Eine Lektion in Bescheidenheit –
für den selbstgefälligen Westen
William Dalrymple
Viele westliche
Werte , von denen wir denken, dass sie überlegen ( und besser als die Werte
anderer seien) kommen aus dem Orient – unsere blinde Arroganz schädigt unser
Ansehen in der Welt
Etwa 100 Meilen südlich
von Delhi, wo ich lebe, liegen die Ruinen der Moghul-Hauptstadt, Fateh-pur Sikri.
Sie wurde vom Kaiser Akbar Ende des 16. Jahrhunderts gebaut. Hier hörte Akbar
Philosophen, Mystikern und heiligen Männern der verschiedensten
Glaubensrichtungen aufmerksam zu, als sie über die Vorzüge/ Verdienste ihrer
verschiedenen Überzeugungen debattierten. Es ist das früheste bekannte
Experiment eines offiziellen interreligiösen Dialogs.
Vertreter von Muslimen (
Sunniten und Schiiten, sowie auch Sufis), Hindus ( Nachfolger von Shiva und
Vishnus und Atheisten) Christen, Jainas, Buddhisten und Zarathustra-Anhänger
kamen hier zusammen, um über die Unterschiede ihrer Religionen zu diskutieren
und wie sie zusammenleben können.
Über muslimische
Herrscher denkt man im Westen nicht gerade als besondere Vertreter des
freiheitlichem Denkens, aber Akbar war davon besessen, die religiöse Wahrheit zu
erfahren. Mit einer unglaublich weiten Gesinnung erklärte er: „Keiner sollte
wegen seiner Religion beeinträchtigt werden, und jedem wird erlaubt, sich einer
Religion anzuschließen, die ihm gefällt.“ Er argumentierte auch darüber, was er
„Streben nach Vernunft“ nannte, was besser sei als das Vertrauen auf den Sumpf
der Tradition“.
Dies ereignete sich, als
in London Jesuiten gehenkt, ertränkt und außerhalb von Tyburn gevierteilt
wurden, als die Inquisition in Spanien und Portugal jeden folterte, der die
Dogmen der katholischen Kirche verachtete und in Rom Giordano Bruno im Campo de
Fiori auf dem Scheiterhaufen verbrannte.
Es lohnt sich, auf Akbar
hinzuweisen, denn er - der größte Herrscher des bevölkertsten muslimischen
Staates - vertritt in einem einzigen Menschen so viele Werte, die wir im Westen
oft für uns allein beanspruchen. Ich denke hier besonders an Douglas Murray,
einem jungen Neokonservativen, der letzte Woche im „Spectator“ schrieb, dass er
„ nicht zögere zu sagen, die westlichen Werte seien besser“ und er klagte
jeden an, der das Gegenteil behauptet, er sei moralisch verwirrt. Er schrieb
auch: „Jahrzehnte mit intensivem kulturellen Relativismus und
Designer-Stammesstrukturen haben uns abgeschreckt, eine ( eigene) Meinung zu
bilden“.
Der Artikel war für eine
Debatte intelligenter Leute mit gegensätzlicher Meinung ein Augenöffner. Wir,
Murray und ich, diskutierten zusammen mit David Aaronovitch, Charlie Glass, Ibn
Warraq und Tarik Ramadan über den Antrag: „Wir sollten bei der Behauptung nicht
zögern, wenn es um die Überlegenheit der westlichen Werte geht.“ (Der Antrag
wurde schließlich angenommen, muss ich zu meinem Bedauern sagen.)
Murray nannte die
westlichen Werte: die Herrschaft des Gesetzes, die parlamentarische Demokratie,
Gleichheit, Rede- und Gewissensfreiheit. Er behauptete auch, dass die
jüdisch-christliche Tradition die ethische Quelle dieser Werte sei.
Doch woher kommen diese
Werte eigentlich? Das Judentum genau wie das Christentum sind nicht in
Washington oder London entstanden, auch wenn viele Viktorianer denken, dass Gott
Engländer sei. Sie haben stattdessen ihre Wurzeln in Palästina, während das
Christentum seinen geistigen Überbau in den Städten Antiochiens, in
Konstantinopel und Alexandria erhielt. Auf dem Konzil von Nicäa, wo das
Glaubensbekenntnis 325 formuliert wurde, waren mehr Bischöfe aus Persien und
Indien dabei als aus dem westlichen Europa.
Judentum und
Christenheit sind durch und durch östliche Religionen wie der Islam und der
Buddhismus. Das, was wir heute schätzen – wie Universitäten, Papier, das Buch,
der Buchdruck – kam über die islamische Welt vom Osten und zwar in den meisten
Fällen im Mittelalter vom islamischen Spanien nach Westeuropa.
Und wo wurde das erste
Gesetzbuch aufgeschrieben? In Athen oder London?
Keineswegs – es war eine Erfindung von Hammurabi im
alten Irak. Wer war der erste Herrscher, der die Bedeutung der Gleichheit seiner
Untertanen betonte? Der indische buddhistische Kaiser Ashoka hat im 3.
Jahrhundert v. Chr. die Grundfreiheiten für alle seine Völker in Stein meißeln
lassen – und schloss weder Frauen noch Sklaven aus, wie es Aristoteles tat.
…….
Im Osten wie im Westen
gibt es eine große Bandbreite ethischer Systeme, aber überraschender Weise mit
ähnlichen Idealen und den Gedanken von Gut und Böse. Picke dir deine
universalen, humanistischen Lieblingsideale heraus und nenne sie westlich, dann
impliziere ihr Gegenteil, als seien sie irgendwie östliche Werte. Das ist
einfach bigott und dumm – und natürlich unhistorisch.
Der große Historiker der
Kreuzzüge Sir Steven Runciman weiß es besser. Am Ende seiner drei-bändigen
Geschichte schreibt er: „Unsere Zivilisation ist aus einer langen gegenseitigen
Wechselwirkung und Verschmelzung zwischen Orient und Okzident gewachsen.“ Er
hat recht. Das beste der östlichen wie der westlichen Zivilisation kam nicht
daher, dass man seine eigene Überlegenheit behauptete, sondern dadurch, dass man
die Bescheidenheit hatte, das Gute vom anderen zu lernen und seine eigenen
Fehler anzuerkennen. Seine eigenen Ideen den anderen in die Kehle zu stopfen,
ist selten eine nutzbringende Tat.
Da gibt es Lektionen aus
unserer eigenen Geschichte. Die europäische Geschichte kennt viele Monarchien,
Diktaturen und Tyrannen. Einige von ihnen – wie Salazar, Tito, Franco – lebten
noch in den 70ern und 80ern (des letzten Jahrhunderts). Der verhältnismäßig
kurze Triumph der Demokratie innerhalb Europas hat weniger mit der ( angeblich)
natürlichen, innewohnenden westlichen Liebe zur Freiheit zu tun, als mit einer
Fähigkeit, einfach aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen – hauptsächlich
den Millionen Toten, die wir den westlichen Ideologien wie dem Marxismus,
Faschismus und Nationalismus „ zu verdanken haben“.
Diese Bewegungen waren
keine außergewöhnlichen Zufälle, sondern die schrecklichen Ausdrucksformen der
dunklen Seite der westlichen Zivilisation, einschließlich unserer langen
Tradition von Antisemitismus.
Außer dieser haben wir
eine Geschichte des exportierten Völkermords schlimmster Form im westlichen
Kolonialismus – der wie im Holocaust damit zusammenhängt, dass der
nicht-westliche Andere als Untermensch, Wilder oder irgendwie un-menschlich
behandelt wurde.
Auch wenn wir dies
gerne ignorieren und uns lieber als die Vorbilder von Frieden und Freiheit
sehen, hat der Westen eine starke militaristische Tradition, indem er Länder
derjenigen angreift und überfällt, die er für Wilde hält und sie als weniger
entwickelte Völker auf vier Kontinenten auslöscht – als Teil unserer
zivilisierenden Aufgabe. Die Liste westlicher Genozide, die vorausgegangen sind,
bereiteten den Holocaust in schrecklicher Weise vor.
Die tasmanischen
Aborigines wurden von den britischen Jagdparteien ausgelöscht, denen die Lizenz
zum Auslöschen der „minderwertigen Rasse“ gegeben worden war. Die kolonialen
Behörden sagten von ihnen, sie sollten wie „wilde Tiere gejagt und zerstört
werden.“ Viele wurden in Fallen gefangen, bevor sie gefoltert oder lebendig
verbrannt wurden.
Dasselbe Schicksal
blühte sowohl den Kariben von den Karibischen Inseln durch uns, als auch den
Guanches auf den Kanarischen Inseln und einem Stamm nach dem anderen der
Urbewohner Nordamerikas. Der europäische Sklavenhandel entführte gewaltsam 15
Millionen Afrikaner und tötete außerdem ein vielfaches.
Es war diese Tradition
des kolonialen Genozids, der den Boden für das größte westliche Verbrechen
vorbereitete, die industrielle Auslöschung von 6 Millionen Juden durch die
Nazis, die Juden als minderwertige, nicht westliche und semitische Verletzung
des arischen Westens betrachteten.
Für all unsere
Errungenschaften wie z.B. die Emanzipation der Frauen und der Sklaven, die
sozialen Freiheiten und individuellen Menschenrechte, was auch bemerkenswert
und wunderbar in unserer Kunst, Literatur und den Wissenschaften zum Ausdruck
kommt, hat uns unsere Tradition, in der wir weiterhin arrogant diese
eingebildete Überlegenheit behaupten zu dem geführt, worüber wir uns in unserer
Geschichte am meisten schämen sollten.
Die Klagen ändern sich
- vor hundert Jahren klagten unsere viktorianischen Vorfahren die islamische
Welt an, sie sei sinnlich und dekadent mit einer überentwickelten Neigung zur
Sodomie … nur das Gefühl der Überlegenheit bleibt dasselbe. Wenn der Osten nicht
in jedem Augenblick der Geschichte unsere besondere Sensibilität teilt, dann
wird auch weiterhin erzählt, dass er unrecht hat und wir recht haben.
Tragischerweise ist
diese westliche Tradition, der es an Respekt vor anderen Kulturen mangelt und
die andere als Untermenschen behandelt, nicht ausgestorben. Wir können jetzt
erkennen, dass Genozid Unrecht ist, doch 30 Jahre nach dem Debakel von Vietnam
und Kambodscha und My Lai, taucht der Kadaver des westlichen Kolonialismus
schaudernd wieder aus seinem oberflächlichen Grab auf. Man muss nur an die
Massaker der irakischen Zivilisten in Falluja denken oder die abscheuliche
Behandlung der Gefangenen im Abu Ghraib-Gefängnis, um zu sehen, wie die
kulturelle Sicherheit/ Arroganz der Neokonservativen diese Tradition - Araber
als Untermenschen zu behandeln – wieder zurückgekommen ist.
Doch schon ein sehr
kurzer Blick auf die Außenpolitik der Bush-Regierung gibt ein Schulbeispiel für
die Sinnlosigkeit des Versuches, andern Völkern die eigenen Werte und Ideen
mit Raketen und Granaten aufzuzwingen – selbst eine so edle Idee wie die
Demokratie - statt durch Beispiel und Dialog.
Im Irak selbst ist es
uns gelungen, ein früher wohlhabendes und säkulares Land zu zerstören und das
größte Flüchtlingsproblem im heutigen Nahen Osten zu schaffen: 4 Millionen
Iraker sind ins Ausland vertrieben worden.
Anderswo im Nahen Osten
gelang es der USA – während sie Demokratie voranbringen wollte - die muslimische
Meinung gegen ihre alten Mandantenvertreter zu kehren, die im Großen und Ganzen
aus korrupten und dekadenten Monarchien und zerfallenen nationalistischen
Parteien bestehen. Aber statt sich den liberalen und säkularen Parteien
zuzuwenden, wie die Neokons hofften, haben sich die Muslime hinter jene Parteien
gestellt, die sich klar gegen die aggressive US Intervention in der Region
wenden, nämlich den religiösen Parteien des politischen Islam.
In der letzten Woche
zeigte uns die islamische Welt eine Geste, die in dieser Zeit s o nötig ist. In
einem Brief, der an Papst Benedikt und andere christliche Führer adressiert
wurde, bitten 138 prominente muslimische Gelehrte aus allen Gruppierungen
christliche Führer dringend „ „mit uns zusammen zu kommen, um über Wesentliches
und Gemeinsames unserer beiden Religionen“ zu reden. Es wird interessant sein,
zu sehen, ob irgendwelche westliche Führer jetzt reagieren.
Wir haben vieles,
worüber wir im Westen stolz sein können; aber es liegt an der arroganten und
entschiedenen Haltung von Überlegenheit der westlichen Werte, dass wir nicht
nur das, was uns in unserer Zivilisation lieb und teuer ist, ständig schwächen,
sondern auch unsere Außenpolitik und unsere Position in der Welt. Ein anderer
(ethischer) Wert, der in Ost und West bewundert wird, könnte hier eine einfache
Lösung sein: ein wenig altmodische Bescheidenheit.
William
Dalrymples neues Buch: „Der letzte Mogul: der Fall einer Dynastie, Delhi 1857“
veröffentlicht bei Bloomsbury, wurde gerade mit dem Duff Cooper-Preis für
Geschichte ausgezeichnet.
(dt und geringfügig gekürzt: Ellen
Rohlfs)
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