"Sobald ich das Permit
habe, komme ich zu dir zurück."
Von
Lama Hourani*), Gaza City, 9.6.2006
"Sobald
ich das Permit habe, komme ich zu dir
zurück. Das nächste Mal lasse ich Papa
alleine reisen. Ich möchte bei dir
bleiben." Luai erzählt mir das immer,
wenn ich mit ihm spreche. Er wartet
unruhig auf die Erlaubnis, nach Hause
kommen zu können. Er ist zwischen
Nablus, Amman, Damaskus und wieder Amman
hin und her gereist. Nächste Woche wird
er nach Nablus gehen, um dort auf das
Permit für Gaza zu warten.
Wenn
andere davon hören, dass ein
vierjähriges Kind in einem Sommer drei
Länder bereist, könnten sie ihn
vielleicht beneiden und bei sich denken,
"Was für ein glückliches Kind mit
reichen Eltern!" Vielleicht würde ich
das auch tun. Doch das ist die einzige
Möglichkeit, die das Kind hat, um seine
Grosseltern, Onkel, Cousins und Tanten
zu sehen. Es ist so, weil es ihnen
verboten ist, sich in ihrem Heimatland
oder in irgendeinem Land in der Nähe,
gemeinsam an einem Ort zu treffen, weil
sie palästinensische Flüchtlinge sind.
Mein
Mann und seine Familie sind Flüchtlinge
aus Jaffa, die seit 1948 in der Stadt
Nablus (der historischen Stadt Neapolis)
in der West Bank gelebt haben. Sicher,
mein Mann Adi ist nicht so alt. Er wurde
1963 in Nablus geboren.
Adi hat
drei Brüder und zwei Schwestern. Er ist
der jüngste. Die zwei Schwestern sind
verheiratet und leben mit ihren Familien
in Amman. Die älteste Schwester, Faten,
hat ihre Identitätskarte von Nablus noch
immer und ist erpicht darauf, ihren
Kindern - sobald sie 15 Jahre alt sind -
Identitätskarten von Nablus ausstellen
zu lassen, trotz der Tatsache, dass sie
in Amman leben. Fatens Kinder wurden
alle in Kuwait geboren, wo sie bis zum
ersten Golfkrieg mit dem Irak - 1991 -
gelebt hat. Die andere Schwester, Abeer,
hat ihre Nabluser Identitätskarte vor
Jahren verloren, als sie einen
Verwandten in Jordanien heiratete. Abeer
hat auch drei Kinder, aber der Familie
ist es nicht erlaubt, in die West Bank
zu kommen, weil sie keine
Identitätskarten haben und ihnen seit
mehr als 6 Jahren von der israelischen
Botschaft in Amman weder Permits, noch
Visas ausgestellt wurden. Zwei von
Abeers Kindern sind in Bagdad auf die
Welt gekommen, das sie 1989 verlassen
hat, um nach Amman zu gehen, wo ihr
drittes Kind geboren wurde.
Adis
Bruder Riyad hat auch drei Kinder. Zwei
sind in den Vereinigten Staaten und
eines in Saudiarabien geboren. Riyad hat
seine Identitätskarte Mitte der 70er
Jahre verloren, als er in der PLO aktiv
war, Nablus verlassen hat und sich
zwischen verschiedenen Ländern bewegt
hat: Ägypten, Jordanien, USA und zuletzt
Saudiarabien. Sicher, er hat einen
amerikanischen Pass, der es ihm - mit
Schwierigkeiten - ermöglicht, sein
Heimatland zu besuchen.
Mousa,
Adis zweiter Bruder, hat Nablus nie
verlassen. Er hat 4 Kinder, die alle in
Nablus geboren wurden und dort leben.
Ihm gehört eine Wäscherei, aber wegen
der schlechten wirtschaftlichen
Situation seit der ersten Intifada,
bringt dieses Geschäft kein Einkommen
für die Familie. Adis Mutter lebt in
Nablus mit Mousa und seiner Familie im
selben Haus. Sie hat selbstverständlich
eine Identitätskarte.
Ahmed,
der letzte Bruder, hat auch vier Kinder.
Er hat seine Identitätskarte nicht mehr
bekommen, seit er in den 80ern in der
PLO aktiv war, seine Cousine in Amman
geheiratet hatte und vier Kinder bekam.
Er hat dazu entschieden, es 1997 zu
riskieren, als Besucher mit seiner
Familie nach Nablus zu kommen. Er hat
eine Identitätskarte beantragt, aber bis
jetzt haben weder er, noch seine Familie
eine erhalten. Aus diesem Grund kann
sich - wegen der Checkpoints an den
Stadtgrenzen - niemand von ihnen aus der
Stadt Nablus bewegen.
Adi hat
eine Identitätskarte, weil er sich
während seines Studiums im Ausland immer
darum bemüht hat, sowohl die
Identitätskarte, als auch seine
Reise-Permits bei den Besatzungsbehörden
zu erneuern.
Nun
erzähle ich Ihnen von meiner Familie.
Meine Eltern sind beide Flüchtlinge, die
in Syrien gelebt haben und seit 1948
nie eine Chance hatten, Palästina zu
besuchen, so wie es bei den meisten
Flüchtlingen der Fall ist. Meine zwei
Schwestern und ich wurden in Syrien
geboren. Die gesamte Familie hatte immer
syrische Reisedokumente für
palästinensische Flüchtlinge und eine
Identitätskarte für Flüchtlinge. Meine
jüngste Schwester Laila lebt in Damaskus
und ist mit einem Syrer verheiratet. Sie
hat jetzt einen syrischen Pass, mit dem
sie sich in der arabischen Welt leichter
bewegen kann. Im Gegensatz zu unserer
Mutter, die auch in Syrien lebt. Sie hat
noch immer Flüchtlingsdokumente und
deshalb ist ihr ein Besuch in den
meisten arabischen Ländern nicht
erlaubt.
Lina,
meine andere Schwester, ist mit einem
Amerikaner verheiratet und hat zwei
Kinder. Sie haben alle Pässe der
Vereinigten Staaten. Das ist der Grund,
warum sie und ihr Mann 2002 nach
Ramallah kommen konnten, um dort zu
leben und zu arbeiten. Sie blieben
solange, bis es schwierig für sie war,
das drei Monate gültige Touristenvisum
zu bekommen, das von den Israelis für
AusländerInnen ausgestellt wird, die
sich in Israel und den Besetzten
Gebieten aufhalten. Das ist eine neue
Vorschrift, die die Besatzungsbehörden
eingeführt haben, um AusländerInnen
palästinensischer Herkunft zu verbieten,
nach Palästina zu kommen.
Mein
Vater lebt aus vielen Gründen in Wien,
nicht etwa deshalb, weil er reich ist
oder weil er das ruhige Wiener Leben
liebt. Seine Frau ist amerikanische
Staatsbürgerin. Er hat eine
Reisedokuments-Identitätskarte der
Palästinensischen Autonomiebehörde
(Travel Document Identity Card). Mein
Vater wurde in Al-Masmiyya geboren, das
1948 zerstört wurde (das Land auf dem
dieses Dorf stand, liegt heute in
Israel), aber ihm wurde seit 1995 nicht
erlaubt, die Besetzten Gebiete zu
besuchen. Nie wurde es ihm aber
gestattet, durch Israel zu reisen - so
muß er jedes Mal, wenn er nach Gaza
kommt (Asien) und die West Bank besuchen
möchte, nach Ägypten (Afrika)
zurückkehren, mit dem Flugzeug nach
Amman (Asien), um dann über die
AllenbyBridge in die West Bank (Asien)
zu gelangen.
Ich bin
die einzige Tochter, deren Mann
Palästinenser ist. Aus diesem Grund war
es mir möglich, von den
Besatzungsbehörden eine Bewilligung zur
Familienzusammenführung zu bekommen, die
es mir 1994 erlaubte, nach Palästina zu
kommen und hier mit meinem Mann zu
leben. Jetzt lebe ich mit Adi und Luai
in Gaza.
Die
Leute könnten sagen: "Wow! Was haben
diese Familien für ein reiches Leben,
die Kinder haben die Chance, viele
Länder zu besuchen und so viele Kulturen
kennenzulernen." Das wäre wahr, wenn
diese Familien keine palästinensischen
Familien wären. Weil es ihnen dadurch
nicht erlaubt ist, sich frei zu bewegen
und einander zu treffen. Nie können sich
alle Familienmitglieder an einem Ort
treffen, beispielsweise im Haus der
Grosseltern, nicht einmal ein einziges
Mal im Leben. Falls nämlich der
Aufenthalt für eine Person in einem Land
möglich ist, ist es für eine andere
verboten.
Deshalb
musste Luai an drei Orte reisen, um
seine engsten Familienmitglieder zu
treffen. Er hatte das Glück, dass sein
Grossvater - wenigstens einmal im Jahr -
aus Wien nach Gaza kommen konnte, aber
dieses Jahr sieht es so aus, dass das
nicht möglich sein wird, weil der
Übergang gesperrt ist und Luai nach Wien
müsste, um seinen Grossvater und dessen
Frau zu sehen.
Ich
weiss, Sie könnten noch immer sagen,
dass wir Glück haben. Wenn Sie aber
wüssten, dass die meiste Zeit einer von
uns ohne Arbeit ist und dass wir immer
Geld sparen müssen, nicht für die
Zukunft, sondern für die Reisekosten
solcher Reisen, wenigstens alle zwei
Jahre einmal. Dann werden Sie nicht
sagen, dass wir glücklich dran sind.
Sind
wir denn dabei die einzigen? Ganz sicher
nicht! Ich habe Ihnen nur das Beispiel
einer typisch palästinensischen Familie
gegeben. Ich habe nur unsere kleine
Großfamilie gezeigt. Ich habe dabei
weder Adis Onkel und Tanten (einige von
ihnen leben noch immer in Israel, aber
uns ist es seit Jahren nicht möglich,
sie zu sehen), noch seine Cousins
erwähnt. Ich habe nicht über meine Onkel
und Tanten und deren Kinder gesprochen.
Deshalb ist es eine typische
palästinensische Familie. Ich könnte
irgendeine andere palästinensische
Familie beschreiben und die Situation
wäre sehr ähnlich.
Es ist
leichter, wenn wir über die
Schwierigkeiten sprechen, meine
Schwester in den Vereinigten Staaten zu
sehen oder meinen Schwager in
Saudiarabien, aber wenn es uns nicht
möglich ist, meine Schwiegermutter zu
besuchen, die in Nablus lebt, das nur
zwei Stunden von Gaza entfernt liegt, so
ist das zuviel!
Gut,
Dank der Technologie kann ich jetzt
meine Mutter und meine Schwestern über
Internet sehen. Ich mache das immer,
wenn ich zu Hause Elektrizität habe.
Mein Sohn, sein Vater und meine Familie
in Damaskus haben sogar meinen
Geburtstag auf diese Weise gefeiert.
Luai hat die Kuchen und die Kerzen
vorbereitet und für mich gesungen und
ich habe ihm via Internet dabei
zugesehen und zugehört.
Trotzdem ist es hart. Er hat zum ersten
Mal die Erfahrung von Kino und Theater
genossen und er konnte in den Zirkus
gehen. Diese Freuden und Aktivitäten
gibt es in Gaza nicht. Und Luai kann
schlafen, ohne den Lärm der F16 und der
Helikopter hören zu müssen.
Aber
gleichzeitig wartet er noch immer auf
das Permit der israelischen Armee, damit
er zu seiner Mama nach Hause
zurückkommen kann. Heute, als ich mit
ihm gesprochen habe, sagte er: "Weisst
du, welches der Häuser, in denen ich
gewesen bin, am schönsten war?"
"Welches?" fragte ich und erwartete,
dass er eines seiner Tanten nennen
würde. "Unsere Wohnung in Gaza,"
antwortete er.
*)
l_hourani@yahoo.com
Übers.: Tina Salhi