Artikel von Uri Avnery
Start
|
Der palästinensische Romeo
Gedanken zum Film „Arnas Kinder“
Uri Avnery, 13.1.04
Arna Mer war eine temperamentvolle, aufregende Frau. Sie war die Tochter
eines (israelischen) Mediziners, der schon zu Lebzeiten eine Legende war.
Als junge Frau schloss sie sich den Palmachkämpfern im Untergrund an, und
seitdem wurde die von ihnen geschätzte Keffiye * ihr persönliches
Markenzeichen, das sie immer um den Hals trug.
Nach dem Krieg von 1948 schloss sie sich der damals in Israel am meisten
gehassten Gruppe – der kommunistischen Partei - an und heiratete einen
arabischen Parteifunktionär. Ihre beiden bekannten Söhne Juliano und
Spartak tragen die Namen von Revolutionären.
Zu
Beginn der 1.Intifada adoptierte Arna das Jeniner Flüchtlingslager, ein
Meer von Elend und Armut, und schuf eine Insel des Lichtes: ein
Kindertheater. Mit Hilfe von Juliano, einem strebsamen Schauspieler,
scharte sie eine Gruppe von 9/10 jährigen Jungen und Mädchen um sich und
gab improvisierte Vorstellungen mit den primitivsten Mitteln. Da sie
fließend arabisch sprach und sich vollständig mit dem Leiden der
Palästinenser identifizierte, ermunterte sie die Kinder, ihren Zorn, ihren
Stolz und ihre Opposition gegen die Besatzung auszudrücken. Für diese
hingebungsvolle Arbeit ( in ihrem Projekt „Care and Learning“) wurde sie
1993 in Stockholm mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Am
Vorabend ihres Todes besuchte sie - obwohl schon sehr schwach und
gebrechlich - noch einmal das Lager und verabschiedete sich. **
Solch eine Persönlichkeit hätte allein schon einen abendlangen Film
füllen können. Aber im Film „Arnas Kinder“, bei dem Juliano die Regie
führte, treten die Kinderstars Seite an Seite mit der „Mutter“ auf und
machten so den Film zu einem einzigartigen Dokument – ein unentbehrlicher
Film für den, der die Intifada verstehen will.
Vor einem Jahr erhob sich in Israel nach Muhammad Bakris Film „Jenin,
Jenin“ ein Sturm. Er erreichte sogar den Obersten Gerichthof (der die
Entscheidung, dass der Film nicht mehr gezeigt werden dürfe, rückgängig
machte). Beide Filme spielen sich mehr oder weniger auf demselben Grund
und Boden ab: die Jenin-Ereignisse vom April 2002, als die israelische
Armee die Westbankstadt überfiel und das Flüchtlingslager ein Teil der
„Operation Schutzschild“ wurde. Beide zeigen eine tiefe Empathie für die
palästinensische Seite. Aber zwischen beiden gibt es einen großen
Unterschied. In Muhammad Bakris Film werden die Menschen von Jenin als
Opfer eines Massakers gezeigt. In Juliano Mers Version erscheinen sie als
Helden, die es mit der gewaltigen Macht der israelischen Armee aufnehmen.
Die palästinensischen Kämpfer im Film bestreiten empört die Behauptung,
dass es da ein Massaker gegeben habe, eine Behauptung, die sie als
demütigend und beleidigend betrachten. Ihre Haltung erinnert einen
irgendwie an die Überlebenden des Aufstandes im Warschauer Ghetto.
Was diesen Film zu einer unvergesslichen Erfahrung macht, ist die
doppelte Rolle seiner Helden. Juliano filmte sie zunächst, als sie Kinder
waren, Mitglieder von Arnas Theatergruppe. Es sind bezaubernde Jungen und
Mädchen, lebenslustig und voller Humor. Wir sehen sie auf allen Vieren,
bellend und einander angreifend in der Haltung eines „Hundes“. Wir sehen
Ashraf, den eindrucksvollsten Jungen, der davon träumt, einmal der
„palästinensische Romeo“ zu werden. Wir hören diese Kinder, die unter
unmenschlichen Bedingungen leben, wie sie von einem Leben von Glück und
Glanz träumen.
Im
Laufe des Films begegnen wir ihnen noch einmal – diesmal sind es junge
Männer. Der lächelnde, faszinierende Ashraf, der palästinensische Romeo,
jagte sich bei einem Selbstmordattentat in die Luft. Wie in solch einem
Fall üblich, wurde kurz vor der Aktion mit ihm eineVideoaufnahme
gefilmt: ein bärtiger junger Mann, ernst und entschlossen, erklärt, dass
der Tod besser als das Leben in der Hölle eines Flüchtlingslagers unter
Besatzung sei. Andere fielen – „fielen“, sie wurden nicht massakriert – in
der Schlacht von Jenin.
Die Palästinenser haben Juliano gegenüber vollstes Vertrauen, obwohl er
ein „Yahudi“ ist
(tatsächlich ja nur ein halber Jude, aber in ihren Augen ist er eben
Jude). So wurde ihm die Gelegenheit gegeben, die keinem anderen Israeli
zu teil wurde: ihm wurde erlaubt, sie bei Tag und bei Nacht zu begleiten
und zu photographieren und zwar bis zum Ende. So wurde ein wirklich
einzigartiges Dokument geschaffen. Es zeigt, wie jene Männer, die in
IDF-Pressemitteilungen als „bewaffnete Männer“ beschrieben und als „Söhne
des Todes“ ( d.h. um getötet zu werden) definiert werden, leben und
sterben.
Wir sehen, wie sie sich, mit leichten Waffen ausgerüstet, in kleinen
Gruppen bewegen oder in ihren Kleidern schlafen, um jeden Augenblick zu
einer Aktion aufspringen zu können. Sie sitzen zusammen, rauchen eine
Zigarette nach der anderen, scherzen manchmal mit einander, so wie es
Kämpfer vor der Schlacht tun. Ein Geist der Kameradschaft ist um sie. Es
sind alles junge Menschen voller Leben, die wissen, dass ihre Tage gezählt
sind. Keiner von ihnen ist ein religiöser Fanatiker.
Als Beobachtungsposten sie mit dem Handy alarmieren, dass eine israelische
gepanzerte Einheit sich nähert, gehen sie nach draußen und greifen sie an,
Kalaschnikows und Pistolen gegen schwere Panzer. Aber - so sagen sie
selbst – sie werden sich nicht ergeben, sie werden bis zuletzt kämpfen. (
im Sinne des Samson in der Bibel: „Ich will mit den Philistern sterben“
(Richter 16,30)
Dies ist die andere Seite der Meldung des routinierten Armeesprechers: „
Im Verlauf einer Suchaktion nach gewünschten Terroristen betrat die IDF
das Flüchtlingslager ...während des folgenden Feuergefechtes wurden fünf
Palästinenser getötet .. auf unserer Seite gab es keine Verluste...“
Es
ist kein Geheimnis, dass die Armee kürzlich angefangen hat,
Panzerkolonnen in die palästinensischen Städte zu schicken, nicht um
„gewünschte Terroristen zu verhaften“ auch nicht, um „tickende Bomben zu
entschärfen“, sondern um diese bewaffneten Kämpfer aus ihren Verstecken zu
locken und sie zum Angreifen der Panzer zu verleiten – eine Aktion, die
dem Selbstmord gleichkommt.
Am
Ende erschienen fast alle Kinder von Arna – noch einmal Seite an Seite –
auf den Mauern auf den üblichen Postern zur Verewigung der Märtyrer. Die
Kinder, die zu Beginn des Filmes so fröhlich und voller Possen waren,
waren ernst und bedrohend geworden.
In
den Augen der meisten Israeli sind sie einfach Terroristen, Mörder und
Verbrecher, deren einziges Lebensziel es ist, „jüdisches Blut zu
vergießen“. Sie sehen nicht die Menschen dahinter und fragen nicht, woher
sie kamen und was sie veranlasste, das zu tun, was sie tun. Deshalb
verstehen sie auch nicht die Quelle ihrer Stärke und Ausdauer.
In
den Augen der Palästinenser sind sie Nationalhelden, tapfere junge
Menschen, die bereit sind, ihr Leben für die Würde und die Zukunft ihres
Volkes zu geben.
Sie denken über sie etwa so, wie wir über unsere Untergrundkämpfer
dachten, bevor Israel geschaffen wurde.
Ashraf, der „palästinensische Romeo“, starb zusammen mit seinen Freunden
wie Romeo in Shakespeares Tragödie. Als wir den Film sahen, war uns klar,
dass für jeden einzelnen von ihnen inzwischen Dutzend andere ihren Platz
einnehmen.
Als wir nach der Filmvorstellung den Saal verließen, ging mir eine Frage
durch den Kopf: werden am Ende, wenn die Palästinenser ihre Unabhängigkeit
erhalten werden, und diese Kämpfer ein Teil des Nationalmythos geworden
sind, diese in den dunkelsten Zeiten gewachsenen Beziehungen zwischen
diesen Kindern und Arna - und ihr ähnlichen Leuten - eine Basis für
Versöhnung schaffen?
Es ist immer schwierig, die
andere Seite einer Münze zu sehen – noch dazu mitten im Kampf, wenn Leid,
Zorn und Hass vorherrschen. Dieser Film gibt uns eine seltene Gelegenheit,
ein vollständigeres und realistischeres Bild zu erhalten. Es ist ein sehr
bewegender Film, ein Film, der unsere Augen öffnet und erklärt, warum die
israelische Armee die Intifada nicht bezwingen kann – obwohl sie „jeden
Tag gewinnt“, wie der Kommandeur des Gazastreifens in dieser Woche mit
blindem Stolz verkündete.
* Keffiye : das schwarz-weiße Palästinensertuch, die ursprüngliche,
normale Kopfbedeckung der arabischen Männer Palästinas
** ich durfte die schwer krebskranke Arna Mer wenige Wochen vor ihrem Tode
(1994) in Haifa besuchen – obwohl sehr geschwächt, hatte sie noch die
Energie, gegen die Besatzungspolitik zu wettern.(ER)
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Alle deutschen Texte von
Avnery Uri
|