Nie wieder? Bemerkungen zu einer
Gedächtniskultur in Deutschland.
Schittich, Ingrid (2011)
Es verbietet sich
heute, Gedenkfeiern für die Opfer des Holocaust so abzuhalten, wie
sie abgehalten werden. Durch sie werden die Toten nicht geehrt. Die
im Nazi-Deutschland verübten Gräuel sind jenseits dessen, was in
Worte gefasst und mit Worten beklagt, betrauert und beschrieben
werden kann. Doch die Welt hat sich nach dem Holocaust weiter
gedreht, als ob nichts geschehen wäre. „Nie wieder!“ wäre das
Einzige, das als Antwort auf diese Gräuel bestehen könnte. „Nie
wieder!“ ist im Grunde das, was uns die Toten als stumme Botschaft
hinterlassen haben.
Deutschland,
Israel, die westliche Welt hören im wieder allgegenwärtigen
Waffengetümmel, bei Bombenlärm und Schüssen diese stumme Botschaft
schon lange nicht mehr. Die Botschaft der Toten ist verloren
gegangen, und damit auch das würdige Andenken an sie.
In der
Holocaust-Gedenkstunde des Bundestages im Januar durfte im Jahr
2011, also 66 Jahre nach der Befreiung der überlebenden Opfer von
Auschwitz, zum ersten Mal ein Vertreter der Sinti und Roma, der
Niederländer Zoni Weisz, sprechen. Die Medien vermerkten dies als
lobenswertes Ereignis – ohne Gefühl dafür, was das für eine Schande
ist! 66 Jahre lang waren es die 500.000 Sinti und Roma nicht wert,
durch ihre Überlebenden Stimme und Würdigung zu erhalten.
„Nie wieder
Faschismus, nie wieder Krieg!“ ist eine Losung auch bei der
Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der
Antifaschistinnen und Antifaschisten. Die Vereinigung wird vom
deutschen Verfassungsschutz beobachtet. Auch das ist eine Schande.
Offenbar erscheint das „Nie-Wieder!“ bestimmten politischen und
gesellschaftlichen Kräften als brandgefährlich.
Nie wieder? Mit
Ausgrenzung und Nichtachtung von Menschen und Kulturen fängt jeweils
all das an, was man in Deutschland eigentlich „Nie wieder“ wollte.
Die fortwährende Demütigung und Verachtung der Sinti und Roma in
Ländern wie Rumänien, Bulgarien, Ungarn und anderswo findet
ungebrochen unter den gleichgültigen Augen der westlichen Welt
statt. Schon wieder!
Das politische
Israel vertreibt in Palästina die Menschen aus ihrer Heimat,
zerstört systematisch das Land, in dem sie leben, baut auf Gewalt
und Tod. Immer wieder.
Wenn man sich
einmal in einer tödlichen Spirale von Gewalt und Tod eingerichtet
hat, wo kann es da ein Ende geben? Wozu sind Politiker und
Politikerinnen in Israel selbst und in den Staaten, die Israel
unterstützen, noch weiter bereit? Immer wieder?
Wie weit will die
politische Klasse der westlichen Welt noch gehen in dem, was sie den
globalen „Kampf gegen den Terror“ nennt? Wie lange will sie unbewegt
zusehen, wie verzweifelte Menschen sich und andere in die Luft
sprengen? Kein Mensch, dem es vergönnt ist, in dieser Welt in
Sicherheit und Achtung zu leben, würde sich freiwillig von einer
Bombe in Stücke reißen lassen und andere mit in den Tod nehmen.
Wann endlich
stellt die Welt sich die Frage nach dem „Warum?“ Wann hört man auf,
Feindbilder als Rechtfertigung für die eigenen Verstöße gegen die
Menschenrechte wie einen Schutzschild vor sich her zu tragen?
Guantanamo und andere Folterlager werden mit Schweigen akzeptiert.
Immer fort.
Was also ist der
Sinn von Gedenkfeiern – wenn sie auf taube Ohren und kalte Herzen
treffen? Wenn die, die sie abhalten, mehr Wert auf eine passende
Garderobe, die richtig sitzende Krawatte legen als auf das
schlichte, klare „Nie -Wieder“? Wenn alles seinen gewohnten Gang
geht und Genozide eine Art Betriebsunfälle sind, die irgendwie
wieder repariert werden?
Der Holocaust war
ja nicht der erste Genozid im Namen Deutschlands, wenn auch der
entsetzlichste. Zu erinnern ist an Namibia[1],
ein Land, in dem die Deutschen zu Anfang des 20. Jahrhunderts
gehaust und gemordet haben. Heute kann man als Preis bei
Gewinnspielen sonnige Urlaubsreisen nach Namibia ergattern. Keine
Scham, keine Reue, kein Versuch, wieder gut zu machen, wo das Land
so bitterlich gesündigt hat, mit dessen Pass man einreist.
Wann und wie wird
sich eine Haltung in Deutschland entwickeln, die dem Geist z.B. des
„Schwurs von Buchenwald“[2]
gerecht wird? In diesem Schwur legten im April 1945 die 21.000
Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald in feierlicher Form
ihr Vermächtnis nieder. Dieses Vermächtnis von Menschen aus 16
namentlich genannten Nationen mündet in die Vision des gemeinsamen
Aufbaus einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit.
Kaum eine oder
einer der heute Gedenkenden hat die moralische Legitimation, die
Angehörigen der Opfer für das Holocaust-Geschehen um Vergebung zu
bitten. Eine Bitte um Vergebung könnte vielleicht erhört werden,
wenn ein „Nie-Wieder!“ das tragende Fundament von Trauer und Scham
wäre.
Auf dieser
Grundlage hätten die Gedenkenden Krieg, Gewalt und Ungerechtigkeit
abgeschworen. Sie hätten keine Armeen aufgerüstet, sondern sie
hätten Mittel der gewaltlosen Konfliktlösung wahrgenommen und sich
zu eigen gemacht. Sie würden Menschen anderer Kulturen mit Respekt
und nicht mit Arroganz und Verachtung entgegentreten. Was für eine
Welt hätte entstehen können! Die Erbauer einer solchen Welt könnten
um Vergebung bitten und sie dann möglicherweise auch erhalten.
Es scheint, dass
in diesen Zeiten allein Mitglieder der Zivilgesellschaften
versuchen, einen anderen Weg zu gehen, einen Weg, in dessen Verlauf
Versöhnung Raum gewinnen und wahr werden kann.
Mit Blick auf die
israelisch-palästinensische Situation sind gemeinsame Projekte von
palästinensischen und israelischen Bürgerinnen und Bürgern zu
nennen. Desgleichen arbeiten auf internationaler Ebene Menschen aus
verschiedenen Nationen und Kulturen zusammen, um dabei zu helfen,
den sich dort schier endlos hinziehenden Konflikt gewaltfrei zu
lösen.
Ich sehe hier
einen Zusammenhang zum erwähnten Gedenken. Diejenigen Menschen, die
sich heute schützend vor Palästinenser und Palästinenserinnen
stellen, ehren auf besondere Weise die Opfer des Holocaust. Sie
durchbrechen das immer noch herrschende Denkmuster von Rache und
Gewalt. Die Solidaritäts-Flotte für Gaza[3]
war ein Beispiel für das Handeln zunehmend selbstbewusst handelnder
Kräfte aus Zivilgesellschaften.
Der bekannte
amerikanische Gelehrte Prof. Richard Falk, zur Zeit
Sonder-Berichterstatter für palästinensische Menschenrechte bei den
Vereinten Nationen, spricht eine deutliche Sprache, wenn er sagt:
„Das Schweigen,
im Angesicht der wachsenden Hinweise, dass Israel plant, die
"Operation Gegossenes Blei 2" auszulösen, ist eine
niederschmetternde Form von Komplizenschaft auf höchsten
Regierungsebenen, speziell seitens der Länder, die mit Israel eng
verbunden sind. Ausserdem spiegelt es den moralischen Bankrott der
Vereinten Nationen wider.“
Richard Falk ist
ein prominenter US-Bürger jüdischen Glaubens, der sich vehement
gegen die Gewaltpolitik Israels einsetzt, sich aber auch kritisch
mit der Rolle der Hamas und Ägyptens auseinandersetzt.
Die Gedankenwelt
Richard Falks berührt sich spürbar mit der von Zoni Weisz. Zoni
Weisz schloss seine Rede vor dem Bundestag mit den Worten:
„Meine Damen und
Herren, ich möchte enden, indem ich die Hoffnung ausspreche, dass
unsere Lieben nicht umsonst gestorben sind. Wir müssen ihrer auch
künftig gedenken, wir müssen auch weiterhin die Botschaft des
friedlichen Miteinander verkünden und an einer besseren Welt bauen -
damit unsere Kinder in Frieden und Sicherheit leben können.“
Dem ist nichts
hinzuzufügen, außer vielleicht die Frage: Woher nimmt ein direkt
Betroffener des Holocaust die seelische Kraft, solche Worte der
Versöhnung und der Zuversicht zu sprechen?
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(Die Autorin ist 1.
Vorsitzende von AWC Deutschland e.V. und NGO-Delegierte von AWC San
Francisco bei der UNO in Wien.)