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Die arabischen Juden

Sprache, Dichtung und Einzigartigkeit

 Reuven Snir

 

Eine gemeinsame arabisch-jüdische Identität scheint eine Unmöglichkeit angesichts der gegenwärtigen politischen Situation im Mittleren Osten. Trotzdem war sie, wie die deutsch-jüdische Identität, bis zum Zweiten Weltkrieg eine Wirklichkeit. Arabisch sprechende Juden und ihre Schriftsteller legen Zeugnis ab für eine vermischte arabisch-jüdische Identität: unter ihnen Reuven Snir.

 

Meine Eltern wurden in Bagdad geboren. Sie wanderten 1951 ohne große Begeisterung nach Israel ein. Zwei Jahre später wurde ich geboren. Als ein sabra — ein geborener israelischer Jude — im israelisch-zionistischen Bildungssystem wurde mir beigebracht, daß sich Arabertum und Judentum gegenseitig ausschließen. Weil ich als Kind versuchte, der herrschenden Ashkenasisch-zionistischen Norm zu entsprechen, wie die meisten, wenn nicht alle Kinder mit diesem Hintergrund, schämte ich mich für das Arabertum meiner Eltern. Für sie war ich ein Agent der Unterdrückung, der nach ausgezeichnetem Training von den israelisch-zionistischen Machthabern in das Gebiet des Feindes — meine Familie — geschickt wurde, und ich vollendete meine Mission in einer Weise, wie es nur Kinder mit ihren liebenden Eltern tun können: Ich verbot ihnen, in der Öffentlichkeit Arabisch zu sprechen und in ihrem eigenen Haus arabische Musik zu hören. Und es handelte sich nicht bloß um ein Problem des Arabertums — mein Vater war ein kommunistischer Aktivist zu einer Zeit, als in Israel ein Kommunist zu sein ähnliches bedeutete, wie einer terroristischen Organisation anzugehören.

Als ich begann, die Geschichte der arabischen Juden zu erforschen, wobei ich besondere Aufmerksamkeit auf das tief verwurzelte Arabertum der irakischen Juden richtete, quälte mich der erwähnte Vers stark. Diese Qual wurde unerträglich, als ich zum ersten Mal das wundervolle Gedicht des palästinensischen Dichters Mahmūd Darwīsh (1941-2008) las, „Anā Yūsuf Yā Abī“ („O Vater, ich bin Joseph“) aus Ward Aqall (Weniger Rosen), und als ich Marcel Khlife (geb. 1940) es singen hörte.

Josephs wiederholte Fragen „fa-madhā fa‘ltu anā yā abī?“ („Was habe ich getan, O Vater?“) und „hal janaytu ‘alā ahadin“(„Habe ich etwas falsch gemacht?“) riefen und rufen ein tiefes Gefühl der Reue in mir hervor. Die letzte Frage hat fast den gleichen Wortlaut wie der zweite Teil jenes Verses von Abū al-‘Alā’, den er sich als Grabinschrift gewünscht hatte:

  Dieses Unrecht tat mir mein Vater, aber ich tat es keinem anderen.

Denn al-Ma’arrīs asketische Neigung läßt ihn zornig werden darüber, daß ihn sein Vater gezeugt hat, er selbst enthielt sich geschlechtlicher Zusammenkünfte, um keine Nachkommen in die Welt zu setzen. Ich fühle jedoch, daß ich in meinem Fall den Vers lesen sollte als:

            Dieses Unrecht tat ich meinem Vater, aber er tat es keinem anderen.

Sogar als ich begann, Arabisch in der Schule und dann auf der Universität zu lernen, sah ich das Arabische immer durch die Linsen der israelischen Sicherheitsbedürfnisse, basierend auf dem Slogan da‘ et ha-oyev!(Erkenne den Feind!). „Ein einzelner kann ein Pferd zum Wasser führen“, sagte Christina Rosetti (1830-1894) in ihrem Goblin Market,aber „Zwanzig können es nicht zum Trinken bringen“.

 

Die Entdeckung der arabischen Identität

 

Meine tawba,meine Reue, war sehr langsam und allmählich. Im Bab al-Tawba des al-Risala al-Qushayriyya heißt es, daß die bedeutendste Komponente der Reue das Bedauern (nadam) ist. Sie begann (vielleicht ist das eine der erfundenen Traditionen meiner gegenwärtigen Identität) am 14. Dezember 1984, ungefähr fünf Jahre, nachdem mein Vater verstorben ist, als ich in der Nachrichtenabteilung der Stimme Israels saß, arabische Sektion. Ich beherrschte Arabisch bereits fließend und arbeitete für meinen Lebensunterhalt als Nachrichtenredakteur, und als Teil meiner Ausbildung an der Hebräischen Universität erforschte ich in meinen akademischen Studien Zuhdi- und Sufi-Texte, aber die Kultur der arabischen Juden in der Moderne, tatsächlich jedes moderne arabische Thema, gehörte nicht zu meinen Favoriten. — Man war damals an der Hebräischen Universität der Auffassung (und es gibt einige, die behaupten, daß es noch heute so ist), daß die zeitgenössischen Araber irgendwie eine ‚tote Nation’ (umma bā’ida) seien, eine Nation, die eine ruhmreiche Vergangenheit hatte, aber nichts von Wert in der heutigen Zeit. An jenem winterlichen Dezembertag hatte uns unser Korrespondent soeben informiert, daß der Dichter Anwar Shā’ul (1904-1984) in Kiron, in der Nähe von Tel Aviv, gestorben war. Wir sendeten in den Nachrichten eine kurze Biographie. Ich rief die Nachrichtenredakteurin der arabischen Sektion an; ich dachte, trotz meiner strikten zionistischen Erziehung, daß es wichtig sei, die israelischen Bürger wissen zu lassen, daß einer der letzten arabisch-jüdischen Dichter verstorben war. „Anwar wer?!“ Ich hörte sie schreien: „Das interessiert unsere Zuhörer nicht“, sagte sie. Ich versuchte nicht, sie zu überzeugen, aber zwei Jahre später, 1986, starb ein anderer arabisch-jüdischer Dichter, Murād Michael (1906-1986), und in den folgenden Jahren schieden weitere arabisch-jüdische Dichter in vollkommene Anonymität dahin: Shalom Darwīsh (1913-1997), David Semah (1933-1997), Ya‘qūb Balbūl (1920-2003), Ishāq Bār-Moshe (1927-2003) und schließlich Samīr Naqqāsh (1938-2004), meiner Ansicht nach einer der größten arabischen Schriftsteller unserer Generation — ich sage arabisch und nicht arabisch-jüdisch, und ich bitte jeden, der über mein übertriebenes Urteil nachdenkt, Vorbehalte erst nach der Lektüre seines weitschweifenden Irakromans Nzūla wa-Khayt al-Shaytān (Mieter und Spinnweben, 1986) zu äußern. Als Samīr Naqqāsh starb, besaß er nicht die elementarsten Mittel für ein ehrenhaftes Überleben. „In diesem Land [Israel] existiere ich nicht“, sagte er ein paar Jahre vor seinem verfrühten Tod; „nicht als Schriftsteller, nicht als Bürger, nicht als Mensch. Ich spüre nicht, daß ich irgendwohin gehöre, seit ich aus Bagdad entwurzelt bin.“ Nach dem Tod von Samīr Naqqāsh sind zwei weitere herausragende arabisch-jüdische Schriftsteller gestorben: Mir Basrī (1910-2006) in London und Ibrāhīm Ovadia (1924-2006) in Haifa. 

Gleichzeitig waren die arabischen Juden, die nach der Gründung Israels dorthin immigrierten, dem hegemonialen hebräisch-zionistischen Establishment preisgegeben, das seine Interpretationsnormen allen kulturellen Gemeinschaften aufbürdete unter dem Schirm des linksgerichteten Liberalismus, und sie verachteten und fürchteten den Orient und seine Kultur. Die Politik der Wiedererschaffung arabisch-jüdischer Identität von Einwanderern in das Bild und die kulturelle Identität der Ashkenazi unterschied sich nicht von der britischen Politik in Indien, die Thomas Babington Macaulay in einer 1834 vor dem General Committee on Public Instruction gehaltenen Rede definierte. Er sprach von den Bildungszielen der Briten in Indien und forderte die Erschaffung eines neuen Menschentyps, der „in Blut und Hautfarbe indisch, in Geschmack, Ansichten, Moral und Intellekt englisch ist“. Die zionistische Bewegung war dort erfolgreich, wo selbst die Engländer versagt haben: in der Erschaffung eines neuen Modells eines Israeli, der in Blut und Hautfarbe orientalisch, in Geschmack und Ansichten zionistisch und ashkenasisch ist. Auch zwang das Erziehungssystem der Israelis die Nachkommen arabisch-jüdischer Familien den Holocaust als ihre eigene — und manchmal als ihre einzige — Geschichte und maßgebliche Identitätsgebung zu akzeptieren.

 

Die westliche Identität hinterfragen

 

Die Verfechter der am Westen orientierten kulturellen Identität beklagten auch die „Gefahr“ der „Orientalisation“ und „Levantinisation“ der israelischen Gesellschaft. Der Journalist Arye Gelblum schrieb am 22. April 1949 in Ha’aret: „Wir verhandeln mit einem Volk, dessen Primitivität den Gipfel erreicht hat und dessen Bildungsstand eine praktisch vollkommene Unwissenheit ist und schlimmer, das wenig Talent besitzt, irgendetwas Intellektuelles zu begreifen.“ Einer, auf den sich Gelblum bezog als jemand, der wenig Talent besitzt, irgendetwas Intellektuelles zu begreifen, war Nissim Rejwan, der in Bagdad in den 1940er Jahren regelmäßig Beiträge für die englische Zeitung Iraq Timesschrieb, insbesondere über englische Literatur. Dennoch, nach seiner Immigration nach Israel war man oft der Auffassung, daß ihm die intellektuellen Fähigkeiten fehlten, um über nicht-arabische Themen zu schreiben, besonders wenn er in Englisch für die Jerusalem Post . Jetzt zögert Rejwan nicht zu bemerken:

Es ist das herrschende politisch-kulturelle [zionistische] Establishment, dessen Führer und kulturelle Leitfiguren vorwiegend aus den Städl und Ghettos Rußlands und Russisch-Polens stammen und sich als gebildete ,Westliche’ ausgeben — und die orientalischen Einwanderer einem systematischen Prozeß der Akkulturation und kulturellen Reinigung unterwarfen, der sie dazu veranlaßte, ihre Kultur, Sprache und Lebensweise aufzugeben. Auf diese Weise gelang es Israel, die einzigartige Chance zu verpassen, sich in das Gebiet zu integrieren und seine Nachbarn zu akzeptieren und von ihnen akzeptiert zu werden — anstatt als Fremdkörper im Herzen eines Gebietes angesehen zu werden, in dem es gegründet wurde.

Außerdem weise ich die von den Zionisten sorgsam gehegte Legende zurück, daß die Juden im Irak sich in schrecklicher Gefahr befunden haben, aus der sie eine brillante Rettungsoperation geholt hat. Ohne die Angriffe auf die Juden herunterzuspielen, es ist eine Tatsache, daß sie sich auszuwandern geweigert haben — bis in den frühen 1950er Jahren die Regierung ein Gesetz erließ, das es den Juden, die nach Israel auswandern wollten, gestattete, ihre irakische Staatsbürgerschaft aufzugeben. Dieses Recht galt für ein Jahr, und das Echo darauf war nicht stark — bis Bomben in Synagogen und andere jüdische Einrichtungen einschlugen. Wer hatte die Bomben in Bagdad geworfen? Ich weiß es nicht, wahrscheinlich weiß es niemand, aber ich kann mit Sicherheit sagen, daß viele der irakischen Juden keinen Zweifel daran hegen, wer es tat und wer davon profitierte, als mehr als einhunderttausend irakische Juden in aller Eile nach Israel einwanderten.

Um den vorangehenden historischen Überblick abzuschließen, der mit meinen persönlichen Erinnerungen verwoben ist: Es steht außer Frage, daß wir gegenwärtig Zeugen des Todes der arabisch-jüdischen Kultur und Identität sind. Bis zum Zwanzigsten Jahrhundert war das Hauptelement in der arabisch-jüdisch-muslimischen „kreativen Symbiose“ — der Begriff wurde von Shlomo Dov Goitein (1900-1985) geprägt — , daß die Mehrheit der Juden unter der Herrschaft des Islam das Arabische als ihre Sprache angenommen haben. Diese Symbiose existiert heute nicht mehr, weil das Arabische als eine von Juden beherrschte Sprache verschwindet. Wenn man heute in Israel einen Juden antrifft, der arabisch spricht, kann man sicher sein, daß er entweder in einem arabischen Land geboren wurde (ihre Zahl nimmt ständig ab) oder beim Militär oder Sicherheitsdienst arbeitet (ihre Zahl nimmt ständig zu). Die anerkannte israelisch-jüdische Elite betrachtet die arabische Sprache und Kultur nicht als einen intellektuellen Gewinn. Im Bereich der Literatur ist nicht ein nach 1948 geborener jüdischer Schriftsteller belegt, der auf Arabisch schreibt. Eine Tradition, die vor mehr als tausendfünfhundert Jahren begonnen hat, verschwindet — pardon, wird ausgelöscht — vor unseren Augen, gegründet auf eine unausgesprochene Übereinkunft zwischen den beiden nationalen Bewegungen (Zionismus und arabischer Nationalismus), jede mit Unterstützung aus einer exklusiven göttlichen Quelle, um die vollkommene Reinigung der arabisch-jüdischen Kultur zu verrichten. Arabisch-jüdische Identität ist eine Krankheit geworden, die man eindämmen muß; die wenigen Leute, die noch infiziert sind, müssen aus Furcht vor Ansteckung in Quarantäne gesteckt werden. Die Rolle des arabischen Nationalismus in dieser kulturellen Reinigung sollte von Moslems und Christen erkannt werden, und wir haben begonnen, die Zeichen dafür zu sehen, aber es liegt noch ein langer Weg vor uns. Was den Zionismus betrifft: es ist erst zwanzig Jahre her, in den späten Achtzigern, daß ich mich fragte, ob ich mich auf die hochentwickelte Gesellschaft, in der ich lebte, mit den Worten von Walter Benjamin beziehen kann, die er 1940 entworfen hatte: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.“

 

Definition der Identität

 

Was ist die arabisch-jüdische Identität? Und wer braucht sie jetzt, ba’da kharab al-Basra(nach der Zerstörung Basras), wie die Irakis zu sagen pflegen?

Zunächst sollte ich erwähnen, daß mein Interesse an Identitätstheorien relativ neu ist und begonnen hat, als ich sah, daß viele Gelehrte über die arabisch-jüdische Identität diskutieren ohne unmittelbaren Zugang zu den Originaltexten zu haben, weil sie nicht Arabisch lesen. Ich kann diese Arbeitsteilung nicht akzeptieren, bei der uns, den Menschen der Texte, die Aufgabe des Entdeckens, Sammelns und Publizierens dieser Dokumente überlassen wird, während die Menschen der kulturellen Studien uns beweisen wollen, wie begrenzt unser Verständnis tiefer Bedeutungsstrukturen ist, nur weil wir philologischen und textuellen Angelegenheiten frönen. Unglücklicherweise ist die muslimisch-arabische Kultur eines jener neuen Felder, auf dem viele Gelehrte schreiben, obwohl sie nicht nur kaum Arabisch können, sondern auch streng argumentieren, daß keine Notwendigkeit besteht, diese Sprache zu verstehen.

Es ist leicht, auf die zweite der oben erwähnten Fragen zu antworten: Es besteht eine Notwendigkeit, den Begriff der arabisch-jüdischen Identität in zionistischen, israelischen, jüdischen und arabischen Kontexten zu diskutieren, wie auch die Notwendigkeit besteht, ethnische, schwule und lesbische Identitäten in allgemeinen Kontexten zu diskutieren. „Sobald man begriffen hat“, sagt die feministische Theoretikerin Joan Scott, „daß Subjekte durch ausschließende Handlungen geformt werden, wird es notwendig, den Handlungen dieses Errichtens und Tilgens nachzugehen“. Andrew Edgar argumentiert, daß „die Erkenntnis, daß Identität nicht bloß konstruiert ist, sondern von anderem abhängt, öffnet den theoretischen Raum für Randgruppen und unterdrückte Gruppen, die Identitäten, die ihnen im Herrschaftsprozeß aufgezwungen wurden, anzuzweifeln und neu zu verhandeln. Ethnische Identitäten, schwule und lesbische Identitäten, weibliche Identitäten werden auf diese Weise in den Prozeß der politischen Veränderung eingebracht.“ Arabische Juden, in Israel als mizrahimbekannt, wurden für den größten Teil des letzten Jahrhunderts vom Zionismus und vom arabischen Nationalismus und durch deren mächtige politische, soziale und kulturelle Vertreter unterdrückt, und manchmal wurden sie selbst zu Unterdrückern, vor allem der Palästinenser.

Die schwierige Frage lautet: Was ist arabisch-jüdische Identität? Ich möchte einige Einsichten vorbringen, die auf dem basieren, was in den letzten Jahren im theoretischen Diskurs behauptet worden ist: daß Identitäten niemals singulär konstruiert sind, sondern vielfältig durch verschiedene, oft sich überschneidende und gegensätzliche Diskurse, Gebräuche und Positionen. Darüber hinaus betreffen Identitäten die Fragen nach dem Nutzen der Ressourcen von Geschichte, Sprache und Kultur im Prozeß des Werdens eher als des Seins: nicht so sehr ‚wer wir sind’ oder ‚woher wir kommen’, als was wir werden können, wie wir dargestellt werden und wie das dazu beiträgt, wie wir uns selbst darstellen können. Identitäten entspringen der Mitteilbarkeit des Selbst, aber die notwendig fiktionale Natur dieses Prozesses unterminiert in keiner Weise ihre diskursive, physische oder politische Wirksamkeit.

Ich möchte mit dem Begriff der Identität beginnen, wie ihn der syrische Dichter und Kritiker Alī Ahmad Sa‘īd, Adūnīs (b. 1930) ägt. In seinem jüngsten Buch al-Muhīt al-Aswad(Das schwarze Meer) behauptet er, daß „Identität niemals Dākhil (dem inneren Selbst) entspringt, wie es niemals ausschließlich Khārij (der Außenwelt) entspringt: sie ist die dauernde dynamische Interaktion zwischen beidem... [aber] Identität ist auch eine Schöpfung: wir erschaffen unsere Identität, genau wie wir unser Leben und unsere Gedanken erschaffen“. Jeder, der die Identität jener Intellektuellen untersucht, die kürzlich die arabisch-jüdische Identität angenommen haben — wir könnten sie Neo-Araber-Juden nennen — kann die Idee der Schöpfung beobachten, manchmal eine creatio ex nihilo— aus dem Nichts, nicht zuletzt im Hinblick auf die wichtigste Komponente dieser Identität: die arabische Sprache. Die gegenwärtig bedeutendsten Vertreter der arabisch-jüdischen Identität beherrschen das Standardarabisch (fushā) . Der Dichter Sami Shalom Chetrit (geb. 1960) beispielsweise ist arabischen Ursprungs, kann sich aber auf Arabisch nicht ausdrücken. Er hat kein Problem damit zu erklären: „Ich bin ein arabischer Jude!“ In einem von ihm veröffentlichten hebräischen Text, „Wer ist ein Jude und welche Art Jude“, gibt es ein Gespräch zwischen dem Erzähler und einer amerikanischen Freundin. Sie fragt ihn, ob er Jude oder Araber ist. „Ich bin ein arabischer Jude“, antwortet er. „Das hab ich noch nie gehört“, sagte sie. Er versucht sie davon zu überzeugen, daß man sich wie einen amerikanischen Juden, einen deutschen Juden oder einen englischen Juden auch einen arabischen Juden vorstellen kann.

— Du kannst sie nicht vergleichen; ein europäischer Jude ist etwas anderes.

— Wie das?

— Weil „Jude“ nicht zu „Araber“ paßt, es paßt einfach nicht, es klingt sogar falsch.

— Hängt von deinem Gehör ab.

— Sieh mal, ich hab nichts gegen Araber. Ich hab sogar Freunde, die Araber sind, aber wie kannst du „arabischer Jude“ sagen, wenn alle Araber die Juden vernichten wollen?

— Und wie kannst du „europäischer Jude“ sagen, wo die Europäer doch längst die Juden vernichtet haben?

Dieser Text illustriert hervorragend die eurozentrische Atmosphäre, in der die Diskussion über arabisch-jüdische Identität gegenwärtig gehalten wird, gleichzeitig illustriert er den Unterschied zwischen der ‚Politik der Identität’ und dem, was ich ‚Politik der Einzigartigkeit’ nennen möchte, und dem Prozeß, bei dem arabisch-jüdische Identität konstruiert und artikuliert worden ist. Ich behaupte, daß Aussagen wie „Ich bin ein arabischer Jude!“ nur in modernen Zeiten und nur in bestimmten Kontexten formuliert wurden. Wir finden sie in den letzten Jahrzehnten, jedoch stets im Kontext von Unterschiedlichkeit und Negativität. Es ist eine Tatsache, daß in allen Fällen, in denen wir solche Aussagen finden, die Person, die diese Aussagen gemacht hat, sich in einem Zustand der  Marginalisation oder des Protestes befunden hat, der ebenfalls ein Zustand der Marginalisation ist. Im Allgemeinen sind sie Teil der ‚Politik des Ressentiments’ oder des Maskenspiels in der politischen Arena.

Die Politik der Einzigartigkeit hilft in meinen Augen weit eher, die Frage zu klären, was beispielsweise während der 1920er Jahre in Bagdad geschah — als junge jüdische Intellektuelle ihre Identifikation mit dem neuen arabischen Staat Irak ausdrückten — und heute nicht geschieht und geschehen kann.

 

Der Bagdader Frühling

 

Der Bagdader Frühling von 1920 war nicht so kurz wie der Prager Frühling, doch leider gelang es ihm nicht, einen neuen Ausgangspunkt für die Leute im Mittleren Osten zu liefern — meiner Ansicht nach eine der großen versäumten Gelegenheiten in der Geschichte dieses Weltteils. Der bereits erwähnte Anwar Shā’ul hat während der 1920er Jahre niemals erklärt: „Ich bin ein arabischer Jude“, denn er hatte keinen Grund, um seine Identität zu kämpfen: sie war selbstverständlich für ihn, so wie sie für viele seiner landsmännischen Dichter selbstverständlich war. Als der neue irakische Staat gegründet wurde, hatten die Juden allen Anlaß zu glauben, daß die Gesellschaft ihre volle Integration wünschte. Am 18. Juli 1921 wandte sich Amir Feysal vor seiner Krönung zum irakischen König an die Führer der jüdischen Gemeinde: „In der patriotistischen Terminologie gibt es nichts, das Juden, Moslems und Christen heißt. Es gibt nur eine Sache, die Irak heißt. [...] Es gibt keinen Unterschied zwischen Moslem, Christ und Jude.“ Sāti‘ al-Husrī, der Kultusminister im Irak von 1923 bis 1927 erklärte zu jener Zeit, daß „jeder, der Arabisch spricht, ein Araber ist“.

 Der neue Irak wurde als eine neue Gemeinschaft errichtet, die bestimmte Leute zum Beitritt einlud, und die Identität jener, die sich zum Beitritt entschieden, war weniger aus einer Negativität oder einem Unterschied und mehr aus einem positiven Verlangen heraus geformt. Es existiert eine notwendige Verbindung zwischen Rhetorik und Identität; schließlich ist die Frage nach „dem Einzelnen und den Vielen“ nicht allein ein Problem der Philosophie, sondern auch der Rhetorik, die sich für die Fähigkeit des Sprechers oder Schreibers interessiert, die Zuhörer zu fesseln und eine Wirkung auf andere zu haben. Die Aufgabe des Redners, sagt Kenneth Burke in A Rhetoric of Motives (1950), ist bekanntlich, durch Identifikation den Sinn der Allgemeinheit zu errichten, eine Gemeinschaft zu erschaffen. Der Redner begeistert sein Publikum in die Existenz hinein, versammelt eine Gemeinschaft von Zuhörern, indem er sie dazu bringt, sich mit einem gemeinsamen Verlangen zu identifizieren. Wir haben ein interessantes Beispiel dafür bei der letzten amerikanischen Wahl in Barack Obama gesehen, obwohl es in jenem Fall hauptsächlich eine „Politik des Ressentiments“ war.

Wenn wir auf all jene verweisen, die sich der neuen Gemeinschaft des Irak in den 1920er Jahren anschlossen und ihren Wunsch ausdrückten, an seinem Aufbau teilzunehmen, können wir die große Veränderung begreifen, die im Leben jener jungen weltlichen jüdischen Intellektuellen und Schriftsteller stattfand, die später als Hauptfiguren der irakisch-jüdischen Literatur bekannt wurden. Dieser Wechsel war entscheidend, weil er verschiedene Einzelne einschloß: jeder wollte dieser neuen Gemeinschaft angehören ohne andere Zugehörigkeiten aufgeben zu müssen, seien es religiöse, ethnische oder berufliche usw. Wie wichtig der neue Wohnsitz, die neue Gemeinschaft waren, kann man aus dem Kontext des Erscheinens moderner arabischer Literatur von irakischen Juden ersehen, für die wir eine solide historische Dokumentation besitzen.

Anfang 1924 veröffentlichte der christliche irakische Schriftsteller Yūsuf Rizq Allāh Ghunayma (1885-1950) ein Buch mit dem Titel Nuzhat al-Mushtāq fī Ta’rīkh Yahūd al-‘Irāq [Die Reise eines Mannes voller Verlangen in die Geschichte der Juden im Irak] (veröffentlicht bei Matba‘at al-Furāt in Bagdad). Bei der Beschreibung der sozialen Schichten der jüdischen Gemeinschaft und der Berufe der Juden bemerkte er, daß die Juden im Irak allen Berufen nachgingen, „aber Schriftsteller und Eigentümer von Zeitschriften und Zeitungen befanden sich nicht unter ihnen [den Juden]. Der Grund dafür ist, daß der Jude für das arbeitet, was ihm Nutzen bringt, und komponieren und schreiben in unserer Mitte findet keinen Markt. In dieser Sache befolgen sie demnach das lateinische Sprichwort, das besagt: „Zuerst das Leben, dann die Philosophie“.

Nur drei Monate nach der Veröffentlichung von Ghunaymas Buch erschien am 10. April 1924 die erste Ausgabe der arabischen Zeitschrift al-Misbāh(Der Kerzenleuchter). Der Eigentümer, der Herausgeber und die meisten der Autoren waren Juden. Das Ziel der Zeitschrift war es, Teil des allgemeinen arabischen Journalismus und der Kultur zu sein und ohne eingeschränkte jüdische Tagesordnung zur arabischen Kultur im Irak beizutragen. Die Veröffentlichtung von al-Misbāherhellt den bedeutenden Wandel im intellektuellen Leben der jüdischen Gemeinschaft, deren junge, gebildete, weltliche Mitglieder begannen, sich als Teil der neuen irakisch-arabischen Nation und Intelligenzia zu betrachten. Um die Worte Ghunaymas zu verwenden: die Juden begannen über „philosophische Angelegenheiten“ zu sprechen, nämlich: über Dinge, die relativ autonom vom ökonomischen, sozialen und politischen Bereich sind und die oft in ästhetischen Formen existieren, deren eines generelles Ziel das Vergnügen ist.

Von Anfang an waren die jungen weltlichen jüdischen Intellektuellen im Irak inspiriert von einer kulturellen Vision, deren eloquentestes Diktum lautete: al-dīn li-llāhi wa-l-watan li-l-jamī(„Religion ist für Gott, das Vaterland ist für alle“). Dieser Slogan, der wohl von dem koptischen Intellektuellen Tawfīq Dūs beim koptischen Kongreß 1911 in Asyut geprägt wurde, basiert auf einer arabischen Übersetzung von Markus 12:17: a‘tū mā li-qaysar li-qaysar wa-mā li-llāhi li-llāhi(„Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“); er war inspiriert von dem Slogan der intellektuellen libanesisch-syrischen Christen im 19. Jahrhundert: hubb al-watan min al-īmān („Vaterlandsliebe gehört zum Glauben“). Es war auch das Motto von al-Jinān, der ersten pan-arabischen Zeitschrift, die Anfang 1870 von Butrus al-Bustānī (1819-1883) Beirut gegründet wurde und bis 1886 erschienen war; Herausgeber war sein Sohn Salīm al-Bustānī (1848-1884). Al-Jinānbetonte in allen Ausgaben die Notwendigkeit, religiöse Solidarität (al-‘asaba al-dīniyya) nationale Solidarität (al-‘asaba al-wataniyya) ersetzen.

Angeregt durch die bereits erwähnten christlichen Intellektuellen, wurden die irakischen Juden, die den Slogan  „Religion ist für Gott, das Vaterland ist für alle“ angenommen hatten, durch Verse des Korans ermutigt, die religiöse Toleranz und kulturellen Pluralismus förderten, zum Beispiel: lā ikrāha fī al-dīn (‘In der Religion gibt es keinen Zwang’ – Al-Baqara 256) and lakum dīnukum wa-lī dīnī (‘Du hast deinen Weg, ich habe meinen’ – Al-Kāfirūn 6). Als der irakische Staat gegründet wurde, scharte sich die sekuläre irakisch-jüdische Intelligenzia selbstverständlich hinter die Bemühungen, den Irak zu einem modernen Staatswesen für alle Bürger zu machen — Sunniten und Shiiten, Kurden und Türken, assyrische und armenische Christen, Jesiden und Juden gleichermaßen. Die Vision und Hoffnung der europäischen Zionisten zu jener Zeit, einen jüdischen Nationalstaat in Palästina zu gründen, wie es 1917 in der Balfour-Erklärung versprochen wurde, war für die irakischen Juden eine ferne Wolke, etwas vollkommen Unerwünschtes. Sir Arnold Talbot Wilson (1884-1940), der Acting Civil Commissioner in Mesopotamien (1918-1920), schreibt in seinen persönlichen und historischen Aufzeichnungen:

Ich diskutierte die Erklärung damals mit verschiedenen Mitgliedern der jüdischen Gemeinschaft, zu denen wir ein freundschaftliches Verhältnis hatten. Sie merkten an, daß Palästina ein armes Land war und Jerusalem eine schlechte Stadt zum Leben. Verglichen mit Palästina war Mesopotamien ein Paradies. „Dies ist der Garten Eden“, sagte einer; „aus diesem Land ist Adam vertrieben worden — gebt uns eine gute Regierung und wir werden dieses Land zum Blühen bringen — für uns ist Mesopotamien eine Heimat, ein Heimatland, in das die Juden aus Bombay und Persien und der Türkei mit Freuden kommen werden. Hier soll Freiheit sein und die Möglichkeit! Im Palästina mag es Freiheit geben, aber keine Möglichkeit.“ (Wilson 1936, I, 305-306)

In den späten Dreißiger Jahren erklärte der Erzieher Ezra Haddād, daß „wir Araber sind bevor wir Juden sind“ (nahnu ‘Arab qabla an nakūna yahūda). Ya‘qūb Balbūl schrieb, daß „ein jüdischer Jugendlicher in den arabischen Ländern vom Zionismus nicht anderes als Kolonialismus und Tyrannei erwartet“. Der größte Teil der jüdischen Bevölkerung im Irak lebte in Bagdad und arbeitete im Staatsdienst unter den Briten und der frühen Monarchie. Nissim Rejwan sagt, so wie oft behauptet wurde, daß New York eine jüdische Stadt ist, „kann man dasselbe mit Gewißheit über Bagdad in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts sagen“. Die wirkliche nationale Vision der irakischen Juden, die Vision der intellektuellen weltlichen Elite, war irakisch und arabisch — deshalb scheinen Studien über die Beziehungen zwischen Arabern und Juden vor 1948 eine anachronistische Dichotomie zu verwenden, die in arabischen Ländern niemals existiert hat. David Semah sagt: „Die Juden im Irak bezeichneten nicht-jüdische Irakis niemals als ‚Araber’, sondern verwendeten die Worte ‚Moslem’ und ‚Christ’ [...] Wenn sie über ‚Araber’ (al-’Arab) sprachen, dann meinten sie nur Beduinen damit.“

Kehren wir zu al-Misbāh zurück. Der Herausgeber war Anwar Shā’ul, er schrieb unter dem Pseudonym Ibn al-Samaw’al, eine Allusion auf den präislamischen jüdischen Dichter al-Samaw’al ibn ‘Ādiyā’, der in der arabischen Geschichte für seine Loyalität sprichwörtlich war. Dem alten arabischen Kulturgut zufolge soll al-Samaw’al sich geweigert haben, ihm anvertraute Waffen auszuliefern. Aus diesem Grunde war er Zeuge des Mordes an seinem Sohn durch den Stammesführer der Beduinen, der seine Burg belagerte, um Waffen zu erlangen, die in seiner Obhut anvertraut waren. In der arabischen Geschichte erinnert man sich an al-Samaw’al mit dem Ausspruch Awfā min al-Samaw’al(„loyaler“ oder „vertrauenswürdiger als al-Samaw’al“). Die Entscheidung für dieses Pseudonym spiegelt Shā’uls irakisch-arabische Vision, die er als höchst angemessen für das Erscheinen der irakischen Nation betrachtete.

Anwar Shā’uls Gedicht „al-Rabī“ (Frühling), in der ersten Ausgabe von al-Misbāh veröffentlicht, illustriert die Hoffnung auf eine neue Ära der nationalen Einheit, weit entfernt von allen opportunistischen Erwägungen und religiösem Fanatismus.

Hier sind die ersten fünf Zeilen dieser metapoetischen qasīda:

Frühling ist gekommen, von Blumen umgeben, die Vögel heißen ihn willkommen,

Die Nachtigall sprach in der Morgenfrühe, jeder, der mit der Wiese spricht, ist eine Nachtigall,

Steh auf, mein Gefährte, laß uns einen Garten besuchen, Gärten sollte man im Frühling besuchen,

Schieb die Trauer beiseite und laß mich die Erinnerung an sie vergessen, eine freudliche Stimmung entstand und die Sorgen schwanden,

Und laß kreisen den Wein, inmitten der Wiesen, wo Vögel und Bäume die Gefährten sind

Die letzte Zeile enthält eine intertextuelle Beziehung zu einem berühmten mystischen Vers des Sufi-Dichters ‘Umar ibn al-Fārid:

Laß kreisen die Erinnerung an die Eine, die ich liebe, selbst wenn man mich tadelt dafür, denn die Geschichten der Geliebten sind mein Wein.

Das Gedicht endet wie folgt:

Des Frühlings bester Anblick ist ein Garten; seine Schönheit zu schildern, wetteifern die Vögel.

Der Garten ist der neue Irak, und Anwar Shā’ul trat der neuen Gemeinschaft bei und identifizierte sich mit ihr, nicht als Repräsentant der jüdischen Gemeinde, sondern auf Grund seiner eigenen Einzigartigkeit — seine Verbundenheit war reine Vermittlung. Sie bedeutete, daß der Wohnsitz, die neue Gemeinschaft, selbst wenn sie die verschiedenen Einzelwesen zum Anschluß an das neue Gefüge einlud, nicht eine alles umschließende Gleichheit war, nahtlos und ohne innere Differenzierung.

Anwar Shā’uls Dichtung aus mehr als sechzig Jahren, von Anfang der 1920er Jahre in Bagdad bis zu seinem Tod 1984 in Israel, zeigt seine sich wandelnde Eigentümlichkeit über die Jahre hin, oder wie Paul Gilory es nennt: „das sich wandelnde Gleiche“. Was die 1920er betrifft, so fand ich ohne Schwierigkeiten Texte von Sunni Ma‘rūf al-Rusafī (1875-1945), dem Schiiten Muhammad Mahdī al-Jawāhirī (1899-1997), dem Kurden Jamīl Sidqī al-Zahāwī (1863-1936) und dem Christen Yūsuf Rizq Allāh Ghunayma (1885-1950) über den neuen Frühling in Bagdad. Keiner von ihnen verkündete, er sei ein Araber; das war selbstverständlich — eines jeden Schriften reflektieren das Gefühl, ein Iraker zu sein, dessen Sprache Arabisch ist. Ihre Verbundenheit basierte auf ihrer Teilhabe am watan, am Wohnort, und sie machten sich keine Mühen, ihm anzugehören. Ihre Identität war bekräftigend und die meisten ihrer Bestandteile entstammten nicht dem Unterschied; — es war leicht für sie, Irakis zu sein, deren kulturelle Identität arabisch und irakisch war. Die Identität jener Juden, Moslems und Christen, die sich der neuen arabischen Gemeinschaft des Irak anschlossen, war durch solche Leichtigkeit gekennzeichnet. Sie setzten sich nicht eines Tages hin und sagten: Ich werde ein arabischer Jude sein, weil es in meine politische Tagesordnung paßt. Es passierte einfach.

 

Deutsch- und arabischsprachige Juden

 

Meine Erforschung der arabisch-jüdischen Identität hat kürzlich eine frische Wendung genommen; mir kam die erste Idee dafür, als ich Mitglied der Kulturstiftung des Bundes beim Wissenschaftskolleg in Berlin 2004-2005 war. Nach einem Besuch des Jüdischen Museums in Berlin bemerkte ich die komparative Struktur der Identität — oder besser: des Einzelnen — an zwei einzigartigen Phänomenen im modernen jüdischen Leben: den deutschsprachigen und den arabischsprachigen Juden. In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts glichen die Juden im Irak in vieler Weise den Juden der Mittelschicht in Deutschland und anderen europäischen Orten, die sich mehr deutsch oder europäisch fühlten als jüdisch. Als ich diese Ähnlichkeit zu untersuchen begann, hielt ich sie nur für ein vergleichbares Phänomen an unterschiedlichen Orten, allmählich jedoch entdeckte ich ein Netzwerk von Beziehungen zwischen den Juden im Irak und in Europa, das seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts existiert hat. Einige Beispiele:

1. Bagdader Juden fungierten als Korrespondenten und Repräsentanten für europäische hebräisch-jüdische Zeitungen wie zum Beispiel Ha-Maggid, die erste hebräische Zeitung in Europa.

2. Wohlhabende Juden sandten ihre Söhne oft zur Erziehung an europäische Institutionen. Sāsūn Hiskīl Afandī (1860-1932) zum Beispiel studierte Orientalistik in Wien, wo viele Juden Hochdeutsch sprachen, deutsche Namen annahmen und sich wie Österreicher und Deutsche kleideten und verhielten. Ich entdeckte ein Interview mit ihm in der hebräischen Zeitung Ha-‘Olam(Die Welt), am 10. März 1909 in Vilna publiziert. Sassoon Afandī, seinerzeit einer von Bagdads Vertretern im Ottomanischen Parlament, brachte Ansichten zur Sprache, die weit verbreitet waren unter europäischen Juden. Hier ein Zitat: „Mr. Sassoon möchte assimiliert sein, und da er, abgesehen von der Religion, keinen positiven Aspekt erkennt, der die Juden vereinen könnte, würde er sogar [meine Hervorhebung — R.S.] mit den Arabern assimiliert sein wollen.“ In indirekter Rede geschrieben, reflektiert dieser Satz nicht nur den arabisch-jüdischen Standpunkt; ich bin sicher, daß Sasson die Worte „sogar mit den Arabern“ nicht verwendet hat. Dies ist die gleiche ashkenasisch-zionistische Auffassung, die nicht begreift, daß ein Jude auch ein Araber sein kann. Übrigens hat Sassoon Afandī später den Posten des Finanzministers in verschiedenen irakischen Kabinetten in den 1920er Jahren besetzt.

3. Wir kennen auch jüdische Einwanderer aus Europa, die nach Bagdad kamen und den irakischen Juden die Idee der Aufklärung brachten und sie zur Verwestlichung und Verweltlichung drängten. Hier sei beispielsweise der Gelehrte Jacob Obermeyer (1845-1935) erwähnt, der von 1869 bis 1880 in Bagdad lebte und versucht hat, durch seine reformistischen Gedanken das religiöse Gerüst der dortigen jüdischen Gemeinde zu modernisieren. In seinem Eifer forderte er sogar die religiösen Führer Bagdads heraus, die über ihn in einem Fall sogar übereinstimmend herem(Ausschluß aus der Gemeinde) verhängten.

4. Es gab auch familiäre Beziehungen: Der Musiker Yūsuf Hūraysh etwa war Nachkomme einer europäischen Familie, die nach Basra immigrierte; und der Großvater von Anwar Shā’ul war ein ausgewanderter Jude, der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts von Österreich nach Bagdad kam. Ich empfehle jedem, der einen Eindruck von der Geschichte dieser Immigranten erlangen möchte, den historischen Roman Der Uhrmacher (2001) von Barbara Taufar.

Ich will mit Hannah Arendt schließen, die im Berlin der späten 1920er Jahre die Biographie der Jüdin Rahel Levin Varnhagen zu schreiben begann. Arendt floh 1933 aus Deutschland und beendete ihr Buch in Paris. Es wurde erst 1957 veröffentlicht, im Auftrag des Leo Baeck Instituts und in englischer Übersetzung. Arendt schreibt im Vorwort ihres Buchs:

Das deutschsprachige Judentum und seine Geschichte ist ein durchaus einzigartiges Phänomen, das auch im Bereich der sonstigen jüdischen Assimilationsgeschichte nicht seinesgleichen hat. Die Umstände und Bedingungen dieses Phänomens zu erforschen, das sich unter anderem in einem geradezu bestürzenden Reichtum an Begabungen und wissenschaftlicher und geistiger Produktivität äußerte, wird eine historische Aufgabe ersten Ranges sein, die aber natürlicherweise erst heute in Angriff genommen werden kann, nachdem die Geschichte der deutschen Juden zu Ende ist.

Jetzt, mehr als fünfzig Jahre später, will ich diese Frage erneut lesen, und ich will nur ein Wort ändern, das zwei Mal auftaucht:

Das [arabisch-]sprachige Judentum und seine Geschichte ist ein durchaus einzigartiges Phänomen, das auch im Bereich der sonstigen jüdischen Assimilationsgeschichte nicht seinesgleichen hat. Die Umstände und Bedingungen dieses Phänomens zu erforschen, das sich unter anderem in einem geradezu bestürzenden Reichtum an Begabungen und wissenschaftlicher und geistiger Produktivität äußerte, wird eine historische Aufgabe ersten Ranges sein, die aber natürlicherweise erst heute in Angriff genommen werden kann, nachdem die Geschichte der [arabischen] Juden zu Ende ist.

 

Reuven Snir ist Professor für Arabische Sprache und Literatur an der Universität von Haifa. Von 2004 bis 2005 war er Mitglied des Wissenschaftskollegs zu Berlin.

 

 

 

 

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