Wer gewann den 2.
Weltkrieg ?
Ran Ha Cohen,
9.4.2004, Antiwar.com
Ran HaCohen lehrt in
der Abteilung Vergleichende Literatur an der Tel Aviv Universität und ist
Literaturkritiker für die israelische Tageszeitung Yedioth Ahronoth,
Israels verbreitetste Tageszeitung.
Der 2. Weltkrieg spielt in unserer Vorstellung der menschlichen Geschichte
eine größere Rolle und ist nicht zu vergleichen mit dem sinnlosen Blutbad
des 1. Weltkrieges. Der 2. Weltkrieg steht für einen ideologischen Kampf
zwischen Gut und Böse. Während die Alliierten - die Briten, die USA und
sogar die Sowjetunion – wenigstens förmlich betonten, dass sie sich den
humanistischen Werten der Aufklärung verpflichtet fühlen, hat Hitlers
Deutschland diese allesamt beiseite gewischt, stattdessen barbarische
Werte wie Macht und Rasse verehrt und war stolz auf seine schamlose
Verachtung der Moral, der internationalen Konventionen und der Regeln des
Gesetzes.
Dieser radikale Unterschied kann am besten durch zwei gegensätzliche
Definitionen von Kriegszielen illustriert werden. Die Encyclopaedia
Britannica (11.Auflage) kommentiert:
„Zivilisierte Kriegsführung ist - nach den Lehrbüchern – wenn irgend
möglich darauf begrenzt, die bewaffneten Kräfte des Feindes kampfunfähig
zu machen. Ansonsten würde der Krieg so lange weiter gehen, bis eine der
Parteien ausgelöscht ist.“
(Eric
Hobsawm: “Barbarism: A Users Guide” in his “On History”, the New Press
1997, s. 253)
Man vergleiche dies mit Hitlers Worten:
„
Das Ziel des Krieges ist nicht, bestimmte Linien zu erreichen, sondern den
Feind physisch auszulöschen. Auf diese Weise werden wir den wichtigen
Lebensraum erhalten, den wir benötigen.“
(Samantha
Power: “A Problem from Hell, America and the Age of Genocide” Perennial
2002 S. 23)
Glücklicherweise verlor das Nazi-Deutschland den Krieg. Aber fast 60 Jahre
nach seiner Niederlage auf dem Schlachtfeld feiert Hitlers Kriegskonzept –
in wesentlichen Bestandteilen seiner gesamten Weltanschauung – eine
Neuauflage in der globalen, ideologischen Arena. Israels Mord am
Hamas-Scheich Ahmad Yassin ist ein Meilenstein im Prozesses der Barbarei
der Menschheit.
Krieg und
Besatzung
Nach dem Trauma des 2.Weltkrieges verpflichtete die internationale
Gemeinschaft die Siegermächte zu moralischen Standards. Die Genfer
Konvention von 1949 bezog sich auf den Schutz ziviler Personen in
Kriegszeiten und stellt fest, dass „Personen, die sich nicht aktiv an
Feindseligkeiten beteiligen, einschließlich von Mitgliedern bewaffneter
Kräfte, die ihre Waffen niedergelegt haben und jener, die wegen Krankheit,
Verwundungen, Verhaftung oder aus einem anderen Grund nicht am Kampf
teilnehmen, unter allen Umständen menschlich behandelt werden sollen“ (
Artikel 3) - eine simple Ableitung dieser Idee, dass das Ziel des Krieges
nicht Auslöschung sondern nur die Kampfunfähigkeit der feindlichen Kräfte
ist.
Die Artikel 47-78 der Konvention schützen Personen, die sich im Falle
eines Konfliktes oder einer Besatzung in den Händen einer Konflikt- oder
Besatzungspartei befinden, zu der sie national nicht gehören“, und
definieren die Rechte von solchen „geschützten Personen“. Es ist hier noch
einmal die Idee, dass die Menschheit als ganzes Personen schützen sollte,
die sich in der Gewalt einer Besatzungsmacht befinden, dass sie auch
durch die Niederlage ihrer Armee nicht ihre Menschenrechte verlieren: und
da genau diese Idee, wie die Nazi-Besatzung es demonstriert hat, für
Besatzungsmächte nicht immer klar ist, sollte dies durch internationale
Konventionen bestätigt werden.
Die Konventionen präsentieren im einzelnen die praktischen Konsequenzen
der Kriegsziele, wie sie in der Britannica dargestellt werden, im
Gegensatz von Hitlers Kriegskonzept der Auslöschung. Auf diese Weise
„
sollen die Besatzungsmächte Geistlichen erlauben, den Mitgliedern ihrer
Religionsgemeinschaften beizustehen“ (Artikel 58)
„Keine Verurteilung durch zuständige Gerichte der Besatzungsmacht sollte
außer nach einem regulären Gerichtsverfahren ausgesprochen werden.“
(Artikel 71)
„Eine für schuldig erklärte Person sollte das Einspruchsrecht haben, wie
es durch Gesetze
vom Gericht vorgesehen ist.“ (Artikel 73)
„In keinen Fall sollten zum Tode verurteilte Personen des Rechtes der
Petition für Begnadigung und des Aufschubs beraubt werden. Kein
Todesurteil sollte vor Ablauf einer Periode von wenigstens sechs Monaten
vollstreckt werden“ etc. etc. (Artikel 75).
Außerdem sorgt die Konvention für spezielle Maßnahmen für „geschützte
Personen, die einen Verstoß begehen, der nur die Besatzungsmacht schädigen
soll“ (Artikel 68). Dies reflektiert sogar ein noch älteres Prinzip einer
aufgeklärten internationalen Gesetzgebung, die das Recht des besetzten
Volkes anerkennt, gegen seinen Besatzer Gewalt anzuwenden. Auf die
Prinzipien der Haager Internationalen Konvention von1907 gegründet und
vom Nürnberger Tribunal bestätigt, war diese Bestimmung wesentlich, um
Nazibehauptungen zuvorzukommen, dass Partisanen, Ghettokämpfer und andere
Widerstandskämpfer im Untergrund in den von Deutschland besetzten Gebieten
angebliche „Terroristen“ gewesen seien: obwohl unbewaffnete Zivilisten
niemals verletzt werden sollten, ist Widerstand gegenüber einer Besatzung,
einschließlich gewalttätigem Widerstand legitim. Auch dies ist eine
stillschweigende Folgerung der Idee, dass die Macht des Besatzers nicht
rechtens ist und dass jeder Mensch das Recht hat, für seine politische
Freiheit zu kämpfen.
Attentat
Wenn man die Artikel 47-78 der Genfer Konvention durchgeht, ist es
schwierig, einen einzigen Artikel zu finden, den Israel als
Besatzungsmacht nicht gebrochen hat. Artikel 49 z.B. : „Die
Besatzungsmacht soll Teile seiner eigenen zivilen Bevölkerung nicht in das
Gebiet, das sie besetzt, umsiedeln“ – dies bedeutet die Illegalität von
Israels Siedlungen. Der Mord an Scheich Yassin jedoch reflektiert eine
neue Ebene von Barbarei auf Israels Seite.
Die Tötung Yassins ist auf verschiedenen Ebenen ein Verbrechen. Eine
unbewaffnete Person zu töten, ist ein Verbrechen. Eine alte, hilflose
Person im Rollstuhl zu töten, ist ein verachtenswertes Verbrechen. Aber
der Mord an Yassin (zusammen mit 8 anderen unschuldigen Palästinensern)
ist weit davon entfernt, nur gerade einen alten behinderten Mann im
Rollstuhl zu töten. Solche von einem Besatzer begangenen Kriegsverbrechen
an „geschützten“ unter Besatzung lebenden Personen – das zufällige Töten
von Alten, Kindern, Frauen, Invaliden, psychisch Kranken und anderen
unbewaffneten, unschuldigen, harmlosen und schutzlosen „geschützten“
Zivilisten – waren für die Palästinenser seit Jahren nun wie tägliche
Routine gewesen. Aber Yassins Mord, der Mord an einem religiösen und
politischen Führer, ist ein Verbrechen von wirklich besonderer Art.
Attentate sind nach dem Artikel 23b der Haager Verordnungen von 1907 klar
verboten. Sogar die amerikanische Politik verurteilt Attentate. Ein
politischer oder religiöser Führer (wenigstens ein Führer einer
freiwilligen Bewegung wie es Yassin tatsächlich war) steht für seine
direkten Anhänger und für die ganze politische und religiöse Entität, von
der er ein Teil ist. Er wird nicht als Individuum ausgewählt, sondern als
Symbol und Vertreter seiner Massen, seien es nun politische Anhänger oder
religiöse Gläubige oder wie in Yassins Fall beides. Yassin wurde als
Symbol der Religion, Kultur, Gesellschaft und Institutionen des
palästinensischen Volkes zum Ziel genommen. Man denke daran, dass Hamas
nicht nur eine Terrororganisation ist, so wie die USA und Israel es gerne
behaupten. Sie ist auch nicht nur eine politische Partei; Hamas unterhält
ein ganzes Netzwerk von Schulen, Kliniken und Sozialeinrichtungen in einer
verarmten Gesellschaft, die nach Jahrzehnten von Ausbeutung und Jahren
der Strangulierung nahe am Verhungern ist. Es geht nicht darum, ob man
Yassins religiöse Überzeugung mag oder nicht; es geht auch nicht darum,
dass Israel selbst in den 80 er Jahren das Hochkommen von Hamas ermutigte
und unterstützte und dabei hoffte, Arafats PLO zu schwächen. Der Haken an
der Sache ist, was der israelische politische Soziologe Lev Grinberg
„einen symbolischen Genozid“ nannte: „weil die Welt keine totale
Vernichtung erlaubt, findet eine symbolische Vernichtung statt.“ Die
Botschaft dieser Gräueltat ist die: Israels Krieg zielt nicht auf die
Kampfunfähigkeit der bewaffneten Kräfte der Feinde hin, sondern auf seine
Vernichtung, wenigstens symbolisch.
Yassin war ein religiöser Führer, aber kein Heiliger. Er widerstand der
Besatzung, was sein Grundrecht war. Andrerseits unterstützte er einen
Waffenstillstand und erst vor wenigen Wochen bot er an, Zivilisten aus der
Gewaltspirale herauszuhalten - ein Angebot, das Sharon abgewiesen hat.
Sicherlich hat er zu Gewalt aufgehetzt. Er mag auch für Terrorismus
verantwortlich gewesen sein. Er mag eher Hitlers Konzept des Krieges
geteilt haben als das aus der Britannica. Wenn dies der Fall war, dann
hätte er verhaftet und vor Gericht gestellt werden können. Leute sind
solange unschuldig, bis das Gegenteil vor Gericht festgestellt wird. Eine
Person ohne Urteil zu töten – nicht eine Person, die eine Bombe mit sich
trägt, nicht eine bewaffnete Person während des Kampfes – ist Terrorismus,
ist Barbarei. Wenn jene, die behaupten, den Terrorismus und die Barbarei
zu bekämpfen, selbst barbarische Terroristen werden, verlieren sie ihren
Gerechtigkeitsanspruch.
Israel verhaftete Yassin in der Vergangenheit - diesmal hat man es nicht
einmal versucht. Vielleicht hatte man kein Beweismaterial; vielleicht weil
die israelische Armee die Regeln des Gesetzes verachtet. Aber vor allem
war der Mord an Yassin als eine Änderung der Spielregeln gedacht, um zu
signalisieren, dass das Ziel dieses Krieges, den Feind zu vernichten,
nicht nur zu besiegen war, und dass von jetzt ab alles möglich ist.
Zu diesem Zweck
einen hilflosen Yassin, der vom Morgengebet in seinem Rollstuhl auf dem
Heimweg war, zu töten, war eine wirksamere Botschaft als den bewaffneten
und uniformierten Laien Arafat zu töten. Die Botschaft heißt: Israel hält
sich an keine moralischen noch rechtlichen Grenzen. Israel kann alte und
behinderte, politische Führer und Geistliche zum Ziel nehmen. Wenn wir
Yassin töten können, können wir jeden töten, sagt die Regierung in
Jerusalem. Kein Richter, keine Moral, keine Konvention und kein Gesetz
kann unsere Raketen stoppen.
Von Jerusalem nach
Washington
Das Vereinigte Königreich, das sich noch sehr wohl an den 2. Weltkrieg
erinnert, bemerkte diesen größeren Sprung zur Barbarei und verurteilte das
Attentat. Die amerikanische Reaktion jedoch beschränkte sich auf das
übliche widerwärtige Klischee, dass „Israel ein Recht habe, sich selbst zu
verteidigen“ und dass man „beide Seiten (zur Zurückhaltung) drängt“.
Unter den Bush-Leuten („Bushites“) – deren Vorfahren keine Skrupel hatten,
mit Hitler Geschäfte zu machen – ist Israel die Vorhut geworden, um die im
2.Weltkrieg besiegte Ideologie wieder zu beleben. Innerhalb weniger Jahre
wurde Israel von einer Arrière-Garde, die überholte Kriege aus überholten
Gründen führte, zur Avant-Garde von Barbarei, die von den USA nahe gefolgt
werden. Das ganze Arsenal von Barbarei der israelischen Besatzung – das
physische, taktische, strategische, sprachliche und ideologische Arsenal –
geht seinen Weg von Gaza nach Bagdad, vom Megiddo-Gefängnis zur
Guantanamo-Bucht, von der Jerusalem Post zur Washington Post.
„Ein konstitutives
Ereignis“
Nach dem Mord zitierte Haaretz ( 23.3.04) den israelischen Militärstab,
dass dies ein „konstitutives Ereignis“ gewesen sei, eines, das Geschichte
macht. Tatsächlich. Es sei denn, eine globale Reaktion taucht gegen
diese Barbarei auf – nicht eine Reaktion im Stil der Al-Qaida, der diese
Barbarei gerade teilt, sondern etwa das Beispiel des Regierungswechsels
in Spanien vor kurzem . ...
Wenn wir also nicht den Kampf für das Vermächtnis der Alliierten, die den
2. Weltkrieg gewonnen haben, erneuern und all jene, die für die Barbarei
gegen die Menschheit verantwortlich sind, loswerden, dann mag Israels Mord
an Scheich Yassin als der Moment in die Geschichte eingehen, in dem
Hitlers Kriegs-Konzept der Vernichtung und der Verachtung aller
Grundüberzeugungen und Konventionen der Menschlichkeit, seinen Triumph
feiert, geteilt und auferlegt von der Achse Sharon, Bush and Bin Laden.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
http://antiwar.com/hacohen/?articleid=2196