Palästinensische
Flüchtlinge im Libanon – ein aktueller Erfahrungsbericht
von Clemens Ronnefeldt,
Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen
Versöhnungsbundes
Im Oktober 2009 hatte ich Gelegenheit, im
Rahmen einer Libanonreise der evangelischen Erwachsenenbildung Bad
Kreuznach zwei von zwölf palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon
zu besuchen: Mar Elias und Shatila, beide in Beirut gelegen.
Zur Situation der
Palästinensischen Flüchtlinge
Während der „ethnischen Säuberung
Palästinas“ (so der Buchtitel des israelischen Historikers Illan Pappe)
1947/48 flohen rund 100 000 palästinensische Flüchtlinge aus dem
nördlichen Teil Palästinas in den Libanon, wo die Zahl der offiziell
registrierten Flüchtlinge bis heute auf mehr als 400 000 angewachsen
ist. Von ihnen, so erzählte uns der bekannte palästinensische
Rechtsanwalt Souheil El-Natour, leben inzwischen etwa 100 000 in den
Golfstaaten, weil sie im Libanon offiziell nicht arbeiten dürfen – und
versorgen z.B. von Kuwait oder den Vereinigten Arabischen Emiraten aus
ihre Familienangehörigen im Libanon.
Palästinenser sind auf dem Arbeitsmarkt im
Libanon außerhalb der Flüchtlingslager großen Restriktionen und etlichen
Verboten unterworfen. Das generelle Arbeitsverbot im Libanon in mehr als
70 Berufen wurde im Jahre 2005 von dem zuständigen
Hisbollah-Arbeitsminister für im Libanon geborene Palästinenser
aufgehoben. In akademischen Berufen (Arzt, Apotheker, Rechtsanwalt…)
dürfen Palästinenser weiterhin nicht arbeiten, weil sie nicht in die
Standesverbände aufgenommen werden. Die Lockerung des Arbeitsverbots von
2005 verlangt allerdings eine teure Arbeitserlaubnis in Höhe von einem
Monatsgehalt, die jährlich neu zu verlängern ist. Außerdem müssen
Palästinenser mit Arbeitserlaubnis zwar Sozialabgaben zahlen, kommen
aber nicht in deren Genuss. Die libanesische Regierung handelt nach dem
Grundprinzip: Ausländer werden im Libanon so behandelt, wie Libanesen in
dem entsprechenden Gast-Land behandelt werden. Da Palästinenser aber
keinen Staat besitzen, werden ihnen die eingezahlten Sozialabgaben nicht
ausgezahlt.
Weil sie in vielen Berufen nicht legal
arbeiten dürfen, werden Flüchtlinge als billige Arbeitskraftreserve z.B.
in Krankenhäuser sogar als Ärzte illegal beschäftigt, erhalten
allerdings nur einen Bruchteil des Gehaltes, den ein libanesischer Arzt
oder eine Ärztin verdient.
Etwa 100 000 Palästinenser – so Schätzungen
– versuchen derzeit in Europa, den USA oder anderen Ländern ihr
Schicksal zu verbessern und das Leben ihrer Angehörigen durch
Überweisungen zu erleichtern.
Seit dem Frühjahr 2001 hat sich die
Eigentumsfrage für palästinensische Flüchtlinge noch einmal massiv
verschärft. Es wurde ein Gesetz verabschiedet, dass den Immobilienerwerb
außerhalb der Lager für Palästinenser verbietet. Bereits vor 2001
erworbene Immobilien dürfen beim Tod des Eigentümers nicht an dessen
Kinder weitervererbt werden.
Nach wie vor erhalten Palästinenser - mit
Ausnahme weniger Christen - im Libanon keine Staatsbürgerschaft.
Lediglich 30.000 schiitische Palästinenser, die aus sieben Dörfern in
Nordgaliläa kamen, wurde in den 90ger Jahren auf Betreiben des
libanesischen Parlamentspräsidenten Nabih Berry, der selbst Schiit ist,
die libanesische Staatsangehörigkeit verliehen.
Im konfessionalistischen System des Landes,
das von der Staatsspitze bis in die niedrigsten Verwaltungsämter alle
Posten nach dem Schema Christ (Staatspräsident), Sunnit
(Ministerpräsident) und Schiit (Parlamentspräsident) verteilt, würde
eine Einbürgerung der palästinensischen Flüchtlinge die Zahl der
sunnitischen Muslime um zehn Prozent erhöhen – was insbesondere von den
Christen des Landes nicht gewünscht ist.
Nach der Zerstörung des Flüchtlingslagers
Nahr El Bared bei Kämpfen zwischen der libanesischen Armee und
verschanzten Islamisten im Jahre 2007 stehen zwar internationale Gelder
zum Wiederaufbau bereit, archäologische Funde bei Aufräumarbeiten werden
allerdings derzeit instrumentalisiert, um die Wiederansiedlung der durch
die Kämpfe erneut traumatisierten Flüchtlinge vorerst mittels
juristischer Auseinandersetzungen zu verhindern.
Im Lager Mar Elias,
Beirut
Am südlichen Eingang des Lagers Mar Elias
hängen zwei Foto-Plakate von Jassir Arafat und Sami Kuntar, der als
Jugendlicher 1979 nach einer Kommandoaktion in Israel mit etlichen Toten
auf israelischer Seite gefangen genommen wurde und bis zu seinem
Austausch fast drei Jahrzehnte in israelischer Haft verbrachte. Um ihn
im Rahmen eines Gefangenenaustausches freizupressen, hatte
Hizbollah-Chef Hassan Nasrallah zwei israelische Soldaten entführen
lassen – was im Sommer 2006 die israelische Regierung zum Anlass nahm,
einen länger vorbereiteten 33-Tage-Krieg mit mehr als 1200 Toten auf
libanesischer und 160 Toten auf israelischer Seite zu entfachen.
In Mar Elias begegnete mir ein junger Mann,
der 1982 im benachbarten Lager Shatila geboren wurde, seit einigen
Jahren in Berlin lebt, und immer wieder seine Familie im Lager Mar Elias
besucht. Auf meine Frage, was er sich von Deutschland wünscht,
antwortete er: „Dass in den Medien die Palästinenser im Libanon nicht
immer als Terroristen, sondern stärker als Opfer dargestellt werden“.
Eine Gruppe von Flüchtlingsfrauen fällt mir
auf, die wartend ihre Blicke auf den Eingang des Lagers richten. Seit
zwei Stunden stehen sie hier und hoffen, dass ein Gemüsehändler mit
frischer Ware vorbeikommt und sie ein paar Vitamine für ihre Familien
einkaufen können.
Im Lager Shatila

Auf der Fahrt vom Lager Mar Elias ins Lager Shatila kommen wir an Fotos
des obersten geistlichen Führers im Iran, Ali Chamenei, und des
Hizbollah-Chefs Hassan Nasrallah vorbei. Vor dem Eingang zum Lager
Shatila herrscht dichter Verkehr, der nur mühsam von einem
Verkehrspolizisten auf verlorenem Posten angesichts des libanesischen
Kamikaze-Fahrstils geregelt wird.
Seit vielen Jahren gehen auch sozial
gestrandete Familien sowie Roma ins Lager Shatila, wo sie nicht
vertrieben werden können und keine libanesischen Polizisten zu finden
sind. Für die häufig gefährdete Sicherheit - schlimmster Brennpunkt ist
das Lager En El-Hilweh bei Saida mit 80 000 Menschen - haben die
Palästinenser in den Lagern selbst zu sorgen.

Ein großes Portraitfoto des Gründers der
schiitischen Amal(arab.: Hoffnung)-Bewegung, Scheich Moussa Sadr,
begrüßt Gäste des Lagers Shatila. Direkt vorne rechts am Eingang zeigen
große, mehrere Meter lange Transparente Originalaufnahmen des Massakers
von 1982, als christliche Milizen mit Rückendeckung der israelischen
Armee mehr als 1000 Zivilisten brutal ermordeten. Verteidigungsministers
Ariel Sharon, dem erhebliche Mitverantwortung für das Massaker zukam,
musste damals auf Druck der israelischen Friedensbewegung von seinem
Posten zurücktreten.
Ein Mann, etwa Mitte fünfzig, lebt direkt
am Eingang der Gedenkstätte in einer mehr als ärmlichen selbst gebauten
Hütte von 3 mal 4 Metern. 1982 wurden von seiner großen Familie mehr als
30 Personen umgebracht, darunter seine Eltern, seine Geschwister,
mehrere Onkel und Tanten sowie deren Kinder. Um den Toten Angehörigen
nahe zu sein, entschloss er sich, direkt auf dem Gelände der
Gedenkstätte zu leben.
Das Elend ist
unbeschreiblich
An den mehrgeschossigen Betonbauten hängen
unzählige Wäschestücke an vielreihigen Leinen, die darauf schließen
lassen, wie überfüllt die einzelnen Räume sein müssen.

Durch die engen Gassen fällt kaum Licht in
die Elendsbehausungen, im Erstfall würde kein einziges Feuerwehrfahrzeug
hindurch passen. Über meinem Kopf hängen hunderte von Kabeln. In diesem
Gewirr einen Fehler zu finden, stelle ich mir als Albtraum jedes
Elektrikers vor. Manche Leitungen hängen mit blanken Enden herum, eine
Sozialarbeiterin erklärt, dass Kinder immer wieder schlimme Verletzungen
durch Stromschläge bekommen.

Der Blick in einzelne Zimmer zeigt das
blanke Grauen: Kinder sitzen apathisch in dunklen Räumen, in denen sich
nichts weiter befindet als verschmierte Wände.

Wie schon bei meinem letzten Besuch 2004
fällt mir auf, dass an mehreren Stellen die Wasserleitungen lecken und
niemand sie repariert. Als Folge bilden sich Wasserlachen und
Schlammbecken, die von spielenden Kindern mit ihren Fahrrädern teils
umfahren, teils durchfahren werden.
Jugendliche hämmern wie sinnlos auf
kaputten Tiefkühlschränken herum, Plastikteile fliegen dabei durch die
Gegend. Ich denke mir: Auch dies ist offensichtlich eine Art, mit Wut
und Frustration umzugehen – und dabei Energie rauszulassen.
Hoffnungsträger
Oasen der Hoffnung bilden in den Lagern die
Einrichtungen der Organisation „Beit Atfal Assumoud“ (arab.: Haus der
standhaften Kinder), wo uns in Shatila der langjährige Leiter Kassem
Aina von der Arbeit erzählt. Mit zwei Jahren wurde er selbst aus seiner
Heimat Palästina vertrieben, seit 61 Jahren lebt er nun im
Flüchtlingslager, organisiert mit seinem Team Sozialzentren in den
verschiedenen Lagern, sorgt für Nachhilfe-, Förder- und
Berufsbildungskurse und hilft durch den Verkauf von Stickereien vor
allem Frauen, etwas Geld zu verdienen. In den Sozialzentren stehen den
Flüchtlingen kostenlos Zahnarztpraxen zur Verfügung, ein Fonds hilft bei
medizinischen Notfällen.

Unterstützt wird diese Arbeit aus
Deutschland vom Verein „Flüchtlingskinder im Libanon e.V.“ (www.lib-hilfe.de),
der mit einer hervorragend gestalteten Nakba (arab.:
Katastrophe)-Ausstellung auch auf die Wurzeln der palästinensischen
Flüchtlingskatastrophe hinweist.
Zu den Hoffnungsträgern des Landes zählt
auch das „Haus des Friedens“ (Dar Assalam,
www.libanon-reise.com), dessen Mitarbeiter Said Arnaout seit vielen
Jahren in Kooperation mit deutschen Organisationen Begegnungsreisen in
den Libanon organisiert.
Clemens Ronnefeldt
www.versoehunungsbund.de
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