Metaphysik oder Politik ?
Dr. Eyad El-Sarraj, 7.5.06
Vor zwei Tagen traf
ich den Korrespondenten der New York Times. Er war traurig. Er erzählte
mir nach seinem deprimierenden Gang durch das Shifa-Krankenhaus, dem
größten Krankenhaus im Gazastreifen, dass es dort ein großer Mangel an
Medikamenten herrscht.
Er ist genau wie ich
und jeder andere hier von den sich verschlechternden Lebensbedingungen
alarmiert, die schnell in eine humanitäre Katastrophe übergehen. Der
Finanzminister kündigte an, dass es für die 150 000 pal. Angestellten
keine Gehälter gibt. UN-Projekte werden ausgesetzt, weil Israel kein
Baumaterial die Grenze passieren lässt. Ein israelischer
Energie-Lieferant hat angekündigt, dass er mit der Lieferung von Benzin
und Gas an Palästinenser aufhören wird. Warenverkehr über die Grenze
gibt es nur mehr tröpfchenweise.
Bald wird das Leben
hier zum Stillstand kommen, während palästinensische Militante weiter
Qassam-raketen über die Grenze feuern werden – 99% von ihnen sind
harmlos oder explodieren auf palästinensischen Häusern – und Israel
bombardiert weiter den Gazastreifen. Israelische F 16, Panzer, Dronen
und Apachenkampfhubschrauber liefern im Durchschnitt täglich 300 Bomben
und Raketen zu einem Kostenpunkt von 1 Mill. Shekel. Sie sind ein
permanenter Teil des Himmels.
Seit Jahren gibt es
einen Aufruf zum Boykott Israels, dem Aggressor Goliath. Aber nun wendet
sich die internationale Gemeinschaft damit gegen den palästinensischen
David .
Welch Ironie.
Dieses neue Kapitel
der palästinensischen Tragödie wurde eröffnet, als Hamas die
demokratischen Wahlen vor drei Monaten gewann, eine Wahl, die ein
leuchtendes Beispiel für den restlichen Nahen Osten ist, wenn man von
der „Demokratie-Oase“ Israel absieht.
Der Hamas-Sieg hat
die Tür für alle möglichen guten oder schlechten Szenarien aufgerissen.
Die Hauptakteure des Spieles sind verwirrt und waren nicht darauf
vorbereitet. Während die US-Regierung dem demokratischen Prozess
applaudierte, war sie gegenüber Hamas unerbittlich mit ihren
Bedingungen: Israel anzuerkennen, auf Terror verzichten und die Road Map
anerkennen, bevor sie sich im Kabinett damit befasst hat. Und Europa
schloss sich schnell diesen Bedingungen an. Dann begann Washington über
Boykott und das Zurückhalten der Hilfsgelder zu reden. Schließlich
machte sie klar, dass sie wünscht, dass die Hamasregierung fehl
schlägt. Ein amerikanischer Diplomat sagte zu mir, dass die USA kein
Problem mit Islamisten habe, wenn sie demokratisch zur Macht kommen, sie
müssten allerdings die Spielregeln beachten - und sie würden weiter den
Terror und terroristische Organisationen bekämpfen. Er fügte dem hinzu,
dass es arabische korrupte Regierungen seien, die versuchen, Amerika zu
beschuldigen, auf Demokratie zu bestehen, weil diese Regime so unsicher
und moralisch korrupt seien.
So unerbittlich wie
Hamas sich weigert, Israel anzuerkennen und die Bedingungen des
palästinensischen Präsidenten bei der Bildung der Regierung anzunehmen,
indem sie seine eigenen Richtlinien beachte und mit Gewalt aufhöre, mit
Verhandlungen beginne, während die notwendigen Reformen eingeführt
werden.
Hamas entschied,
dass es ungerecht sei, die Anerkennung Israels zu verlangen, solange
Israel nicht bereit sei, die palästinensischen Rechte anzuerkennen.
Hamas erinnert die Palästinenser, dass Arafat und Abbas nichts für ihre
Anerkennung Israels erhalten haben.
Qassam-Raketen
werden weiter vom Gazastreifen aus von militanten Gruppen abgefeuert.
Hamas nennt sie Selbstverteidigung und sieht nicht, dass diese
hausgemachten unnützen Granaten Israel die Rechtfertigung geben, mit dem
Bombardieren fortzufahren, was schon viele Familien gezwungen hat aus
dem nördlichen Teil des Gazastreifens zu fliehen.
Während Präsident
Abbas das Selbstmordattentat, dass der islamische Jihad in Israel
ausführte, verurteilte und es als schändlich beschreibt, erklärt Hamas
auch dieses als eine Art Selbstverteidigung gegen die israelische
Besatzung. Hamas verurteilte aber den Terrorakt in Dahab in Ägypten.
Offensichtlich gibt es einen Unterschied zwischen unschuldigen Ägyptern
und unschuldigen Israelis. Abbas sagte, der Terror habe dem moralischen
Standpunkt der gerechten palästinensischen Sache sehr geschadet. Hamas
bleibt fest bei ihrem Standpunkt, dass Israel die Ursache sei . Doch ist
es woederum die Hamas, die sich in den letzten 18 Monaten klar von
jeglicher Gewalt gegen Israel enthalten hat und die sich bereit
erklärt habe, einen Waffenstillstand auf unbestimmte Zeit zu erklären.
Deshalb versuchen ein paar Fatahmilitante Hamas in eine peinliche Lage
zu bringen, indem sie ihre eigene Kampagne gegen Israel vor allem mit
Qassamraketen ausführen.
Hamas Position zur
Frage der Anerkennung Israels ist jedoch mehr als Politik. Die Frage der
Anerkennung Israels ist für die Araber schon immer ein brennendes
Problem gewesen. Es ist kein politisches Thema, sondern eher ein
emotionales. Die Niederlage der Araber und der Verlust des Heiligen
Landes ist wie eine offene Wunde, die durch Israels brutale Arroganz der
Macht vertieft wird, auch durch die totale Leugnung der Verantwortung
für die Enteignung der Palästinenser und die Nichtanerkennung der
Araber als nicht gleichwertige Menschen. Die Araber betrachten den
Konflikt mit Israel als ein Ungleichgewicht zwischen dem militärischen
Aggressor, der sich in Macht und Ruhm aalt und einer besiegten Nation,
die auf Grund ihrer Machtlosigkeit demütigend bezwungen wurde.
Der Aufstieg von
Hamas und anderen Islamisten des Nahen Ostens ist ein Ruf an den
allmächtigen Gott, an Allah, er möge den Gläubigen zur Seite zu stehen.
Es ist ein Ausdruck der Schuld, nicht fähig gewesen zu sein, Gottes
heiliges Land zu verteidigen und außerdem ein Ausdruck der Trauer über
dessen Verlust.
Der andere
bedeutende Grund, Israel nicht anzuerkennen ist der, dass Hamas – wie
alle anderen islamischen Bewegungen – das Land Palästina als eine art
Waqf betrachten, ein geheiligtes oder heiliges Land, das islamisch sein
muss.
Hamas macht seit
Jahren und auch kürzlich durch verschiedene Sprecher klar, dass sie
bereit sei, Palästina in den Grenzen von 1967 mit Jerusalem als
Hauptstadt zu akzeptieren.
Aber sie sagte
niemals, dass sie dafür die Anerkennung Israels in betracht ziehen
würde. Es ist ein derart ideologischer Standpunkt, dass es so aussieht,
als wäre sie an Politik nicht interessiert. Die Dynamik, die hinter
Hamas stand, als sie in die Wahlen ging, war nicht die Verhandlung eines
Friedensabkommens. Und es ging nicht darum, einen neuen Krieg zu
beginnen. Hinter Hamas stand die Strategie und das Ziel der Muslimischen
Bruderschaft: die arabischen Gesellschaften zu islamisieren, die Leute
zu guten Muslimen zu machen und einen islamischen Staat zu errichten, in
dem die Umma, die ganze muslimische Welt zu Hause ist.
Allein aus diesem
Grund wird Hamas die Macht nicht aufgeben.
Fatah, die einmal
Arafats Werkzeug war, steckt in einer tiefen Krise; sie hat nicht nur
eine Niederlage erlitten und ist zersplittert, sie ist völlig durch
einander und begreift nicht, was geschehen ist. Auf der einen Seite
haben wir H. Abbas, den Präsidenten der palästinensischen Behörde und
den Chef der Fatah, der die Legitimität symbolisiert, aber dem der
Zusammenhalt und die Macht fehlt. Auf der andern Seite haben wir H.
Dahlan, der die jüngere Generation der Fatah-Führer vertritt , ehrgeizig
und stark, aber von vielen Fatahrivalen bekämpft wird. Es war
beobachtet worden, dass Abbas seine Macht anscheinend mit einer
erweiterten Präsidentenwache, mehreren Beratern und Fachleuten und sogar
Militärkommandeuren verstärkte. Von Hamas wurde dies als ein Versuch
gedeutet, ein Schattenkabinett zu errichten. ...Mittlerweile finden in
Gaza und in der Westbank Familienfehden und Gangsterkriege statt, die
mit Gewalt ausgetragen werden. Die Hamasregierung entschied, für die
Miliz einen obersten Sicherheitsoffizier zu ernennen. Abbas weigerte
sich, die Ernennung anzuerkennen.
Gewalttätige
Demonstrationen brachen zwischen den Studenten der Al-Azhar Universität,
einer Fatah-Festung, und der benachbarten Islamischen Universität,
hinter der Hamas steht, aus. Die Studenten bewarfen sich mit Steinen.
Der Machtkampf geht weiter: bewaffnete Fatah-Miliz stürmte das Büro des
Gesundheitsministers. Der Minister rief die Aqsa-Brigade der Hamas, die
nach wenigen Minuten ankam und Fatahleute verhaftete. Jetzt weiß man,
dass Hamas Militärtruppen in Alarmbereitschaft stehen.
Die politische
gewalttätige Konfrontation zwischen Fatah und Hamas wird nicht
nachlassen, da keiner nachgeben wird. Die Fatah kann nicht damit fertig
werden, dass sie die Macht verloren hat, während Hamas beschlossen hat,
nicht aufzugeben. Die gefährliche Rivalität wird noch durch den
wirtschaftlichen und sozialen Kollaps verschlimmert. Und als ob das
nicht schon genug wäre, ist nun auch noch die Vogelgrippe ausgebrochen.
Die israelische
Regierung wird der letzte Wohltäter des palästinensischen Chaos sein. Da
sich Hamas selbst zum Nicht-Partner für Friedensgespräche erklärt hat,
hat sie an Ministerpräsident Olmert eine wichtige Trumpfkarte gegeben.
Er kann nun einseitig festlegen, wo die Grenzen Israels liegen werden,
dass die Mauer fertig gestellt wird, die großen israelischen
Siedlungsblöcke in der Westbank unter israelische Regierung bleiben
werden und dass Israel nur jüdisch sein wird.
Nun haben wir es
also: eine israelische Regierung, die einen jüdischen Gott und jüdisches
Land für sich in Anspruch nimmt gegen eine palästinensische Regierung,
die einen muslimischen Gott und dasselbe Land in Anspruch nimmt. Und in
der Ferne am Horizont verlässt sich eine amerikanische Regierung auf
wieder-geborene Christen und Neokonservative.
Als ich 1992 als
Mitglied der palästinensischen Delegation bei den Friedensgesprächen in
Washington war, war ich Zeuge eines Wortwechsels zwischen Haider Abdel
Shafi, dem Leiter unseres Teams, mit Elyakim Rubinstein. Letzterer
drückte seinen Anspruch auf das Land aus: es sei grundsätzlich jüdisch,
das Gott es den Juden versprochen habe. Ich dachte damals, wir sollten
jetzt vielleicht Hamas rufen, um den islamischen Anspruch zu verhandeln.
War das eine Vorwarnung?
Dr. El-Sarraj ist
Direktor des Gaza
Community Menthal Health Programm
(dt Ellen Rohlfs)
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