Die Kinder von
Gaza wachsen mit dem Trauma auf
Isra Saleh
El-Namey -
14.01.2016
Mansurs Mutter hat
lange Zeit gebraucht, um mit der wechselnden
Persönlichkeit ihres 12-jährigen Sohnes zurecht
zu kommen.
Mansur, der früher
ein sehr guter Schüler war, ist aggressiv und
ungehorsam geworden. Er ist nicht mehr so gut in
der Schule, sagt seine Mutter, und er leidet an
nächtlichen Albträumen.
Mansurs Mutter kann
seine Veränderung auf den Krieg Israels von 2014
datieren.
"Vorher war er ein
sehr guter Schüler. Er war immer ein fröhlicher
Junge", erinnert sie sich.
Während des Angriffs
musste die Familie ihre Wohnung verlassen und in
einen Schutzraum der UN ziehen, eine Schule, die
dann auch bombardiert wurde. Seit damals,
erzählt Mansurs Mutter Electronic Intifada, ist
er in der Schule und zu Hause lieber allein. Er
hat auch angefangen, das Bett zu nässen.
"Bei lauten
Geräuschen wie dem Donner erschrickt er sehr
leicht", sagt seine Mutter, die wie andere
Familienangehörige, die dazu interviewt worden
sind, nicht namentlich genannt werden will, um
ihre Privatsphäre zu schützen.
Das sind klassische
Zeichen einer Posttraumatischen
Belastungsstörung (PTSD), allerdings werden
medizinische Fachleute des Gaza Communitiy
Mental Health Care Program (GCMHP) nicht müde zu
betonen, dass es in Gaza kein "post" gibt.
GCMHP, Gazas
bestbekannter Behandlungsservice für psychische
Gesundheit, wurde 1990 gegründet und hat seit
dem Angriff von 2014 einen starken Anstieg der
Zahl von Kindern und Erwachsenen mit PTSD
verzeichnet.
Psychologische
Erste Hilfe
Laut Dr. Yasser Abu
Jamei, Direktor der Organisation, wurde in den
sechs Monaten nach dem Krieg bei 51% der
Kindern, die Leistungen des GCMHC erhielten,
PTSD diagnostiziert.
"Seit dem Krieg
waren die Leute so davon in Anspruch genommen,
ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, dass
sie ihr psychisches Wohlbefinden vernachlässigt
haben", sagte Zahia Al-Qarra, ein Fachmann für
psychosoziale Behandlung, The Electronic
Intifada.
Die ganze
Bevölkerung ist betroffen von dem enormen Stress
während der 51 Tage von Bombardierungen – ebenso
wie während der beiden großen Kriege der letzten
neun Jahre – und der neun Jahre dauernden
Blockade durch Israel, die noch immer den
Großteil des (nötigen) Wiederaufbaus verhindert,
sagte Al-Qarra.
Untersuchungen aus
der Zeit vor dem Angriff von 2014 zeigten
bereits ein hohes Niveau von PTSD in der
Bevölkerung von Gaza als Folge früherer Kriege
und Traumen.
In dieser Situation
haben Fachkräfte für die psychosoziale
Behandlung zu kämpfen, um Schritt halten zu
können.
"Unsere Arbeit
besteht darin, den Betroffenen psychologische
Erste Hilfe zu geben", sagte Al-Qarra.
GCMHP hat besonders
den Kindern Aufmerksamkeit geschenkt. Sie haben
einen alarmierenden Anstieg der Zahl von Kindern
mit ein oder mehreren Symptomen von PTSD
registriert, Aufmerksamkeitsdefizite,
Schlafwandeln, Gedächtnisstörungen, nächtliche
Albträume und andere Angststörungen.
Fast ein einhalb
Jahre nach dem Krieg fürchtet Mansur noch er
werde sterben. Er befürchtet, dass giftige
Insekten nachts in sein Zimmer kommen und ihn
beissen. "Ich habe das Gefühl, dass ich mit
einem Messer in meinem Herzen herumlaufe", sagte
er.
Der Grund für seine
Angst ist kein Geheimnis. In der Wohnung seiner
Familie sieht man noch immer die Narben des
intensiven Bombardements von Beit Hanoun im
nördlichen Gazastreifen während des Massakers
von 2014.
Aber es gibt weder
Geld noch Material, um die Löcher in den Wänden
zu reparieren.
Die Art angstvoller
Vorstellungen, die Mansur quälen, ist laut
Al-Qarra bei Kindern sehr häufig.
GCMHP arbeitet mit
Kindern wie Mansur, um ihnen zu ermöglichen,
ihre Ängste auf andere Weise auszudrücken.
"Wir sehen die
Narben des Krieges ganz deutlich in dem, was
Kinder produzieren, in ihren Erzählungen und
ihren Malereien", sagte Al-Qarra. "Wozu sie beim
Zeichnen tendieren, das sind zu Staub gemachte
Gebäude und am Boden liegende verstümmelte
Körper."
Prioritäten
GCMHP sagt, es habe
28 Fachkräfte für psychosoziale Behandlung in
neun Teams in mobilen Kliniken mobilisiert, um
den aufkommenden Bedürfnissen nachzukommen.
Laut Al-Qarra haben
diese Kliniken fast 21.500 Kinder und Erwachsene
erreicht, die sonst nie eine Behandlung bekommen
hätten und sich eine solche auch nicht leisten
könnten.
Es sind Kliniken wie
diese, die Kinder wie Mansur oder Salim
erreichen.
Bei dem gerade
einmal 9 Jahre alten Salim wurde eine
obsessiv-compulsive Störung diagnostiziert. Seit
dem Angriff von 2014 berührt er ständig
Oberflächen, Tische und Wände. Er hat angefangen
sich Haarbüschel auszureissen.
Salims Mutter hat
mit GCMHP Kontakt aufgenommen, weil sie
niemanden sonst hatte, an den sie sich hätte
wenden können. "Wegen dieser Angewohnheit hat er
eine Menge Haare verloren. Und er kann nicht
aufhören", erzählt sie Electronic Intifada. Sie
musste in Salims Schule gehen, um seinen Lehrern
und Freunden seine Situation zu erklären.
"Ich möchte nicht,
dass ihn irgendjemand wegen seiner Haare
anspricht. Negative Bemerkungen von andern
könnten seine Behandlung stören", sagte Salims
Mutter.
Behandlung an einem
Ort, an dem so viele Menschen traumatisiert
sind, ist eine fast nicht zu bewältigende
Herausforderung. Wegen der großen Nachfrage
behandelt GCMHP vorrangig Familien mit Toten
oder Verletzten, oder deren Wohnung ganz oder
teilweise zerstört worden ist.
Bei so vielen
Patienten sind Gruppensitzungen praktisch, aber
die Psychiater, Psychologen und Pfleger, die mit
dem CMHP arbeiten, setzen einen Mix
verschiedener Methoden einschließlich Gruppen-
und Einzeltherapie sowie Spieltherapie für
Kinder ein.
Unterstützung der
Gemeinschaft
Klinische
Interventionen können aber ohne weitere soziale
Unterstützung nicht erfolgreich sein.
"Ein
Gemeinschaftsorientierter Ansatz ist integraler
Teil unserer Behandlung. Die Familie, die Schule
und alle anderen kulturellen und religiösen
Institutionen wirken bei der Unterstützung von
Menschen mit psychischen Problemen mit", sagte
Al-Qarra.
"Wir versuchen den
Kindern zu versichern, (dass wir alles tun
werden), was wir können, damit sie sich wieder
sicher fühlen", fügte Al-Qarra hinzu.
"Erinnerungen an den Krieg sind tief in ihr
Gedächtnis eingegraben."
Aber in Gaza fühlt
sich niemand sicher. Aufeinander folgende
israelische Angriffe haben dem verelendeten
Gebiet, dass sich nicht gegen sie verteidigen
kann, großen Schaden zugefügt.
Versicherungen, dass
alles besser werden würde – wie sie Erwachsene
Kindern geben – klingen falsch, wenn die Häuser
nicht wieder aufgebaut werden, wenn es keine
Jobs und keine Hoffnung für die Zukunft gibt.
Es gibt keine
Gewißheit, dass der Horror, den die
Palästinenser in Gaza erlebt haben, der letzte
sein wird. "An jedem Jahrestag des Krieges hört
man die Leute darüber spekulieren, dass sich ein
neuer Konflikt abzeichnet", sagte Al-Qarra.
Internationale
Versprechungen vom Oktober 2014 für einesn noch
nie dagewesenen Geldbetrag für den Wiederaufbau
von Gaza hat den Menschen für einen seltenen
Augenblick Optimismus gegeben.
Vieles von diesem
Geld kam nie in Gaza an (wurde nicht
verwirklicht), und die israelische Blockade für
Einfuhr und Ausfuhr von Gütern ist bestehen
geblieben. In der Folge ist die Verzweiflung mit
noch größerer Intensität zurückgekehrt, sagte
Al-Qarra.
Verlorene
Hoffnung
Der 8-jährige Ayman
stammt aus Rafah, der südlichsten Stadt des
Gazastreifens, die nach Berichten, dass der
palästinensische Widerstand einen isrelischen
Soldaten gefangen genommen hätten, am 1. August
2014 besonders intensiv von Israel unter
Anwendung der sogen. Hannibal-Direktive
bombardiert worden ist.
Israels wahllose,
wilde Bombardierungen von Wohnhäusern hat viele
Zivilisten getötet und waren nach der
Schlußfolgerung von Amnesty International vom
Wunsch nach Rache motiviert.
Damals flüchtete
Aymans Familie voller Angst. Ihr Haus wurde
teilweise zerstört, aber sie konnten
zurückkehren und leben jetzt dort.
Seit damals meidet
Ayman Gesellschaft und neigt zu plötzlichen
Stimmungs-schwankungen.
"Er ist schrecklich
abgesondert vom Rest der Familie", sagte seine
Mutter.
Er ist leicht
irritiert und meidet Gespräche über den
Krieg.
Bei Ayman wurde eine
Panikstörung diagnostiziert, er besucht jetzt
regelmäßige Therapiesitzungen in einer Klinik,
die GCMHP angeschlossen ist.
Aber seine Mutter
entdeckt bei ihm noch immer Angst und
Entfremdung.
"Er hat die Hoffnung
verloren, jemals ein leichtes Leben zu haben. Er
ist sich sicher, dass er scheitern wird."
Isra Saleh
Al-Namey ist ein Journalist aus Gaza
Quelle
Übersetzung: K. Nebauer