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Beten für
die Freiheit: Warum bringt Israel den
Gebetsruf in Jerusalem zum Schweigen?
Ramzy Baroud -
17.11.2016
In meiner Kindheit hat mich der Klang des 'Muadhin',
der in der Hauptmoschee unseres
Flüchtlingslagers in Gaza zum Gebet rief,
immer beruhigt. Immer wenn ich frühmorgens
den Ruf hörte, der uns mit melodischer
Stimme ankündigte, dass es Zeit für das 'Fajr'(Morgendämmerung)-Gebet
war, wußte ich, dass ich jetzt in Sicherheit
schlafen gehen konnte.
Natürlich hat der Gebetsruf im Islam wie der
Klang der Kirchenglocken eine tiefe
religiöse und spirituelle Bedeutung; er
hatte sie ohne Unterbrechung in den letzten
15 Jahrhunderten fünf Mal am Tag. Aber in
Palästina haben solche religiösen
Traditionen auch eine tiefe symbolische
Bedeutung.
Für die Flüchtlinge in meinem Lager
bedeutete es, dass die israelische Armee das
Lager verlassen hatte, ihre Angst
verbreitenden, gewalttätigen nächtlichen
Razzien beendet hatte, die Flüchtlinge -
trauernd oder tot, verwundet oder
festgenommen – hinter sich gelassen und dem
'Muadhin' freigelassen hatten, die alten,
verrosteten Türen der Moschee zu öffnen und
den Gläubigen zu verkünden, dass einer neuer
Tag begonnen hatte.
In diesen Tagen des ersten palästinensischen
Aufstands, als die Kollektivstrafen der
palästinensischen Gemeinden in den besetzten
Gebieten jede erträgliche Grenze
überschritten, war es fast nicht möglich
schlafen zu gehen.
Das war, bevor in der Moschee in unserem
Lager – dem Nuseirat Flüchtlingslager im
zentralen Gazastreifen – neben anderen
Moscheen eine Razzia stattfand und der Imam
verhaftet wurde. Als die Tore der Moschee
auf Anordnung der Armee geschlossen und
versiegelt wurden, kletterten wir während
der militärischen Ausgangssperre auf die
Dächer unserer Häuser und verkündeten
trotzdem den Ruf zum Gebet.
Sogar unser 'kommunistischer' Nachbar machte
das – ein Mann, der in seinem ganzen Leben
nie einen Fuß in die Moschee gesetzt hatte,
wie man uns erzählt hatte!
Es war nicht mehr nur eine religiöse
Angelegenheit, sondern ein Akt des
kollektiven Widerstands (defiance), der
bewies, dass auch Anordnungen der Armee die
Stimme des Volkes nicht zum Schweigen
bringen konnten.
Der Gebetsruf bedeutete Kontinuität,
Überleben, Wiedergeburt, Hoffnung und
Schichten über Schichten von Bedeutungen,
die von der israelischen Armee nie wirklich
verstanden, aber immer gefürchtet wurden.
Die Angriffe auf die Moscheen fanden nie ein
Ende.
Nach den Berichten der Regierung und der
Medien, wurde in dem israelischen Krieg
gegen den Gazastreifen 2014 ein Drittel der
Moscheen zerstört. 73 Moscheen wurden durch
Raketen und Bomben vollständig und 205
teilweise zerstört. Dazu gehörte auch die
al-Omari-Moschee in Gaza, die auf das Jahr
649 A.D. zurückgeht. Auch die Hauptmoschee
von Nuseirat gehörte dazu, deren Gebetsruf
mir in meiner Kindheit so viel Frieden und
Ruhe gab, dass ich schlafen gehen konnte.
Jetzt beginnt Israel den Gebetsruf in
palästinensischen Gemeinden zum Schweigen zu
bringen, und fängt damit in Ost-Jerusalem
an.
Das Verbot wurde nur wenige Wochen, nachdem
die UNESCO (UN-Organisation für Erziehung,
Wissenschaft und Kultur) zwei Resolutionen
verabschiedet hatte, die die rechtswidrigen
Praktiken Israels in der besetzten
arabischen Stadt verurteilten. Die UNESCO
forderte, dass Israel solche Praktiken
unterlässt, die das Völkerrecht verletzen
und den status quo einer Stadt, die für alle
monotheistischen Religionen von zentraler
Bedeutung ist, verändern sollen.
Nach einer erfolglosen Kampagne gegen die
Bemühungen der UNO, bei der sie so weit
gingen, die internationale Institution des
anti-Semitismus zu beschuldigen, führen
israelische Funktionäre für das Verdikt des
UNESCO Strafmassnahmen durch und verhängen
Kollektivstrafen über die nicht-jüdischen
Einwohner von Ost-Jerusalem.
Dazu gehört der Bau weiterer jüdischer
Wohnungen, die Drohung tausende arabische
Häuser zu zerstören und neuerdings die
Einschränkung des Gebetsrufs in mehreren
Moscheen.
Das begann alles am 3. November, als sich
eine kleine Gruppe Siedler aus der illegalen
Siedlung Pisgat Zeev vor dem Haus des
Bürgermeisters von Jerusalem, Nir Barakat,
versammelte. Sie verlangten, die Regierung
solle die 'Lärmbelästigung', die von den
Moscheen der Stadt ausginge, beenden.
Die 'Lärmbelästigung' – auf die sich die
meist europäischen Siedler bezogen, die erst
vor kurzem nach Palästina gekommen waren –
sind die Gebetsrufe, die es dieser Stadt
seit 637 A.D. gibt, als Kalif Umar in die
Stadt kam und von allen Einwohnern
unabhängig von ihrem Glaubenbekenntnis
Respekt (gegenüber dem Gebetsruf) verlangte.
Der israelische Bürgermeister kam ihnen
sofort entgegen. Ohne Zeit zu verlieren,
begannen israelische Soldaten Moscheen zu
stürmen, einschließlich der Moscheen
al-Rahman, al-Taybeh und al-Jamia im
Jerusalemer Stadtteil Abu Dis.
Die von Ma'an und anderen Medien zitierte
International Business Times berichtete:
"Offiziere der Armee kamen vor Morgengrauen,
um die Muezzins, die für den Gebetsruf [...]
verantwortlich sind, von dem Verbot zu
informieren und hinderten die Muslime am Ort
daran, die Gebetsstätten zu erreichen."
Fünf Mal am Tag zu beten, ist die zweite der
fünf wichtigsten Säulen des Islam, und mit
dem Gebetsruf werden die Muslime eingeladen
ihre Pflicht zu erfüllen.
Es ist auch ein essentieller Teil der
innersten Jerusalemer Identität, wo
Kirchenglocken und der Gebetsruf der
Moscheen oft harmonisch miteinander verwoben
daran erinnern, dass Koexistenz wirklich
möglich ist.
Aber eine solche Koexistenz ist mit der
israelischen Armee, der Regierung und dem
Bürgermeister der Stadt nicht möglich, die
das besetzte Ost-Jerusalem wie eine Bühne
für politische Vergeltung und
Kollektivbestrafung behandeln.
Das Verbot des Gebetsrufs ist eine
Erinnerung, dass Israel über die verwundete
Heilige Stadt herrscht und eine Botschaft,
dass Israels Kontrolle, auch in jedem
anderen Bereich, über seine greifbare
Existenz hinaus geht.
Israels Variante eines Siedlerkolonialismus
ist beinahe beispiellos. Es sucht nicht
einfach die Kontrolle, sondern die
vollständige Vorherrschaft.
Als die Moschee in meinem früheren
Flüchtlingslager zerstört war und bald
danach mehrere Leichen aus den Trümmern
gezogen und begraben worden waren, beteten
die Bewohner des Lagers oben auf dem Schutt
und rund herum.
Diese Praxis wurde überall in Gaza
nachgeahmt, nicht nur während dem letzten
Krieg, sondern auch in den vorher gehenden.
In Jerusalem haben sich Palästinenser, wenn
sie daran gehindert wurden, ihre heiligen
Stätten zu erreichen, oft in großer Menge
hinter den Checkpoints der israelischen
Armee versammelt und gebetet. Auch das ist
eine Praxis geworden, die während fast 50
Jahren beobachtet wird, als Jerusalem der
israelischen Armee zufiel.
Weder großer Druck noch Anordnungen der
Armee kann das wieder rückgängig machen.
Während Israel die Macht hat Imame zu
verhaften, Moscheen zu zerstören, die
Gebetsrufe zu verhindern, hat der
palästinensische Glaube eine weit
beeindruckendere Stärke gezeigt, indem
Jerusalem niemals aufgehört hat seine
Gläubigen, wie auch immer, zu rufen, und
niemals aufgehört hat zu beten. Für Freiheit
und für Frieden.
Quelle
Übersetzung: K. Nebauer
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