Heute Nacht um 3. 15 Uhr
wurden Lisa und ich von Lärm draußen auf der Strasse geweckt. Es
hörte sich nach mehreren Militärfahrzeugen an, schwere Bulldozer
oder ähnliches schienen sich vor unserem Haus zu sammeln.
Tatsächlich bekam ich dann auch prompt einen Anruf vom Nachbarn, der
mich von seinem Fenster aus die Gegend überblickend über die Lage
aufklärte und mein Gehörtes bestätigte. In der nächsten Stunde
hörten wir dann immer wieder Geräusche, die an Bauarbeiten
erinnerten. (Mein geäußerter Verdacht bestätigte sich am Morgen,
dass die Soldaten sich wohl die Mühe machten, Straßensperren in Form
von roadblocks, die aus großen findlingsähnlichen Felsbrocken
bestehen, zu errichten. Dies taten sie tatsächlich an allen
Straßenzufahrten des Lagers bis auf einer einzigen...).
Um 5 Uhr gab es dann draußen
Schiessereien, einseitige Gewehrsalven der Soldaten -unbeantwortet.
Um kurz vor 7 wurden wir wieder geweckt, diesmal von einer vor dem
Haus, welches durch eine Mauer von der Strasse getrennt ist,
explodierenden sound-Bombe. Ihr folgten weitere, auch durften wir
durch die geöffneten Fenster Tränengas im Schlafzimmer begrüßen...
Wir hörten die ganze Zeit obligatorisches Steinesprasseln, sowie die
Rufe der Kinder, deren Schulweg sich heute also mal wieder
abwechslungsreich gestalten sollten. Es wurde auch geschossen, ein
Blick vom Balkon des Hauses im ersten Stock, den ich wie jeden
Morgen auf Soldaten hin absuchte, zeigte drei Militärfahrzeuge, 75
Meter entfernt zwei Ambulanzen und 3 TV-Teams. Zum Glück mussten die
Ambulanzen an diesem Morgen nicht ausrücken. Wir sammelten uns dann
kurz zur Besprechung und dann gingen dann zu fünft und von Mohammed
begleitet zu einem Haus, welches sich an einer breiten Strasse am
Rand von Balata befindet und welches von Soldaten besetzt worden
war. Wir wollten sehen, ob die Familien in dem Haus Hilfe benötigen.
In allen drei Stockwerken regte sich nichts hinter den Fenstern, als
wir uns lautstark bemerkbar machten. Das ließ uns darauf schließen,
dass die Soldaten alle Familien des Wohnhauses eingesperrt hatten,
um vom oberen Stockwerk ungestört die Gegend überblicken zu können.
Auf unser Rufen regte sich die ganze Zeit über nichts, auch das
lautstarke Klopfen und Hämmern gegen die Eisentüren im Erdgeschoss
brachten nicht den gewünschten Erfolg. Statt dessen tauchte nach 30
Minuten ein Jeep auf, vier von uns postierten sich am Straßenrand,
als er in 100 Metern Entfernung hielt, einer filmte das Ganze. In
den nächsten vier Minuten stieg vier Mal ein Soldat aus und zielte
kurz auf die Gruppe, dann wurde eine Tränengaspatrone knapp über
unsere Köpfe geschossen. Es hieß dann erst einmal wieder heulen...,
dann brauste der Jeep heran, drei Soldaten sprangen heraus, stürzten
sich auf Aron - in dem Moment der einzige Mann in unserer Gruppe -
und wollten ihn ganz klar festnehmen. Er stürzte jedoch zu Boden und
sofort warfen sich Lisa und Rebeka auf ihn drauf, um so -
erfolgreich - eine Arretierung zu verhindern. Natürlich nicht ohne
einige Schläge einzustecken, verbal attackiert zu werden und ein
zerrissenes Hemd mitzunehmen. Die Aggressivität der drei bewaffneten
Soldaten steigerte sich noch, als die Mädels riefen „You hurt us,
stop beating!“. Nach vielleicht 40 Sekunden sprangen die drei
-frustriert und wütend - wieder in ihr Fahrzeug, warfen zum Abschied
noch eine soundbombe in den Tischlerladen, vor dem sich das Ganze
abgespielt hat, ein kleines Feuer entstand, da irgendetwas anfing zu
brennen... Nach kurzer Löschaktion und verbalem Abreagieren gingen
wir wieder in Richtung zurück, nicht ohne den Jeep noch einmal mit
heulendem Motor neben uns zu wissen...Wir verschwanden aber flugs
durch einen 1,5 Meter breiten Durchgang ins eigentliche
Flüchtlingslager. Nebenbei bemerkt, nachts haben die Soldaten nicht
einmal die Mühe gescheut, auch vor diesen schmalen Durchgängen
Unrat, Steine und Felsbrocken abzuladen.(Fragt gerade jemand nach
dem Warum und Wozu????) Wir begaben uns dann in unser Appartement
zurück, erholten uns und reflektierten, aßen und besprachen das
weitere Vorgehen. Da wir leider in den nächsten Stunden vier von
unserer Gruppe verabschieden mussten, blieben nur Rebeca und ich
übrig - zwei sind für eigentlich jede Aktion zu wenig. So
verbrachten wir die nächsten 2 Stunden mit Aufräumen und
Saubermachen und ähnlichem.
Um 17 Uhr ging ich dann mit
Sameh, einem der lokalen Koordinatoren zu einem nahe gelegenen
Internetcafe, es hatte aber leider geschlossen, so machten wir uns
wieder auf dem Rückweg. Die Strasse war recht gut von Fußgängern
bevölkert, trotzdem sahen wir in 150 Meter Entfernung immer noch 2
Jeeps stehen, sowie die Ambulanzen und viele Kinder. Auf dem Rückweg
begrüßte Sameh einige junge Männer freundschaftlich - keine 10
Minuten später waren zwei von ihnen tot, einer wurde ins Herz
getroffen, der andere in den Kopf. Sie waren definitiv unbewaffnet,
nach Augenzeugenberichten haben sie auch keine Steine geworfen oder
sich sonst irgendwie auffällig verhalten und sind aus ca. 15 Metern
Entfernung von Scharfschützen aus einem der besetzten Häuser hier in
Balata erschossen worden. Der eine von ihnen starb mit 20 Jahren,
der andere mit 24. Sie waren zur falschen Zeit am falschen Ort, eine
halbe Stunde später gab der Muezzin ihren Märtyrertod über
Lautsprecher bekannt- das ist hier so üblich.
Wenn ich doch wenigstens
solche Vorgänge irgendwie verstehen oder mit Logik beleuchten
könnte. Dann würde die Wut und die Trauer viel leicht einer gewissen
Rationalität Platz machen können. Doch hier kann niemand erklären,
warum diese Dinge geschehen. Warum werden zwei junge Männer einfach
so gezielt erschossen, während sie auf der Strasse entlang
schlendern, scherzend, grüßend und lachend, warum werden Häuser
besetzt, Familien mit Kindern stundenlang eingesperrt und
traumatisiert, warum werden sichtbar unbewaffnete, friedliche
Ausländer brutal auf der Strasse von Soldaten überfallen und
geschlagen, während sie versuchen, Menschen zu Hilfe zu kommen,
warum werden alle Zufahrtsstrassen zu diesem Stadtteil mit
Felsanhäufungen zugesperrt, so dass kein Verkehr mehr stattfinden
kann?? Klar ist den Menschen, die hier leben nur, dass die Israelis
wahrscheinlich eine Invasion ins Flüchtlingslager vorbereiten, es
geht das Gerücht einer 100-Stunden währenden Ausgangssperre, die
verhängt werden soll. Das heißt, es stehen
Haus-zu-Haus-Durchsuchungen der Soldaten an, wer auf die Straße
tritt, spielt möglicherweise mit seinem Leben, droht auf jeden Fall,
verhaftet zu werden... Und warum das alles?" Um Terroristennester
auszuräuchern, um die Sicherheit israelischer Staatsbürger zu
erhöhen, um potentieller und gesuchter Attentäter habhaft zu werden"
könnte eine mögliche Erklärung der Israelis lauten. Fragt sich
eigentlich bei denen mal jemand, wie viele neue mögliche Attentäter
jeden Tag aufs Neue durch Vorkommnisse wie diese geboren werden???
Die Wut, der Frust, der Hass, die Trauer der Menschen hier ist so
groß, gleichzeitig kann man über ihre Leidensfähigkeit nur staunen.
Hanan
Von:
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ISM (International
Solidarity Movement) ist einer Bewegung palästinensischer,
internationaler und israelischer Friedens- und
Menschenrechtsaktivistinnen, die mit gewaltfreien Mitteln für ein
Ende der israelischen Besatzung arbeiten und sich für einen
gerechten Frieden in ISrael und Palästina einsetzen.