Die
große BDS-Debatte
Uri Avnery, 12. März
2016
HILFE ! Ich
gehe in ein Minenfeld. Ich kann nicht anders.
Das Minenfeld hat
einen Namen: BDS – Boykott-De-Investment-Sanktionen.
Ich werde oft nach
meiner Haltung gegenüber dieser internationalen Bewegung gefragt,
die von palästinensischen Aktivisten initiiert wurde und die sich
wie ein Lauffeuer in der ganzen Welt verbreitet hat.
Die israelische
Regierung betrachtet diese Bewegung als größere Bedrohung - es
scheint mir sogar - als Daesh (IS) oder der Iran. Die israelischen
Botschaften in der ganzen Welt werden mobilisiert, sie zu bekämpfen.
Das Hauptschlachtfeld
ist die akademische Welt. Fanatische Anhänger von BDS führen heftige
Debatten mit genau so fanatischen Anhängern von Israel. Beide Seiten
benützen erfahrene Disputanten, verschiedene Propagandatricks,
falsche Argumente und komplette Lügen. Es ist eine hässliche
Debatte, die immer hässlicher wird.
BEVOR ICH
meine eigene Einstellung dazu zum Ausdruck bringe, möchte ich den
Grund erklären. Worum geht es hier eigentlich?
Die letzten 70 Jahre,
seit meinem 23. Lebensjahr, habe ich mein Leben dem Frieden
gewidmet – dem jüdisch-arabischen Frieden, dem
israelisch-palästinensischen Frieden.
Viele Leute auf
beiden Seiten der Kluft sprechen von Frieden. Inzwischen ist
„Frieden“ die letzte Zuflucht von Hasspredigern geworden.
Doch was bedeutet
Frieden? Frieden wird zwischen zwei Feinden geschlossen. Es
erfordert die Existenz von beiden. Wenn eine Seite die andere
zerstört, wie Rom Kartago zerstörte, setzt es dem Krieg ein Ende.
Aber es ist kein Friede.
Frieden bedeutet,
dass beide Seiten nicht nur die gegenseitigen Feindseligkeiten
beenden, sondern sich versöhnen und hoffentlich miteinander
kooperieren und Seite an Seite leben und schließlich zu einer
gegenseitigen Zuneigung kommen,
Deshalb einen Wunsch
nach Frieden zu verkünden, während man eine gegenseitige
Hasskampagne durchführt, ist keine reale Angelegenheit. Was immer es
auch sein mag, so ist dies kein Kampf um Frieden.
BOYKOTT IST
ein legitimes Mittel eines politischen Kampfes.
Es ist auch ein
fundamentales Menschenrecht. Jeder ist berechtigt zu kaufen oder
nicht zu kaufen, was er oder sie wünschen. Jeder ist berechtigt,
andere zu bitten, eine gewisse Ware zu kaufen oder nicht zu kaufen,
egal aus welchem Grund.
Millionen von
Israelis boykottieren Läden und Restaurants, die nicht „kosher“
sind. Sie glauben daran, dass Gott ihnen das sagte. Da ich ein
strikter Atheist bin, folgte ich nie diesem Gebot. Aber ich
respektiere die Haltung der Religiösen.
Als die Nazis in
Deutschland an die Macht kamen, organisierten amerikanische Juden
einen Boykott gegen deutsche Waren. Die Nazis reagierten darauf,
indem sie einen Tag des Boykottes jüdischer Läden in Deutschland
proklamierten. Ich war 9 Jahre alt und ich erinnere mich noch
deutlich an den Anblick: Nazis in braunen Hemden standen vor
jüdischen Läden und hielten Schilder hoch, auf denen stand:
„Deutsche wehrt euch! Kauft nicht bei Juden!“
Der erste Boykott
gegen die Besatzung wurde von Gush Shalom proklamiert, der
israelischen Friedensorganisation, zu der ich gehöre. Das war lange
bevor BDS entstand.
Unser Aufruf wandte
sich an die israelische Öffentlichkeit. Wir riefen zum Boykott der
Waren aus den Siedlungen in der Westbank, des Gazastreifens und der
Golanhöhen auf. Um dies einfacher zu machen, veröffentlichten wir
eine Liste all der Betriebe, die das betraf.
Ich nahm auch an
Gesprächen mit der Europäischen Union teil, hier und in Brüssel und
bat sie, nicht zum Bauen der israelischen Siedlungen auf erobertem
Land zu ermutigen. Es dauerte lange, bis die Europäer entschieden,
dass Produkte aus den Siedlungen deutlich gezeichnet sein müssen.
Zu kaufen oder nicht
zu kaufen, egal aus welchen Grund, ist eine private Angelegenheit.
Deshalb ist es sehr schwierig, zu erfahren, wie viele Israelis
unserm Aufruf folgten. Unser Eindruck ist, dass es eine
beträchtliche Anzahl von Israelis ist, die das taten und noch tun.
Wir baten nicht
darum, Israel als solches zu boykottieren. Wir betrachteten dies als
kontraproduktiv. Mit einer Drohung gegen den Staat konfrontiert zu
sein, vereinigt die Israelis. Dies würde bedeuten, dass anständige,
wohlmeinende Bürger in die Arme der Siedler gestoßen werden. Unser
Ziel war genau das Gegenteil: die allgemeine Öffentlichkeit von den
Siedlern zu trennen.
DIE BDS-Bewegung hat
einen ganz anderen Gesichtspunkt. Sie wurde von palästinensischen
Nationalisten initiiert, an die Weltöffentlichkeit gerichtet, ohne
Rücksicht auf die israelischen Gefühle.
Eine Boykott-Bewegung
braucht kein präzises Programm. Das allgemeine Ziel, die Besatzung
zu beenden und die Palästinenser zu befähigen, ihren eigenen Staat
in den besetzen Gebieten zu gründen, würde genug gewesen sein. Aber
BDS veröffentlichte von Anfang an ein klares politisches Programm.
Und da beginnt das Problem.
Die proklamierten
Ziele von BDS sind drei: Beendigung der Besatzung und des
Siedlungsbaus, garantierte Gleichheit für die Araber innerhalb
Israels, außerdem die Rückkehr der Flüchtlinge.
Dies klingt harmlos,
ist es aber nicht. Es erwähnt nicht Frieden mit Israel. Es erwähnt
nicht die Zwei-Staaten-Lösung. Der Hauptpunk ist der dritte.
Der Exodus der Hälfte
des palästinensischen Volkes aus ihren Wohnsitzen im 1948er-Krieg –
die zum Teil vor einem langen, grausamen Krieg floh, zum Teil
absichtlich vom israelischen Militär vertrieben wurde –es ist eine
komplizierte Geschichte. Ich war ein Augenzeuge und habe ausführlich
darüber in meinen Büchern geschrieben. (Der zweite Teil meiner
Erinnerungen ist gerade auf Hebräisch erschienen) Die hervorragende
Tatsache ist, dass ihnen nicht erlaubt wurde, nach dem Ende des
Krieges heimzukehren und dass ihre Häuser und ihr Land jüdischen
Immigranten gegeben wurde, viele von ihnen waren Flüchtlinge, die
den Holocaust überlebten.
Diesen Prozess jetzt
umzukehren, ist so realistisch, als ob man von den weißen
Amerikanern verlangen würde, dorthin zurück zu kehren, wo ihre
Vorfahren herkamen und das Land seinen ursprünglichen Besitzern
zurückzugeben. Es würde die Abschaffung des Staates Israel und die
Gründung des Staates Palästina vom Mittelmeer bis zum Jordanfluss
bedeuten, ein Staat mit einer arabischen Mehrheit und einer
jüdischen Minderheit.
Wie kann dies ohne
einen Krieg mit einem nuklear bewaffneten Israel erreicht werden?
Wie kann das mit Frieden in Verbindung gebracht werden?
Alle ernsthaften
palästinensischen Unterhändler haben bis jetzt stillschweigend in
diesem Punkt nachgegeben. Ich sprach mehrmals mit Yasser Arafat
darüber. Das stillschweigende Übereinkommen ist, dass nach einem
Friedens-Endabkommen Israel eine symbolische Anzahl von Flüchtlingen
zurücknehmen wird und dass alle andern und ihre Nachkommen – jetzt
etwa fünf bis sechs Millionen – eine angemessene Entschädigung
bekommen werden. All dies ist Teil einer Zwei-Staaten-Lösung.
Das ist ein
Friedensprogramm. Tatsächlich das einzige Friedens-Programm. Die
BDS-Bewegung hat diese Absicht nicht.
DIE ANDERE
Seite dieser wütenden Debatte in Oxford und Harvad ist sogar weniger
friedensorientiert.
Legionen von
zionistischen „Aufklärern“ – viele von ihnen bezahlte Professionelle
- weisen die BDS-Attacke zurück. Sie beginnen damit, die
offensichtlichsten Fakten zu leugnen: dass der Staat Israel das
palästinensische Volk unterdrückt, dass eine gnadenlose,
militärische Besatzung das Leben der Palästinenser ins Elend führt,
dass „Frieden“ in Israel zum Schimpfwort geworden ist.
Vor ein paar Tagen
verkündigte ein extrem rechter israelischer TV-Kommentator halb im
Scherz: „Die Gefahr des Friedens ist vorüber!“
DIE EINFACHSTE Art
die BDS-Leute zu bannen und zu ächten, ist, sie des Antisemitismus‘
anzuklagen. Dies beendet jede sensible Diskussion, besonders in
Deutschland und allgemein im Ausland. Leute, die den Holocaust
leugnen, sind keine Gesprächspartner.
Es gibt keinerlei
Beweise für die Anklage, dass die Mehrheit der BDS-Symphatisanten
tatsächlich Antisemiten sind. Ich bin überzeugt davon, dass die
große Mehrheit von ihnen hingebungsvolle Idealisten sind, deren
Herzen zu den unterdrückten Palästinensern gehen, so wie Juden immer
zur Hilfe von unterdrückten Völkern eilten, ob amerikanische
Schwarze oder russische Mujiks.
Doch – und dies muss
gesagt werden – gibt es einige BDS-Anhänger, die Erklärungen mit
unverkennbar antisemitischem Geruch abgeben. Für einen waschechten
Antisemiten der alten Schule ist BDS heute die einzige sichere
Kanzel, von der sie ihre abscheulichen Prinzipien predigen können
und zwar unter dem Mantel des Anti-Zionismus‘ und des
Anti-Israelismus‘.
Ich würde die
Palästinenser und ihre wahren Freunde (noch einmal) warnen, dass die
Antisemiten in Wirklichkeit ihre gefährlichen Feinde sind. Sie sind
es, die Juden aus aller Welt nach Israel treiben. Diese Antisemiten
kümmern sich einen Dreck um die Palästinenser, sie
instrumentalisieren ihre Notlage, um sich ihrer eigenen uralten
antijüdischen Perversion hinzugeben.
Und umgekehrt: Juden,
die sich der neuen Welle der Islamophobie unter dem falschen
Eindruck anschließen, dass sie damit Israel helfen, begehen einen
ähnlichen ernsten Fehler. Die heutigen Islam-Hasser sind die
gestrigen und morgigen Judenhasser.
DIE PALÄSTINENSER
benötigen Frieden, um die Besatzung los zu werden und um endlich
Freiheit, Unabhängigkeit und ein normales Leben zu erlangen.
Die Israelis
benötigen Frieden, weil wir ohne ihn immer tiefer in den Morast
eines ewigen Krieges sinken, die Demokratie verlieren, auf die wir
so stolz waren, und ein verachteter Apartheidstaat werden.
Die BDS-Debatte kann
die gegenseitige Feindschaft zuspitzen, die Kluft zwischen den
beiden Völkern vertiefen, sie sogar weiter auseinander-reißen. Nur
aktive Kooperation zwischen dem Friedenslager auf beiden Seiten,
kann das einzige Ding, das beide Seiten verzweifelt benötigen,
gewinnen:
Den FRIEDEN.
(Aus dem Engl.
übersetzt: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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