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 Wir haben keine andere Wahl als Frieden
Bericht von der Demonstration auf dem Rabin-Platz in Tel-Aviv am 4.11.06 von Adam Keller ( Gush Shalom)

 

Samstag, 4.November. Das blutigste Wochenende in diesem Jahr. Die Anzahl der Toten unter den Palästinensern im belagerten Beit Hanun steigt mit jeder Nachrichtenmeldung. Am Nachmittag wurde vom Tod eines zwölfjährigen Mädchen  berichtet, es wurde direkt in den Kopf geschossen. "Der Scharfschütze hielt es für einen bewaffneten Militanten", lautet eine flüchtige Erklärung des Armeesprecher-Büros. Das Töten geht weiter.

Der verantwortliche Mann (zumindest nominell) dieses randalierenden Molochs ist Amir Perez, Führer der Arbeits-Partei und Verteidigungsminister Israels. Genau vor einem Jahr war es Amir Perez, der am alljährlichen Gedenktag für Rabin auf die Bühne stieg – um sich zu Rabins Nachfolger zu salben und von seinem Traum zu sprechen dass "eines Tages israelische und palästinensische Kinder zusammen  im Niemandsland zwischen Israel und dem Gazastreifen spielen werden"...

Klugerweise entschieden die Organisatoren der diesjährigen  Rabin-Gedenkveranstaltung, grundsätzlich keine Politiker als Redner zuzulassen. Wahrscheinlich hat dieser Beschluss Peretz vor einem Empfang mit Dauerpfeiffen und Buh-Rufen von denen bewahrt, die guten Grund haben, sich von ihm betrogen zu fühlen.

Die Friedens-Gruppen haben diese Demonstration zur Eröffnung für ihre Kampagne in diesem Monat gegen die Belagerung und das Blutbad in Gaza gemacht. Um sieben Uhr waren Dutzende von Aktivisten vor dem Rabin-Platz versammelt, Jana Kapanova von der Frauen-Friedens-Koalition koordinierte energisch die Vorbereitungen. Ein großer Helium-Behälter wurde aufgestellt, um die schwarzen Ballons mit der Aufschrift "SOS Gaza" zu füllen. Gelbe Leucht-Westen wurden von Autobesitzern eingesammelt, um die Menschenkette auffälliger zu gestalten, Pakete mit Stickern "Gaza – löst die Belagerung auf, Stoppt den Krieg" und dem Logo mit dem Stacheldraht, der zum Olivenzweig wird, werden verteilt. an die jungen Leute, zusammen mit der Broschüre "Häufige Fragen über Gaza: Was haben wir davon, dass wir aus Gaza abgezogen sind? - Nichts. Weil wir es unilateral getan haben, ohne verhandeltes Abkommen, das den Beschuss mit Qassam-Raketen verhindert hätte. Wir sind auch gar nicht abgezogen, Israel kontrolliert die Zugänge zum Gazastreifen. Warum sollte ich mich um die Palästinenser kümmern? - Wenn Du Deine Nachbarn in ein großes Gefängnis sperrst und sie aushungerst, hast Du ein Pulverfass geschaffen, das Dir ins eigene Gesicht explodiert!")

Andere Gruppen und Bewegungen kamen  mit einer Vielfalt von Stickern, Flugblättern, Broschüren an, mit Ballons, Plakaten und blauen Bändern, die an den Streit im letzten Jahr um den Abzug Sharons erinnerten... auf den blau-schwarzen Plakaten von "Peace Now" stand: "Olmert und Peretz – Ihr habt seinen Weg verlassen!" (Ein bisschen unfair, da Olmert nie behauptet hat, ein Nachfolger Rabins zu sein...) Meretz hatte in Grün auf Weiß: "Rabin, wir sind mit Dir – die Arbeitspartei ist mit Lieberman!"

Der Einzug des Erzrassisten Avigdor Lieberman in die Regierung, mit Zustimmung der Arbeitspartei, war auch das Thema auf einem Flugblatt von Hadash [Partei für Demokratie und Frieden] und diversen handgemalten Plakaten von jungen Leuten, die aus keiner Organisation kamen.

Die Unterstützer der Genfer Initiative verteilten ihre Landkarten für "gegenseitigen minimalen territorialen Austausch zwischen Israel und Palästina" und die Plakate von "Eine Stimme" fragten: "Was bist DU bereit zu tun, um den Konflikt zu beenden?" , die "Fünfte Mutter" hatte: "Nur Dialog kann gute Nachbarschaft bringen".

Die "Studierende und Arbeitende Jugend", wie jedes Jahr in ihren blauen Hemden massiv präsent, leistete den feierlichen Schwur: "Wir werden weder vergessen noch vergeben, denen die den Hass schürten, die maßlos hassten, die die Demokratie geschädigt haben, und jede Chance auf ein Leben in Frieden untereinander und mit unseren Nachbarn verhindert haben. Wir schwören, den Weg Jizhak Rabins weiter zu gehen, der ermordet wurde, weil er nach Frieden strebte."

Inzwischen warben Mitglieder der Homosexuellen-Gemeinde um Unterstützung für ihre umstrittene Straßen-Parade in Jerusalem ("Wenn Ihr an ein liberales, offenes Jerusalem glaubt, kommt und marschiert mit uns"). Sie erhielten Schützenhilfe vom "Sozialistischen Kampf" ("Die Opposition der Parlamentsmitglieder und der Polizei beweist die inhärente Homophobie des Establishment. Eine weite soziale Solidarität muss mobilisiert werden!") Und Tzedek (Gerechtigkeit) machte den dringenden Appell: "Der neue Regierungshaushalt zwingt zu tiefen Einschnitten in Sozialleistungen, Bildung und Gesundheit, weitere zigtausende von Kindern werden unter die Armutsgrenze gedrückt. Kommt morgen Abend mit uns vor das Haus des Finanzministers, um den hungrigen Kindern eine Stimme zu geben!" Auch die Tierschützer waren da: "Wenn Du Fleisch isst, solltest Du wissen, dass dieses Fleisch genauso leben wollte wie Du!"

Plötzlich tönt aus den mächtigen Lautsprechern die Stimme Rabins – so wie er vor elf Jahren an dieser Stelle gesprochen hatte, stark und zuversichtlich, nicht ahnend, dass es der letzte Tag seines Lebens war: "Ich war ein Mann der Armee. Ich habe gekämpft, als Kämpfen nötig war. Wenn aber die Chance auf Frieden kommt, muss man sie wahrnehmen. Und diese Chance ist reell, Friede ist möglich!" Seinerzeit , auf dem Höhepunkt von Oslo, etwas banale Worte, die rückblickend an Bedeutung gewinnen, Jahre danach, wenn der Glaube schon an die Möglichkeit eines Friedens schwindet.

Dann stiegen, einer nach dem anderen, bekannte Künstler auf die Bühne, um zu singen, einige der Lieder mit politisch bedeutenden Worten, andere nach jahrelanger Wiederholung ziemlich hohl geworden.

Inzwischen führte der Gush-Shalom-Sticker "Mit Hamas reden!" zu einigen Debatten. Manche nahmen ihn begeistert auf, andere mit verlegenem Lächeln, es gab aber auch einige Gegner, auch hier, in diesem Milieu: "Warum? Es sind Extremisten, Terroristen!" - "Schau mal, was auf der Seite steht: 'Frieden macht man mit dem Feind.' Das genau hat Rabin gesagt, für den wir heute hierher gekommen sind." - "Aber die sind so reaktionär!" "Und was ist mit unserer Regierung? Sind die progressiv? Lass unsere Reaktionäre mit den ihren sprechen!"

 

Plötzlich Stille. Der Schriftsteller David Grossman steigt aufs Podium, er will eine Grundsatzrede halten (es war eigentlich die einzige), die live in Radio und Fernsehen übertragen werden sollte.

Grossman war in letzter Zeit viel im Scheinwerferlicht. Er hatte den zweiten Libanonkrieg anfangs befürwortet, später änderte er seine Meinung und machte einen dramatischen Appell zum Waffenstillstand, den die Regierung ignorierte – Sein Sohn wurde im letzten Gefecht des Krieges getötet.

 

"Es hat einen Krieg gegeben.. Israel ließ seine mächtigen militärischen Muskeln spielen – aber dahinter wurden seine Unzulänglichkeit und seine Zerbrechlichkeit sichtbar. Uns wurde klar, dass die militärische Macht in unseren Händen am Ende allein nicht unsere Existenz sichern kann. Vor allem haben wir entdeckt, dass Israel in einer viel tieferen Krise steckt, als wir befürchtet haben, fast in allen Lebensbereichen.

Ich spreche hier als einer, dessen Liebe für dieses Land schwierig und kompliziert ist, trotzdem ist sie eindeutig; und als einer, dessen Verbindung mit diesem Land zu seinem Unglück mit Blut besiegelt wurde. Ich bin ein vollkommen säkularer Mensch, trotzdem ist in meinen Augen die Entstehung, die schiere Existenz des Staates Israel eine Art  Wunder, das uns als Volk geschehen ist – ein politisches, nationales, menschliches Wunder. Ich vergesse das keinen Augenblick lang, auch wenn viele Dinge in der Wirklichkeit unseres Lebens mich empören und deprimieren, auch wenn dieses Wunder  immer mehr zu erbärmlichen Alltäglichkeiten verkümmert, zu Korruption und Zynismus, auch wenn die Realität wie eine schlechte Parodie dieses Wunders aussieht, ich erinnere mich immer daran.

"Sieh her Land, wir haben all das verschwendet", schrieb der Dichter Schaul Tschernekovsky 1938. Er trauerte darüber, dass wir der Erde dieses Landes immer wieder junge Leute in der Blüte ihres Lebens übergeben.  

 

Der Tod junger Menschen ist eine schreckliche Verschwendung. Aber genau so schrecklich ist das Gefühl, dass Israel nicht nur das Leben seiner Söhne verschwendet, sondern auch die wunderbare Gelegenheit, die ihm gegeben wurde,  - die seltene, von der Geschichte gegebene Gelegenheit, hier einen aufgeklärten demokratischen Staat zu schaffen, nach jüdischen und universellen Werten. Ein Staat, der Juden nicht nur eine Zuflucht gibt, sondern einen neuen Sinn für ihr Leben. Einen Staat, der es als untrennbaren Teil seiner jüdischen Identität und seines jüdischen Ethos betrachten würde, seine nicht-jüdischen Bürger mit voller Gleichberechtigung und Respekt zu behandeln. Und seht, was passiert ist! (lauter Beifall)

 

Seht, was mit dem jungen, kühnen, begeisterten Land geschah, das hier gewesen ist. Wie, in einem Prozess vorzeitiger Alterung, Israel aus der Phase lebhafter Jugend direkt ins Gefühl frustrierten verbitterten Alters gesprungen ist. Wann ist das passiert? Wann haben wir das Gefühl verloren, es könne jemals ein anderes Leben für uns geben, ein besseres? Wie können wir immer noch daneben stehen und wie hypnotisiert zusehen, wie Wahnsinn und Grobheit, Gewalt und Rassismus die Herrschaft in unserem Zuhause übernehmen?

Ich frage euch, wie kommt es, dass ein Volk mit solchen Kräften der Erneuerung und der Kreativität wie das unsere, ein Volk, das immer wieder wie ein Phoenix aus der Asche stieg, sich heute wieder findet, gerade, wenn es solch überwältigende militärische Macht besitzt,  sich in Schwäche und Hilflosigkeit wieder findet. ?  Wie ist es wieder zum Opfer geworden – diesmal als  sein eigenes Opfer, als Opfer seiner Ängste und Verzweiflung, seiner eigenen Kurzsichtigkeit? Einer der schrecklichsten Resultate des letzten Krieges war das wachsende Gefühl, dass es in Israel keinen König, keine Führung mehr gibt. Unsere Führung ist nichts wert– unsere politische und militärische Führungsspitze ist hohl. Ich spreche jetzt nicht nur von den offensichtlichen Misserfolgen des Krieges, von den großen und kleinen Korruptionsskandalen. Ich spreche von der Tatsache, dass die Leute, die Israel heute führen, nichts zu bieten haben als  Verängstigung auf der einen Seite und auf der andern Seite Einschüchterung, die billige Faszination nackter Macht, das Augenzwinkern von Betrügereien. Es scheint, die Vision der Leute an der Spitze geht nicht weiter als bis zur nächsten Zeitungs-Schlagzeile oder bis zur nächsten Befragung durch den Generalstaatsanwalt.

 

Herr Premierminister, Sie können das, was ich Ihnen zu sagen habe, nicht  mit der Begründung abweisen, ich wäre von Kummer überwältigt. Natürlich habe ich Kummer. Mich schmerzt aber noch  mehr dieses Land, und was Sie und Ihre  Freunde ihm antun. Glauben Sie mir: Ihr Erfolg ist mir wichtig, denn unser aller Schicksal hängt davon ab, aufzustehen und wirklich zu handeln.

 

Yitzhak Rabin wählte nicht den Weg des Friedens mit den Palästinensern, weil er sie oder ihre Führung so gerne mochte. Ich erinnere mich, auch damals war die Meinung verbreitet, wir hätten keinen Partner. Rabin entschloss sich zu handeln, weil er - und das war sehr weise - erkannte, dass die israelische Gesellschaft  mit einem ungelösten Konflikt  nicht länger überleben kann. Er verstand, lange bevor dies andere taten, dass das Leben in einer permanenten Atmosphäre von Gewalt, von Besatzung, Terror, Verängstigung und Hoffnungslosigkeit einen Preis fordert, den Israel nicht bezahlen kann. All das gilt auch für heute, in verschärftem Maße. Bevor wir vom (palästinensischen) Partner sprechen, den wir haben oder nicht haben, lasst uns uns selbst betrachten.

Über hundert Jahre leben wir in einem Konflikt. Wir, die Bürger dieses Konflikts, sind in den Krieg geboren und zu ihm erzogen, in gewissem Sinne von ihm programmiert worden. Vielleicht denken wir deshalb manchmal, dass dieser Wahnsinn, in dem wir seit hundert Jahren leben, das einzig Wirkliche ist, dass dies das einzige für uns bestimmte Leben ist, dass wir nicht die Möglichkeit haben, vielleicht nicht einmal das Recht, ein anderes, neues Leben anzustreben: Durch das Schwert leben wir und sterben wir, auf ewig.

Vielleicht ist das der Grund für die Gleichgültigkeit, mit der wir uns  mit dem vollkommenen Fehlen eines Friedensprozesses abfinden, ein Fehlen, das seit Jahren andauert und immer mehr Opfer fordert. Vielleicht ist das auch der Grund für die fehlende Reaktion bei den meisten unter uns auf den schwerwiegenden Anschlag auf die Demokratie durch die Ernennung Avigdor Libermans zum stellvertretenden Premierminister, mit der Unterstützung der Arbeitspartei, durch die Ernennung dieses nachgewiesenen Brandstifters zum Feuerwehrhauptkommandanten  in diesem Staat! (anhaltender Beifall)

 

Vielleicht ist dies einer der Gründe, warum der Staat Israel in so kurzer Zeit  zu solch grausamer Gleichgültigkeit gegenüber den Schwachen, den Armen und den Leidenden heruntergekommen ist.  Diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal von Hungernden,  Alten, Kranken und Behinderten, diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Handel mit Frauen, die zur Prostitution gezwungen werden, der Ausbeutung von Fremdarbeitern unter sklavischen Bedingungen, und gegenüber dem tiefen institutionalisierten Rassismus gegen die arabische Minderheit. All dies geschieht hier mit vollkommener Natürlichkeit, ohne Erschütterung oder Protest. Ich beginne zu befürchten, sollte morgen der Friede kommen, sollten wir irgendwann zu einer Art Normalität zurückfinden,  dann haben  wir vielleicht die Gelegenheit zur Genesung verpasst.

 

Das Unglück, das über meine Familie und mich gekommen ist, als unser Sohn Uri fiel, gibt mir keine besonders privilegierte Position in der öffentlichen Debatte. Aber mir scheint, die Konfrontation mit Tod und Verlust bringt auch eine Art  Klarheit und ernüchterter Besonnenheit mit sich, zumindest, was die Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem anbelangt, zwischen dem, was erreicht werden kann und was nicht, zwischen Realität und Illusion.

 

Jeder denkende Mensch in Israel und  - ich füge hinzu - auch in Palästina, kennt heute die Grundzüge einer möglichen Lösung des Konflikts zwischen den beiden Völkern. Jeder denkende Mensch - unter uns und unter ihnen - kennt in der Tiefe seines Herzens den Unterschied zwischen Träumen, Wünschen, und dem, was am Ende von Verhandlungen erreichbar ist. Wer den nicht kennt – sei er Jude oder Araber – ist schon jetzt kein Gesprächspartner mehr. Solche Leute sind in der hermetisch geschlossenen Falle des Fanatismus gefangen, deshalb sind sie keine Partner. Lasst uns für einen Moment diejenigen betrachten, die unsere Partner sein sollen. Die Palästinenser haben an ihre Spitze Hamas gesetzt, die sich weigert, mit uns zu verhandeln, sich sogar weigert, uns anzuerkennen. Was können wir in solch einer Situation tun? Sie weiter erwürgen, ersticken? Weiter hunderte von Palästinensern in Gaza töten, die überwältigende Mehrheit davon unschuldige Zivilisten wie wir?

Wenden Sie sich an die Palästinenser, Herr Olmert, wenden Sie sich an sie über die Köpfe der Hamas hinweg. Wenden Sie sich an die Moderaten,  an diejenigen, die wie Sie und ich nicht  mit der Hamas und ihrem Weg einverstanden sind. Wenden Sie sich an das palästinensische Volk, sprechen Sie zu seiner tiefen Verwundung und Verletzung, erkennen Sie sein andauerndes Leiden an. Das wird Ihre Position um nichts schwächen, Israels Position in künftigen Verhandlungen um nichts verschlechtern. Es wird nur ein bisschen die Herzen füreinander öffnen, und diese Öffnung hat eine ungeheure Kraft. Einfaches menschliches  Mitgefühl kann so stark sein wie eine Naturgewalt, gerade in dieser verfahrenen Hass erfüllten Situation.

Sehen Sie sie einmal nicht durch das Zielfernrohr an, oder über eine verschlossene Straßensperre hinweg. Sie werden dort ein Volk sehen, das nicht weniger gequält ist als wir. Natürlich sind auch die Palästinenser an der Ausweglosigkeit Schuld. Auch sie haben Teil am Scheitern des Friedensprozesses. Aber betrachten Sie sie für einen Moment mit einem anderen Blick. Sehen Sie nicht nur die Extremisten, sehen Sie nicht nur diejenigen, die mit unseren Extremisten gemeinsame Interessen hegen. Sehen Sie sich die überwältigende Mehrheit dieses unglücklichen Volks an, dessen Schicksal untrennbar mit dem unseren verbunden ist, ob wir wollen oder nicht.

 

Gehen Sie zu den Palästinensern, Herr Olmert, hören Sie auf, Vorwände zu suchen, nicht mit ihnen zu sprechen. Sie haben den unilateralen "Zusammenlegungs"-Plan aufgegeben, und das ist gut so. Aber lassen Sie jetzt nicht einen leeren Raum zurück. Er wird sich sofort  mit Gewalt und Zerstörung füllen.

Sprechen Sie mit ihnen. Machen Sie ihnen ein Angebot, das die Moderaten unter ihnen (und davon gibt es mehr, als die Medien uns zeigen) akzeptieren können. Legen Sie ein solches Angebot vor, das sie vor die Entscheidung stellt, entweder anzunehmen, oder Geiseln der fanatischsten Sorte des Islam zu bleiben. Gehen Sie zu ihnen mit dem mutigsten und ernsthaftesten Plan, den Israel zu bieten hat, mit dem Angebot, das jeder Palästinenser und jeder Israeli, der Augen im Kopf hat, als die Grenze von Zugeständnis und Ablehnung, der ihren und der unseren, erkennt. Wenn Sie zögern, wird es nicht lange dauern, bis wir uns nach der Amateurhaftigkeit des palästinensischen Terrors  zurücksehnen. Wir werden uns die Haare raufen, schreien und bereuen, dass wir nicht unsere geistigen Fähigkeiten angestrengt haben, unsere israelische Kreativität, um unsere Feinde aus ihrer selbst gemachten Falle zu ziehen.

 

Es gibt einen Frieden aus Mangel an anderer Wahl. Wie es einen Krieg mangels anderer Wahl gibt, so gibt es den Frieden, weil wir keine andere Wahl haben, weil uns wirklich  nichts anderes übrig bleibt, nicht uns und nicht ihnen. Und solch ein Friede als letzte Möglichkeit sollte mit derselben Kreativität und Entschlossenheit gewagt werden wie ein Krieg als letzte Möglichkeit. Es gibt keine andere Wahl. Wer denkt, es gäbe eine, die Zeit würde zu unseren Gunsten arbeiten, begreift den Prozess nicht, in dem wir schon sehr tief stecken.

Übrigens, Herr Premierminister, vielleicht sollten Sie nochmals daran erinnert werden, wenn  irgendeine arabische Führungspersönlichkeit  ein Friedenszeichen sendet – und sei es auch noch so klein und zögerlich – müssen Sie darauf eingehen. Sie müssen sofort prüfen, wie ernst es ihm ist. Sie haben moralisch nicht das Recht, darauf  nicht einzugehen. Sie schulden es denen, von denen Sie fordern werden, ihr Leben zu opfern, wenn ein neuer Krieg ausbricht. Wenn also Präsident Assad sagt, Syrien möchte Frieden, auch wenn Sie ihm nicht glauben, - und wir sind alle misstrauisch – müssen sie sich noch am selben Tag mit ihm treffen. (Beifall, 'Peace Now'-Aktivisten verteilen Sticker mit: "Assad wartet auf Olmert" und "Abu Mazen wartet auf Olmert".)

Lassen Sie nicht einen Tag verstreichen. Als Sie in den letzten Krieg zogen, haben Sie nicht eine Stunde gewartet. Sie sind sofort losgestürmt, mit allen Waffen, mit all der Zerstörungskraft. Warum, wenn es einen Hoffnungsschimmer von Frieden gibt, warum lehnen Sie ihn umgehend ab, lassen ihn verschwinden? Was haben Sie zu verlieren? Ist er Ihnen verdächtig? Gehen Sie hin und legen ihm Bedingungen vor, die jede Intrige offen legt. Bieten sie ihm einen Friedensprozess über mehrere Jahre an, an dessen Ende, wenn er alle Bedingungen und Einschränkungen anerkennt, er den Golan zurück- bekommt. (Beifall, aber schwächer als vorher.) Verpflichten Sie ihn zu einem langen Dialog. Geben Sie diese Möglichkeit seinem Volk bekannt, helfen Sie den Moderaten, die es sicher auch dort gibt. Versuchen Sie, die Realität zu gestalten, nicht nur ihr Sklave zu sein. Dazu sind Sie gewählt worden, genau dazu.

Zum Abschluss: Natürlich hängt nicht alles von uns ab. Es gibt große starke Mächte, die in der Region und in der Welt agieren, einige davon – wie Iran, wie der extreme Islam – arbeiten gegen uns. Und trotzdem hängt so viel davon ab, was wir tun, was wir sein werden. Die Meinungsverschiedenheit zwischen Links und Rechts ist heute nicht wirklich groß. Die entscheidende Mehrheit in Israel versteht bereits – manche zwar mit wenig Begeisterung – wie die Grundzüge der Lösung des Konflikts aussehen werden. Die meisten von uns verstehen, dass das Land geteilt werden wird, dass ein palästinensischer Staat entstehen wird. Warum fahren wir also  unter einander fort mit Gezänk und Streit  seit nunmehr 40 Jahren? Warum fährt unsere politische Führung fort, die Positionen von Extremisten wiederzugeben, und nicht die der Mehrheit der Öffentlichkeit? Ist es nicht klar, dass unsere Lage viel besser ist, wenn wir zur nationalen Übereinkunft kommen, bevor uns die Umstände dazu zwingen – Druck von außen, eine neue Intifada, noch ein Krieg? Wenn wir das tun, werden wir uns Jahre des Blutvergießens ersparen, des unnötigen Blutvergießens. Jahre eines schrecklichen Irrtums.

 

Von hier, wo ich jetzt stehe, bitte ich, rufe ich jeden auf, der mir zuhört, die jungen Leute, die aus dem Krieg zurückgekommen sind, die wissen, dass sie den Preis für den nächsten Krieg bezahlen müssen, jüdische und arabische Bürger, Linke und Rechte: Haltet inne für einen Moment und seht auf den Rand des Abgrunds. Denkt daran, wie nah wir daran sind, alles zu verlieren, was wir hier geschaffen haben. Fragt Euch, ob es nicht Zeit ist, aus dieser Lähmung auszubrechen, und endlich das Leben einzufordern, das wir zu leben verdienen. "

 

Sehr langer und lauter Beifall auf dem ganzen weiten Platz. Ein Gefühl der Offenbarung, sogar für diejenigen, die in bestimmten Punkten anderer Meinung sind. Wie wir am nächsten Tag in der Zeitung lasen, nahmen die Führer der Arbeitspartei – die auf der Bühne saßen, aber nicht ans Mikrofon gelassen wurden – nicht an der Begeisterung teil, sie waren eher geschockt und verärgert. Peretz verließ die Veranstaltung sofort, nachdem Grossman geendet hatte.

Für alle anderen waren die Politiker mit Recht entblößt worden, und die Kraft, die sich in diesen hunderttausend auf den Platz gedrängten Menschen manifestierte, die ihrem "Propheten am Rednerpult" zuhörten, schuf einen seltenen Moment der Hoffnung.

(Die Medien waren auch beeindruckt; wieder und wieder wurden Teile von Grossmans Rede gesendet;  Yediot Ahronot druckte die gesamte Rede, wovon wir in dieser Übersetzung Gebrauch machten.)

 

(dt. Gudrun Weichenhan-Mer

 

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