Zehn über Ost-Jerusalem verhängte Plagen
Meir Margalit, 7. Oktober 2009
Die Unruhen in Ostjerusalem überraschten kaum jemanden, der die
Situation in der Stadt kennt und der aufmerksam auf die Stimmen
hört, die von dort kommen. Behauptungen, eine kleine Gruppe von
Hetzern wolle politischen Profit aus den Unruhen gewinnen, beweisen
dass Leute, die solche Behauptungen unterstützen, so gut wie nichts
über die wahre Situation vor Ort wissen. Wenn ihnen die Vorfälle im
Hinterhof der Stadt bekannt wären, würden sie gewusst haben, dass
der Ausbruch von Unruhen vorhersehbar war – nur der Zeitpunkt war
unbekannt.
Vieles hat sich im Laufe der letzten zehn Jahre in Ost-Jerusalem
verändert – bis zum Punkt des Unerträglichen. Als Teddy Kollek noch
Jerusalems Bürgermeister war, waren seine arabischen Bewohner
benachteiligt, aber ihre Ehre wurde gewissenhaft verteidigt. Sie
hatten wenigstens das Gefühl, zivilisiert behandelt zu werden.
Seit kurzem jedoch haben mehrere Maßnahmen ihr Leben unerträglich
gemacht – das Schwierigste dabei ist, dass ihre Ehre mit Füßen
getreten wird. Zehn Plagen sind über Ost-Jerusalems arabische Bürger
verhängt worden, und diese können nicht ernst genug genommen werden.
Die erste Plage:
die Option, rechtens ein Haus zu bauen, ist fast unmöglich. Hier
sind die Schwierigkeiten seit Jahren immer größer geworden: Beweis
des Eigentums, das Fehlen von Infrastruktur, …, Reduzierung der
Areale, auf denen gebaut werden darf. All dies hat sich wegen der
„Einwanderung“ vieler Familien von jenseits der Mauer
verschlechtert. Sie wollen auf der „richtigen Seite“ sein und ihre
blauen (Jerusalemer) Identitätskarten nicht verlieren.
Die zweite Plage:
der Trennungszaun hat nicht nur eine Welle interner Wanderung
ausgelöst, sondern hat die ‚Migranten’ von ihren Familien,
Verwandten und Freunden abgeschnitten. Vieles ist sehr kompliziert
geworden. Ein Familienbesuch, der in der Vergangenheit eine kurze
Fahrt von wenigen Minuten war, ist nun zu einer „Reise ins
Ungewisse“ geworden, bei der keiner weiß, wie lange sie dauern wird,
um sein Ziel zu erreichen und wann man zurückkommt. Alles hängt von
der Stimmung der Soldaten ab, die am Kontrollpunkt stehen.
Die dritte Plage:
(mit der vorigen zusammenhängend) Das Innenministerium hat seine
Kampagne der Konfiszierung der Identitätskarten von Leuten
intensiviert, von denen es behauptet, dass sie jenseits der
Stadtgrenzen wohnen. Viele finden eines Tages, dass ihr
Einwohnerstatus ohne ihr Wissen, aufgehoben wurde und sie einen
Anwalt nehmen müssen, um ihn zurück zu erhalten.
Die vierte Plage:
Das Innenministerium verhindert weiter, dass Ostjerusalemer
Familien zusammenleben können oder dass Ehepartner gezwungen sind,
ohne Genehmigung fast im Untergrund zu wohnen, aus Furcht, von der
Polizei verhaftet zu werden.
Die fünfte Plage:
die Siedler verhalten sich bei ihren Versuchen, jedes Stück Land in
der östliche Hälfte der Stadt an sich zu reißen, vollkommen
unkontrolliert. Die Unannehmlichkeiten mit ihnen werden immer
stärker: Gerüchte und Schlagzeilen über einen politischen Prozess
nehmen Gestalt an. Ohne Bedenken warfen sie (arabische) Familien aus
ihren Häusern und verbreiten überall, wo sie gehen, Angst.
Die sechste Plage:
die Zerstörung von Häusern, die Tausende von Familien bedrohen. Es
geht nicht darum, dass die Stadtverwaltung in der Lage ist, solch
eine große Zahl an Häusern zu zerstören (Der Etat der Stadt für den
Abriss der arabischen Häuser ist nicht hoch genug, um alle Häuser
mit der Abrissorder zu zerstören. P.R.), sondern weil keine der
Tausenden von Familien, die die Abrissorder erhielten, weiß, wen
dieser Schlag treffen wird und wann sie an der Reihe ist, ihr Haus
zu verlieren. In dieser Situation lebt jede Familie auf geborgte
Zeit und dieser Stress ist eine Form von Folter. (z.B. haben in
einem Wohnviertel viele Häuser die Abrissorder, die betroffene
Familie weiß aber erst genau, dass sie jetzt dran ist, wenn der
Bulldozer bei ihrem Haus mit der Zerstörung beginnt! P.R.)
Die siebte Plage:
die wirtschaftliche Krisis hat in der östlichen Stadt eine
Katastrophe ausgelöst mit nahezu 70% aller Familien unter der
„Armutslinie“. Ohne Aussicht auf eine Verbesserung der Situation
haben sie wenig zu verlieren.
Die achte Plage:
das demütigende Verhalten der Grenzpolizei, das unkontrolliert, noch
gewalttätiger, abstoßend und unbeherrscht geworden ist. Die Soldaten
verachten alles, das arabisch aussieht und verletzen die tiefsten
Gefühle der arabischen Bürger.
Die neunte Plage:
die archäologischen Ausgrabungen, die der Staat nahe am Tempelberg
- am Givati-Parkplatz und in der el-Wad-Straße - ausführen lässt,
beunruhigen jene sehr, die glauben, dass sie dafür bestimmt sind,
die beiden Moscheen einstürzen zu lassen. Es ist eine Überzeugung,
die vom „intimen“ Wissen der Siedler genährt wird, die die
Ausgrabungen durchführen, und der national-messianischen Agenda, die
sie motiviert. Es stimmt womöglich nicht, aber in Ostjerusalem kann
sogar ein Gefühl oder ein Gerücht einen Brand auslösen.
Die zehnte Plage:
das geringe Ausmaß städtischer Dienstleistungen, von der Müllabfuhr,
bis zum Bildungssystem, der ihren minderwertigen Status bestimmt.
Jedes Mal, wenn arabische Bürger in den westlichen Teil der Stadt
kommen und den großen Unterschied zwischen ihrem Lebensstandard und
dem ihrer jüdischen Nachbarn sehen, trifft es sie zu tiefst.
Offensichtlich wollen die Israelis nicht wissen, was in
Ost-Jerusalem passiert, aber die Verantwortlichen der Stadt täten
gut daran, ihre Politik neu zu überdenken, bevor die große
Explosion geschieht, von der wir gerade in den letzten Tagen nur
eine kleine Spur erlebt haben.
Dr. Meir Margalit, aus der Meretz-Partei im Jerusalemer Stadtrat
und Mitarbeiter von Jeff Halper bei ICAHD,
Israeli Comitee against
House Demolitions.
(dt. Ellen Rohlfs)