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Gedanken von Felicia Langer
am Internationalen Solidaritätstag der UNO
für die Palästinenser:
"Ein Haus in den Blumen" - Die Vergangenheit
und die Gegenwart
Israel zerstört die Häuser von
Palästinensern heutzutage als eine
Kollektivstrafe. Es ist nicht das einzige
Kriegsverbrechen, das Israel begeht.
Jahrelang habe ich auch dagegen juristisch
gekämpft.
Ich erinnere mich an das erste zerstörte
Haus, das ich in Nablus im Jahre 1968
gesehen habe. Und ich möchte diese
Erinnerung so, wie ich sie in einem meiner
Bücher beschrieben habe, mit dem Leser
teilen: "Ein Haus in den Blumen." Tausende
von Häusern wurden seit jenem Tag im Jahre
1968 in die Luft gesprengt, an dem ich auf
dem Hügel stand, der sich in Nablus neben
den Ruinen des kleinen Hauses von Hamsi
Tukan erhebt. Es war ein schönes, geräumiges
Haus mit Blumenbeeten an beiden Seiten der
Stufen, die zum Haus hinaufführten.
Der alte Tukan deutete auf die Trümmerhaufen
dessen, was vor wenigen Tagen noch sein Haus
gewesen war. Die gepflegten Blumenbeete
waren von Betonbrocken zermalmt, und nur
hier und da waren noch ein paar verwelkte
Blumen zu erspähen. Er sinnierte darüber,
was ihm angetan worden war, und wir blickten
auf das Werk einer perfiden Bestrafung, die
aufgrund von Vergehen erfolgte, die Tukans
verhaftetem Sohn zugeschrieben wurden. Wir
ahnten damals nicht, daß diese Maßnahme
später vom Obersten Gericht legalisiert
werden sollte.
Ich verspürte den übermächtigen Drang, Tukan
zu sagen, dass dies nicht das einzige
Gesicht meines Volkes sei. So entstand die
erste Spalte "Aus meinem Tagebuch", die in "Zo
Haderech" und in "Al Ittihad" unter dem
Titel "An meinen Bruder Hamsi Tukan"
veröffentlicht wurde. Der Tag würde kommen,
an dem Tukan ein neues Haus bauen und wieder
Blumen pflanzen könnte, die in allen Farben
blühen würden.
Einige Tage nach der Veröffentlichung, als
ich gegen Abend nach Hause zurückkehrte,
hörte ich plötzlich ein Geschrei aus dem
gegenüberliegenden Haus, das, als ich
bereits zu meiner Wohnung hinaufging, immer
lauter wurde. "Da schau sie an, dieses
Miststück, diese Verräterin! Dieser dreckige
Araber ist ihr Bruder! Soll sie doch zu ihm
nach Nablus gehen, wir brauchen sie hier
nicht!"
Das Schreien lockte die Nachbarn auf ihre
Balkone, und wenn jemand noch nicht gewußt
hatte, wovon die Rede war, so erhielt er von
der schreienden Nachbarin und ihrem Mann,
der sie dabei unterstützte, Aufklärung: "Sie
schreibt, dass dieser Terrorist aus Nablus
ihr Bruder ist und nennt sich auch noch
Jüdin!"
Ich trat mit meinem 15jährigen Sohn Michael,
der ganz blaß vor Aufregung war, auf den
Balkon hinaus. Die Gesichter meiner Nachbarn
waren hassverzerrt, wie ich es noch nie
gesehen hatte. Ich versuchte etwas zu sagen,
aber meine Worte gingen in der Flut von
Beschimpfungen und den hysterischen Schreien
unter.
"Verschwinde aus diesem Hause", brüllten
sie, "wir dulden nicht, daß Du hier wohnst!
Möchtest Du, daß wir diesem Araber Blumen
pflanzen? Du kannst solche wie die hier auf
deinem Grab haben!" Und sie zeigten auf die
gepflegten Beete in meinem Hofanteil. Manche
Nachbarn stimmten in die Beschimpfungen mit
ein, manche schauten nur zu und lauschten.
Niemand intervenierte zu meinen Gunsten. Ich
zog mich zurück und machte Bestandsaufnahme.
Mein Mann war im Ausland, ich mußte selber
ihrer Herr werden, mich rasch an die Polizei
wenden, Anzeige erstatten und um Schutz
bitten.
"Wie kommen wir hier raus, Mama?" fragte
Michael. "Sie wollen dir etwas antun." "Sie
werden es nicht wagen", sagte ich zu ihm und
wir gingen hinaus. Der Gang entlang
dem Pfad zwischen den Häusern bis zur Straße
ähnelte einem Spießrutenlauf in der
zaristischen Armee. Flüche und Schreie
begleiteten uns bis auf die Straße hinaus.
Von der Polizeiwache kehrten wir in
Begleitung von Polizisten zurück. Sie gingen
zu den Nachbarn und untersagten ihnen
Ausfälligkeiten oder Tätlichkeiten gegen
mich. Danach kamen sie zurück und teilten
mir mit, die Nachbarn befürchteten, früher
oder später würde mich sicher jemand
umbringen. Auch sie fühlten sich gefährdet
und wollten nicht mit hineingezogen werden.
Deshalb schlügen sie mir vor, auszuziehen.
Sie waren sehr sachlich.
Die ganze Zeit hatte ich die Beleidigungen
geschluckt, aber nun konnte ich mich nicht
mehr beherrschen und ich explodierte, bis
mein Hals heiser war. Ich sagte ihnen, daß
sie die Hüter des Gesetzes wären, daß sie
die Pflicht hätten, für meinen Schutz und
meine Sicherheit als Bürgerin dieses Staates
zu sorgen, daß ich hier nicht weggehen würde
und daß sie für meine Sicherheit
verantwortlich seien. Die Ausfälligkeiten
wiederholten sich nicht.
Das war aber noch nicht das Ende der
Angelegenheit. Nun forderten die Nachbarn
mit einer Unterschriftensammlung, daß ich
das Haus verlassen müßte; sie verlangten
auch vom Besitzer des
Lebensmittelgeschäftes, mir nichts mehr zu
verkaufen. Er weigerte sich jedoch und sie
zogen beschämt ab. Eine praktische
Schlußfolgerung, die ich aus der Affäre zog,
war, daß ich in diesem Hof keine Blumen mehr
pflanzte.
Das ganze Jahr hindurch wurden alle meine
Bewegungen von durchbohrenden, haßerfüllten
Blicken begleitet, hin und wieder fiel auch
ein Fluch. Und ich ging mit demonstrativ
hocherhobenem Kopf vorbei, obwohl sich jedes
Mal etwas in meinem Innern zusammenzog. Wenn
ich Glück hatte, begegnete ich auch der
Clique von Jugendlichen nicht, die immer,
wenn ich an ihnen vorbeiging, in meine
Richtung spuckten."
("Zorn und Hoffnung", Seite 92 bis 94)
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Annete Groth, menschenrechtspolitische
Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, schrieb
im Rahmen einer Solidaritätserklärung für
das palästinensische Volk: "Die repressiven
Maßnahmen gegen PalästinenserInnen wie
beispielsweise die Befugnis zu
außergerichtlichen Tötungen, zusätzliche
Sicherheitskräfte im Nahverkehr und an den
Checkpoints, Straßenblockaden auch mitten in
Jerusalem sowie die Abriegelung ganzer
Stadtteile, eine über Jerusalem kreisende
Drohne und die administrativen Verhaftungen
von MenschenrechtsverteidigerInnen heizen
die Stimmung weiter an. Die durch die
Besatzung ohnehin beschnittene
Bewegungsfreiheit wird durch die Checkpoints
und Straßenblockaden noch weiter
eingeschränkt und die Perspektivlosigkeit
der Menschen auch aufgrund kollektiver
Bestrafung verstärkt."
Amira Hass, eine mutige israelische
Journalistin, schildert die Lage der
Palästinenser heutzutage klar und deutlich
(Palästina Portal vom 10. November 2015):
"Young Palestinians do not go out to murder
Jews because they are Jews, but because we
are their occupiers, their torturers, their
jailers, the thieves of their land and water,
their exilers, the demolishers of their
homes, the blockers of their horizon.
Young Palestinians, vengeful and desperate,
are willing to lose their lives and cause
their families great pain because the enemy
they face proves every day that its malice
has no limits."
Die israelische Besatzung ist jetzt fast 50
Jahre alt und der Besatzer hat noch nicht
gelernt, daß die Palästinenser ein stolzes
Volk sind. Sie werden nie Besatzung,
Unterdrückung und Entrechtung akzeptieren.
Und warum sollten sie auch?
Die Gerechtigkeit und das Völkerrecht sind
auf ihrer Seite! Und auch mehr und mehr
Menschen mit Gewissen überall.
Tübingen, 29. November 2015