierungen suchen, damit jeder
Versuch der Wiederbesetzung Palästinas undenkbar wird. Wir müssen in
Zukunft die politischen Prozesse mit größter Aufmerksamkeit kritisch
begleiten, damit es nicht zur Fortsetzung der Besatzung oder zu
israelischer Apartheid kommt, oder – was noch schlimmer wäre – zur
Einsperrung und Kaltstellung der Palästinenser (warehousing). Auch
wenn wir uns nicht auf eine bestimmte Lösung einigen, sollten wir in
der Lage sein, uns über einen Satz von Regeln zu verständigen, die
für jeden Lösungsvorschlag zu gelten hätten.
Das Minimum dabei wäre:
-
Ein dauerhafter Frieden für
alle in Palästina lebenden Menschen,
-
Ein Frieden, der allen
Betroffenen eine wirtschaftliche Zukunft bietet,
-
Ein Frieden auf der
Grundlage der Menschenrechte, des Völkerrechts und der
UN-Resolutionen,
-
Behandlung der
Flüchtlingsfrage auf der Grundlage des Rückkehrrechts. Israel muss
die Rolle anerkennen, die es bei der Vertreibung der Flüchtlinge
gespielt hat,
-
Anerkennung der
Sicherheitsbedürfnisse aller Beteiligten und aller Staaten der
Region, und schließlich
-
Lösung der übrigen Probleme,
die der Gleichheit und Gerechtigkeit, dem Frieden und der
Entwicklung der Region entgegenstehen.
September 2011 als Herausforderung
Ich denke, es gibt ein drittes Szenario. Kürzlich
erzählte der schlaue Netanyahu EU-Vertretern, die Vereinten Nationen
hätten häufig anti-israelische Resolutionen beschlossen, der
Friedensprozess habe zahlreiche Höhen und Tiefen erlebt, und
schließlich könne niemand Israel einen Frieden aufzwingen.
Unter dem Druck der USA könnten die EU und ihre
Mitgliedstaaten, die nicht besonders darauf erpicht sind, sich mit
den USA oder Israel anzulegen, möglicherweise einer weiteren
endlosen Verhandlungsrunde zustimmen. Das könnte Hand in Hand gehen
mit ein paar nominellen Zugeständnissen von Seiten Israels, die ihm
über den September hinweghelfen würden.
Dann sind wir schon im Jahr 2012, dem
amerikanischen Wahljahr, und jeder Versuch, die Palästina-Frage zu
lösen, würde faktisch aufgeschoben bis 2013 oder noch später. Die
Bereitschaft der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), sich auf
dieses Spiel einzulassen, wäre ein sicherer Maßstab dafür, ob sie
ein Regime von Kollaborateuren ist oder nicht. Davon ganz abgesehen
– die PA würde nicht bis 2013 überleben. Das bedeutet, dass die oben
beschriebenen Szenarien, mit oder ohne einen allgemeinen
Flächenbrand im besetzten Palästina und in der Region, über den
September hinaus Bestand haben.
Wie man der gegenwärtigen politischen Lage
begegnen sollte – das ist eine Herausforderung für alle
Graswurzelbewegungen und Basisorganisationen. Bislang gibt es so gut
wie keine Diskussion unter den Hunderten von Basisgruppen in Sachen
Palästina über das, was der September bedeutet und wie wir damit
umgehen sollten. Es fehlt bis jetzt an jeder Orientierungshilfe von
Seiten der Palästinenser, in der besetzten Westbank wie im Ausland.
Und nichts deutet darauf hin, dass in den Aktivistenkreisen - in
Palästina, in Israel oder darüber hinaus - irgendjemand über neue
Aktionsformen oder Initiativen nachdenkt.
Gemeinsam haben wir in den vergangenen zehn
Jahren und länger fantastische Arbeit geleistet, indem wir die
Palästina-Frage auf die Ebene des Kampfes gegen die Apartheid hoben.
Dass es zu der gegenwärtigen Krise gekommen ist, liegt nicht zum
wenigsten daran, dass wir die „Verhandlungen“ als Täuschungsmanöver
entlarvt und die Unerträglichkeit der Besatzung wirklich fassbar
gemacht haben. Sollen wir jetzt den vor uns liegenden politischen
Wendepunkt ignorieren, oder sollen wir aktiv werden? Und wenn ja,
wie?
In einem kürzlich erschienenen kritischen Aufsatz
„Die Anerkennung Palästinas“ weist Ali Abunimah auf die dringende
Notwendigkeit von Konsultationen innerhalb der Zivilgesellschaft
hin. Aktivisten in Palästina, in Israel, in jedem Winkel der Welt
sollten ihre Analysen, Ansichten und Ideen bündeln. Der September
kommt, egal ob wir vorbereitet sind oder nicht. Ob es uns gefällt
oder nicht – wir sind Teil eines politischen Prozesses. Dieser
Prozess muss ein klares politisches Ziel haben: die Besatzung zu
beenden und einen gerechten Frieden zwischen Israelis,
Palästinensern und ihren Nachbarn zustande zu bringen. Ich stimme
Ali Abunimah zu: Unsere laufenden Kampagnen und Aktionen, BDS,
Lobby-Arbeit, internationale Mobilisierung und Druck für die
Anwendung des Völkerrechts mit Hilfe des Widerstands gegen
Hauszerstörungen und Verdrängung von Bewohnern in Bil’in, Sheikh
Jarrah, Silwan und im Jordantal – das alles ist wichtig und muss
weiter gehen.
Aber ich glaube nicht, dass das allein genügt, um
eine politische Kraft zu schaffen, die die Besatzung beenden und
eine Ein-Staaten-Lösung herbeiführen kann. Wir leben in einer Art
Zwangsehe mit den Regierungen, die palästinensische inbegriffen.
Wir, das Volk, können die Sache nur bis zu einem bestimmten Punkt
voran bringen. Wir sind nicht gewählt, wir haben keine Wählerschaft
hinter uns, wir können nicht verhandeln und keine Verträge oder
Friedensvereinbarungen unterzeichnen.
Allein können wir den Palästina/Israel-Konflikt
nicht lösen. An einem bestimmten Punkt müssen wir den Stab an die
Regierungen übergeben. Da sie Konflikte immer lieber managen als
lösen wollen, werden sie von sich aus nicht das Richtige tun. In
Richtung auf eine wirklich gerechte Lösung werden sie sich nur
bewegen, wenn wir sie ständig antreiben. Und selbst dann müssen wir
den Prozess kritisch begleiten, damit er ehrlich bleibt.
Wenn die Palästinensische Autonomiebehörde sich
mit den Graswurzelbewegungen in Palästina, Israel und darüber hinaus
verbündet, wenn sie es als strategisch notwendig begreift, die Basis
– also uns – zu mobilisieren, dann vielleicht kann sich die
September-Initiative von einer Farce in einen Hebel zur
tatsächlichen Beendigung der Besatzung verwandeln. Der September
wird auf keinen Fall das Ende des Kampfes bringen. Die von Karma
Nabulsi ins Auge gefasste umfassende und repräsentative Regierung,
für die junge Leute in Palästina täglich demonstrieren, muss an die
Stelle der Palästinensischen Autonomiebehörde treten, und es muss
eine zielgerichtete internationale Kampagne einsetzen, um Israel zur
Aufgabe der besetzten Gebiete zu bewegen.
Schließlich muss auch deutlich gemacht werden,
dass die „Zwei Staaten-Lösung“ nur eine Station sein kann auf dem
Weg zur möglichen Entstehung, auf friedlichem Wege und im Konsens,
eines einzigen Staates, in der Form eines Einheits- oder eines
bi-nationalen Staates. Bis dahin müssen das Recht auf Rückkehr
bestätigt und die Rechte der in Israel lebenden Palästinensern
geschützt werden.
Die September-Initiative lebt nicht nur aus sich.
Sie ist Teil einer größeren politischen Kampagne. Aber genau deshalb
– wenn sie also eine wichtige Gelegenheit zur Förderung der
Unabhängigkeit Palästinas bietet – können wir uns nicht den Luxus
leisten, sie zu ignorieren. Wir müssen darüber reden, sehr bald.
Jeff Halper ist
Gründer und Leiter des Komitees gegen Hauszerstörungen (ICAHD).
Kontakt: jeff@icahd.org
Übersetzung aus
dem Englischen: Ulrike Vestring
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