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Ungeheuerlich und empörend
Noam Chomsky -
1. August 2014
Zweierlei Maß
Fast jeder Tag bringt neue Nachrichten von fürchterlichen
Verbrechen, aber einige sind derartig abscheulich, grauenhaft und bösartig, dass
sie alles andere in den Schatten stellen. Einer dieser seltenen Vorfälle
ereignete sich am 17. Juli, als Malaysian Airlines MH17 im Osten der
Ukraine abgeschossen und 298 Menschen getötet wurden.
Der Tugendwächter im Weißen Haus brandmarkte dies als eine
„Gräueltat unvorstellbaren Ausmaßes“, die er „russischer Unterstützung“
zuschrieb. Seine UN-Botschafterin donnerte: „Wenn 298 Zivilisten beim
entsetzlichen Abschuß eines Verkehrsflugzeugs getötet werden, dürfen wir uns bei
der Suche nach dem Verantwortlichen durch nichts aufhalten lassen und ihn seiner
gerechten Strafe zuführen“. Darüber hinaus forderte sie Putin auf, die
schamlosen Bemühungen zu beenden, seine eindeutige Verantwortung von sich zu
weisen.
Wahr ist, dass „der irritierende kleine Mann“ mit dem „rattenhaften
Gesicht“ (Timothy Garton Ash, britischer Historiker) eine unabhängige
Untersuchung gefordert hatte, aber dies natürlich nur wegen der Sanktionen, die
die USA verhängt hatten - das einzige Land, das dazu den Mut gehabt hatte,
während die Europäer sich ängstlich wegduckten.
Auf CNN versicherte der frühere Botschafter in der Ukraine,
William Taylor, der Welt, dass der irritierende kleine Mann „eindeutig
verantwortlich für den Abschuß dieses Fluzeugs“ sei. Wochenlang wurde in
Titelgeschichten über den Kummer der Familien berichtet, das Leben der
ermordeten Opfer, die internationalen Bemühungen, an die Leichen heranzukommen,
die Wut über das entsetzliche Verbrechen, das „die Welt schockiert“, wie die
Medien in grausigen Details berichteten.
Jedem informierten Menschen, und ganz gewiß jedem Redakteur
und Kommentator, fiel sofort jenes andere Ereignis ein, als ein Flugzeug mit
einem vergleichbaren Verlust an Leben abgeschossen wurde: Iran Air 655
mit 290 Toten, darunter 66 Kinder, die in iranischem Luftraum auf einer
eindeutig identifizierten kommerziellen Flugroute zum Absturz gebracht wurde.
Dieses Verbrechen wurde weder mit „amerikanischer Unterstützung“ begangen, noch
war sein Urheber je ungewiß. Es war der Lenkwaffenkreuzer USS Vincennes,
der im Persischen Golf in iranischen Gewässern operierte.
Der Kapitän eines in der Nähe kreuzenden US-Schiffs, David
Carlson, schrieb in „U.S. Naval Proceedings“, dass er „es kaum glauben konnte“,
als „die Vincennes ihre Absicht bekundete“, ein eindeutig ziviles Flugzeug
anzugreifen. Er vermutete, dass der Lenkwaffenkreuzer - „Robo Cruiser“, wie die
Vincennes wegen ihres aggressiven Verhaltens genannt wurde -, „das Bedürfnis
hatte, die Funktionstüchtigkeit von Aegis (dem hochentwickelten
Flugabwehr-system des Kreuzers) im Persischen Golf zu beweisen und dass sie sich
nach einer Gelegenheit sehnten, ihr Zeug zu demonstrieren“.
Zwei Jahre
später wurde dem Kapitän der Vincennes und dem für die Luftabwehr
verantwortlichen Offizier ein Orden [Legion of Merit award]
verliehen für „die außerordentlich verdienstvolle Ausführung eines
hervorragenden Dienstes“ [in the performance of outstanding service]
und für die „besonnene und professionelle Atmosphäre“ bei der Zerstörung
des iranischen Airbus, der in der Auszeichnung nicht erwähnt wurde.
Präsident
Ronald Reagan beschuldigte die Iraner und verteidigte die Aktion des
Kriegsschiffs, das „bestehende Anordnungen und breit veröffentlichte
Verfahrensweisen“ befolgt habe. Sein Nachfolger, Bush I., erklärte: „Ich werde
mich niemals für die Vereinigten Staaten ent-schuldigen – die Fakten sind mir
egal....Ich bin kein Entschuldigt-bitte-Amerika-Typ“.
Kein Abstreiten
der Verantwortung hier, wie bei den Barbaren im Osten.
Es gab
seinerzeit kaum Reaktionen: keine Empörung, keine verzweifelte Suche nach den
Opfern, keine leidenschaftliche Anprangerung der Verantwortlichen, keine
eloquenten Klagen des US-Botschafters bei der UNO über den „unermeßlichen und
herzzerreißenden Verlust“, als das Flugzeug abgeschossen wurde. Iranische
Verurteilungen wurden gelegentlich registriert, aber als „die üblichen Angriffe
auf die Vereinigten Staaten“ (Philip Shenon, New York Times) abgetan.
Kein Wunder also, dass dieses unbedeutende frühere Ereignis
den amerikanischen Medien jetzt nur hie und da eine Erwähnung wert war während
des gewaltigen Aufruhrs wegen eines wirklichen Verbrechens, in das der
teuflische Feind möglicherweise indirekt verwickelt war.
Eine Ausnahme gab es in der Londoner Daily Mail, wo Dominick
Lawson schrieb, daß - obwohl “Putins Apologeten” den Angriff auf das iranische
Flugzeug anführen könnten -, der Vergleich eher unsere hohen moralischen Werte
zeige im Gegensatz zu den erbärmlichen Russen, die ihre Verantwortung für MH 17
zu leugnen versuchen, während Washington sofort erklärt habe, dass das
US-Kriegsschiff das iranische Flugzeug – zu Recht - abgeschossen habe. Kann es
einen überzeugenderen Beweis für unseren Edelmut und ihre Verworfenheit geben?
Wir wissen, warum Ukrainer und Russen sich in ihren Ländern
befinden, aber man könnte sich die Frage stellen, was genau die Vincennes in
iranischen Gewässern verloren hatte. Die Antwort ist ganz einfach. Sie
verteidigte Washingtons engen Freund Saddam Hussain bei seiner
mörderischen Aggression gegen Iran. Für die Opfer war der Abschuß durchaus keine
kleine Angelegenheit. Er war ein wesentlicher Anstoß zur Einsicht der Iraner,
dass man nicht länger kämpfen könne, so der Historiker Dilip Hiro.
Es lohnt sich, an das Ausmaß von Washingtons Zuneigung für
Freund Saddam zu erinnern.
Reagan strich ihn von der Terrorliste, so dass ihm Hilfe
zuteil werden konnte, um seinen Angriff auf Iran zu intensivieren, und später
leugnete er, Reagan, dessen fürchterliche Verbrechen an den Kurden,
einschließlich des Einsatzes von chemischen Waffen, und blockierte die
Verurteilung durch den Kongreß. Er gewährte Saddam auch ein Privileg, das
ansonsten nur Israel zugestanden wurde: es gab keine ernsthafte Reaktion, als
Irak die USS Stark mit Raketen angriff, wobei 37 Besatzungsmitglieder
umkamen, ganz ähnlich wie im Fall der USS Liberty, die 1967 wiederholt
von israelischen Kampfjets angegriffen wurde, was 34 Opfer zur Folge hatte.
Reagans Nachfolger, George Bush I.,
setzte die Hilfe für Saddam fort, die dieser nach dem Krieg gegen Iran, den er
angezettelt hatte, dringend benötigte. Bush lud auch irakische Atom-Ingenieure
in die USA ein zur Fortbildung in der Waffenproduktion. Im April 1990 entsandte
Bush eine hochrangige Senatsdelegation, die vom späteren republikanischen
Präsidentschafts-kandidaten Bob Dole geleitet wurde, um seinem Freund Saddam die
wärmsten Grüße zu übermitteln und ihm zu versichern, dass er die
unverantwortliche Kritik in der „arroganten und verwöhnten amerikanischen
Presse“ ignorieren solle und dass derartige Übeltäter bei Voice of America
entlassen worden seien. Die Schmeicheleien gegenüber Saddam gingen weiter, bis
er sich einige Monate später in Hitler verwandelte, weil er Befehle missachtete,
oder sie vielleicht missverstand, und in Kuweit einmarschierte – mit
aufschlussreichen Konsequenzen, die nochmals zu bedenken sich lohnt, auf die ich
allerdings hier nicht eingehen kann.
Andere Fälle waren schon längst als bedeutungslos dem
Gedächtnis entschwunden. Ein Beispiel ist das libysche Verkehrsflugzeug,
das 1973 in einem Sandsturm verschwand, nachdem es von israelischen
Kampfflugzeugen aus amerikanischer Produktion abgeschossen worden war, zwei
Flugminuten von Kairo entfernt, wohin es unterwegs war. Es waren in diesem Fall
nur 110 Opfer zu verzeichnen. Israel beschuldigte den französischen Piloten und
wurde von der New York Times unterstützt, die hinzufügte, die israelische
Tat sei „im schlimmsten Fall...eine Rücksichtslosigkeit, die noch nicht einmal
mit der Barbarei vorheriger arabischer Untaten gerechtfertigt werden kann“. Der
Zwischenfall wurde in den Vereinigten Staaten ohne sonderliche Kritik rasch in
Schweigen gehüllt. Als die israelische Minister- präsidentin Golda Meir vier
Tage später in den USA empfangen wurde, hatte sie nur wenige peinliche Fragen zu
gewärtigen und kehrte mit dem Geschenk zusätzlicher Militärflugzeuge nach Hause
zurück.
Die Reaktion war weitgehend die gleiche, als - neben anderen
Beispielen - Washingtons bevorzugte angolanische Terrororganisation UNITA
etwa zur gleichen Zeit den Abschuß zweier Zivilflugzeuge meldete.
Wenden wir uns wieder dem eigentlichen und wahrhaftig
horrenden Verbrechen zu. Die New York Times berichtete, daß die
amerikanische UN-Botschafterin Samantha Power „aus der Fassung geriet, als sie
von den Kindern sprach, die beim Absturz des malaysischen Flugzeugs in der
Ukraine umkamen, [und] der holländische Außenminister, Frans Timmermans, kaum
seinen Ärger unterdrücken konnte, als er die Bilder von ‚Strolchen’ in
Erinnerung rief, die Opfern die Eheringe von den Fingern zogen“.
Bei derselben Sitzung [des Sicherheitsrats], fährt der
Bericht fort, habe es „eine lange Auf-zählung von Namen und Alter
palästinensischer Kinder gegeben, die bei der jüngsten israe-lischen
Gaza-Offensive getötet wurden“. Die einzige Reaktion, die erwähnt wurde, war die
des palästinensischen Gesandten Riyad Mansour, der während der Aufzählung „ganz
still wurde“.
Der israelische Angriff auf Gaza im Juli
rief jedoch Empörung in Washington hervor. Präsident
Obama „wiederholte seine ‚scharfe Verurteilung’ von Raketen- und
Tunnelangriffen der militanten Gruppe der Hamas auf Israel“, wie das Weiße Haus
verkündete. Obama „brachte auch seine >wachsende Sorge<
zum Ausdruck wegen der steigenden Zahl ziviler palästinensischer Opfer in Gaza“,
aber nicht , dass er sie verurteilte. Der Senat füllte diese Lücke, indem er das
israelische Vorgehen in Gaza einstimmig unterstützte, und zugleich „die
unprovozierten Raketenangriffe [von Hamas] auf Israel“ verurteilte und „den
Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmoud Abbas,“ aufrief,
„die Einheitsregierung mit der Hamas aufzulösen und die Angriffe auf Israel zu
verurteilen“.
Was den Kongress betrifft, sollten wir uns vielleicht den 80
Prozent der [amerikanischen] Bevölkerung anschließen, die sein Verhalten
missbilligen, obwohl das Wort „missbilligen“ in diesem Fall eher zu schwach ist.
Aber zu Obamas Verteidigung: möglicherweise hat er keine Ahnung, was Israel in
Gaza treibt mit den Waffen, die er ihm freundlicherweise liefert. Schließlich
muß er sich auf den amerikanischen Geheimdienst verlassen, der möglicherweise zu
beschäftigt ist mit dem Sammeln von Telefonaten und E-Mail-Nachrichten der
Bürger, als dass er sich groß mit derartigen Marginalien abgibt.
Es könnte daher sinnvoll sein, sich dessen zu vergewissern,
was wir alle wissen sollten.
Israels Ziel war lange ein ganz einfaches: „Ruhe für Ruhe“,
eine Rückkehr zur Normalität (obwohl es jetzt möglicherweise noch mehr
verlangt). Was aber ist die Normalität?
Die Normalität im Westjordanland
besteht darin, dass Israel seinen illegalen Bau von
Siedlungen und Infrastruktur fortsetzt, um sich, was immer ihm wertvoll
erscheint, einzuverleiben, während es den Palästinensern nicht lebensfähige
Kantone zuweist und sie einer intensiven Unterdrückung und Gewalt unterwirft.
Seit 14 Jahren ist es Normalität, dass Israel jede Woche zwei
palästinensische Kinder tötet. Der jüngste israelische Amoklauf wurde durch den
brutalen Mord an drei israelischen Jungen aus einer Siedlergemeinde im
Westjordanland ausgelöst. Einen Monat zuvor waren zwei palästinensische Jungen
im Westjordanland erschossen worden. Dies rief keine Aufmerk-samkeit hervor, was
verständlich ist, weil es [Besatzungs-]Alltag ist. „Die institutionalisierte
Missachtung des palästinensischen Lebens im Westen hilft, nicht nur den
Rückgriff der Palästinenser auf Gewalt zu begreifen“, berichtet der geachtete
Nahost-Analytiker Mouin Rabbani, „sondern auch Israels jüngsten Angriff auf den
Gazastreifen“.
„Ruhe für Ruhe“ hat Israel auch ermöglicht, sein Programm der
Trennung Gazas vom Westjordanland umzusetzen. Dieses Programm ist rigoros
vorangetrieben worden, immer mit amerikanischer Hilfe, seit die USA und Israel
die Oslo-Vereinbarungen akzeptierten, in denen die zwei Landesteile zu einer
untrennbaren territorialen Einheit erklärt wurden.
Ein Blick auf die Karte erklärt das Grundprinzip. Gaza stellt
Palästinas einzigen Zugang zur Außenwelt dar. Sind die zwei Teile also getrennt,
würde jede Form der Autonomie, die Israel den Palästinensern im Westjordanland
zugestehen könnte, sie effektiv einsperren zwischen feindlichen Staaten: Israel
und Jordanien. Die Einsperrung wird umso schlimmer, als Israel sein Programm der
systematischen Vertreibung der Palästinenser aus dem Jordan-Tal und des Baus von
israelischen Siedlungen dort fortsetzt, während es sich der „Ruhe für Ruhe“
erfreut.
Die Normalität in Gaza
wurde detailliert vom heroischen norwegischen Unfallchirurgen
Mads Gilbert beschrieben, der [in früheren Jahren] während Israels
grausamster Verbrechen in Gazas Haupt-Kranken-haus gearbeitet hatte und
anlässlich des gegenwärtigen Gemetzels zurückkehrte. Im Juni 2014 übermittelte
er einen Bericht über den Gaza-Gesundheitssektor an UNWRA, die UNO-Organisation,
die sich ohne nennenswerte Finanzmittel verzweifelt um die Flüchtlinge kümmert.
„Mindestens 57% der Haushalte in Gaza verfügen nicht über
ausreichend Lebensmittel und etwa 80% sind von Hilfslieferungen abhängig“, so
Gilbert. „Nahrungsmittelmangel und zunehmende Armut bedeuten auch, dass die
meisten Menschen nicht ihren täglichen Kalorienbedarf decken können.
Gleichzeitig wird über 90% des Wassers als ungeeignet für den menschlichen
Konsum eingestuft“, eine Situation, die sich noch verschlimmert, weil Israel
wieder die Wasser- und Abwassersysteme angreift, was für über eine Million
Menschen noch gravierendere Störungen der grundlegenden Lebensvoraussetzungen
zur Folge hat.
Gilbert berichtet, dass „palästinensische Kinder fürchterlich
leiden. Ein großer Teil von ihnen ist von menschengemachter Mangelernährung
betroffen, die durch Israels Blockade verur-sacht wird. Die Verbreitung von
Anämie bei Kindern unter 2 Jahren beträgt 72,8 Prozent, während die Verbreitung
von Schwindsucht, Unterentwicklung, Untergewicht bei 34,3, 31,4 und 31,45
Prozent liegt.“ Und der Bericht wird fortschreitend immer schlimmer.
Der angesehene Menschenrechtsanwalt Raji Sourani,
der seit Jahren brutalen israelischen Terrors in Gaza ausharrt, berichtet: „Der
übliche Satz, den ich zu hören bekam, wenn die Leute über eine Waffenruhe
sprachen, lautet: Es ist für uns alle besser zu sterben, als zu der Situation
zurückzukehren, die wir vor diesem Krieg hatten. Das wollen wir nicht wieder.
Wir haben keine Würde, keinen Stolz; wir sind bloß „weiche Ziele“ und wertlos.
Entweder verbessert sich diese Situation wirklich, oder es ist besser, einfach
zu sterben. Ich spreche von Intellektuellen, Akademikern, von normalen Leuten:
alle sagen das.“
Dieser Gedanken ist in Gaza allgemein zu hören: es ist
besser, würdevoll zu sterben, als langsam vom Folterer stranguliert zu werden.
Rückzug aus dem Gazastreifen 2005
Die Pläne für diese Normalität in Gaza wurden unumwunden von
Dov Weissglass, einem Vertrauten von Ariel Sharon
erläutert, der den Rückzug israelischer Siedler aus dem Gaza-streifen 2005
verhandelte. Dieser Rückzug, der in Israel und von seinen Anhängern und
Irregeleiteten anderswo als großzügige Geste bejubelt wurde, war in Wirklichkeit
ein sorg-fältig inszeniertes „nationales Trauma“, das von informierten
israelischen Kommentatoren entsprechend lächerlich gemacht wurde, unter ihnen
der führende, mittlerweile verstorbene israelische Soziologe Baruch Kimmerling.
Tatsächlich erkannten israelische Falken, angeführt von
Sharon, dass es durchaus Sinn mach-te, die völkerrechtswidrigen Siedler aus
ihren subventionierten Gemeinden im zugrunde ge-richteten Gazastreifen, wo sie
zu ausufernden Kosten ausgehalten wurden, in subventionierte Siedlungen in den
anderen besetzten Gebieten, die Israel zu behalten gedenkt, zu transferie-ren.
Aber anstatt sie einfach umzusiedeln, was leicht zu bewältigen gewesen wäre,
machte es ganz klar mehr Sinn, der Welt Bilder von kleinen Kindern zu
präsentieren, die Soldaten anflehten, nicht ihre Häuser zu zerstören, inmitten
von „Nie-wieder“-Rufen, mit der unvermeidlichen [Holocaust-]Assoziation. Was
diese Farce noch durchschaubarer machte, war die Wiederholung des inszenierten
Traumas von 1982, als Israel den ägyptischen Sinai räumen musste. Aber sie war
sehr wirkungsvoll für das anvisierte Publikum zu Hause und im Ausland.
Weissglass lieferte seine eigene Sicht des Siedlertransfers:
„Mit den Amerikanern habe ich mich klipp und klar darauf geeinigt, dass über die
größeren Siedlungsblöcke des Westjordan-landes überhaupt nicht verhandelt wird,
und über den Rest wird verhandelt, wenn die Palästinenser zu Finnen geworden
sind“ – aber zu einer speziellen Sorte von Finnen, die die Herrschaft einer
fremden Macht hinnehmen würde. „Die Bedeutung [dieser Vereinbarung] besteht im
Einfrieren des politischen Prozesses“, fuhr Weisglass fort. „Und solange er
eingefroren ist, kommt es nicht zur Bildung eines palästinensischen Staates und
auch nicht zu einer Diskussion über die Flüchtlinge, die Grenzen und Jerusalem.
Kurz, das ganze Paket namens „Palästinensischer Staat“ - mit allem was
dazugehört - ist für unbegrenzte Zeit von der Tagesordnung. Und all dies mit der
Autorität und der Erlaubnis des amerikanischen Präsidenten [George W. Bush] und
der Absegnung durch beide Häuser des [amerikanischen] Kongresses.“
Weissglass erläuterte weiter, dass die Gaza-Bewohner „auf
Diät“ bleiben sollten, „aber so, dass sie nicht Hungers sterben müssen“ – was
Israels verblassender Reputation nicht helfen würde. Mit ihrer vielgepriesenen
technischen Effizienz bestimmten israelische Experten ganz genau, wie viele
Kalorien pro Tag die Menschen in Gaza zum nackten Überleben benötigen.
Gleichzeitig wurden ihnen Arznei- und andere Mittel für ein
anständiges Leben vorenthalten. Das israelische Militär sperrte sie – so ganz
richtig der britische Premierminister David Cameron – in ein
Gefangenenlager, das von Land, Luft und See her verschlossen ist. Der
israelische Rückzug ließ Israel die totale Kontrolle über Gaza, folglich bleibt
Israel gemäß Völkerrecht Besatzungsmacht. Und um die Gefängnismauern noch
undurchdringlicher zu machen, versperrte Israel den Palästinensern einen breiten
Streifen längs der Grenze, der ein Drittel des knappen nutzbaren Bodens umfasst.
Die Rechtfertigung dafür ist Israels Sicherheit, die genauso erreicht werden
könnte durch die Errichtung dieser Sicherheitszone auf der israelischen Seite
der Grenze, oder noch besser: durch die Beendigung der barbarischen Besatzung
und anderer Strafmaßnahmen.
Die offizielle Version lautet, dass die Palästinenser,
nachdem Israel ihnen huldvoll Gaza über-geben habe, in der Hoffnung, dass sie
ein blühendes Gemeinwesen errichten würden, ihre wahre Natur zeigten, indem sie
Israel unaufhörlichen Raketenangriffen aussetzten und die eingesperrte
Bevölkerung zwangen, Märtyrer zu werden, nur um Israel in ein schlechtes Licht
zu rücken.
Die Wirklichkeit sieht allerdings ziemlich anders aus.
Wahlsieg der Hamas in den besetzten Gebieten 2006
Wenige Wochen nach dem Truppenrückzug, der – wie gesagt - die
Besatzung keineswegs beendete, begingen die Palästinenser ein schweres
Verbrechen. Im Januar 2006 wählten sie bei einer sorgfältig überwachten Wahl
„falsch“ und bescherten der Hamas die Mehrheit im Parlament. Die Medien werden
nicht müde zu betonen, dass die Hamas sich zum Ziel gesetzt hat, Israel zu
zerstören. In Wirklichkeit haben ihre Führer wiederholt und explizit
klargestellt, dass Hamas eine Zwei-Staaten-Lösung gemäß dem internationalen
Konsens akzeptiert, der seit 40 Jahren von den USA und Israel unterlaufen wird.
Im Gegensatz dazu hat Israel – abge-sehen von gelegentlichen bedeutungslosen
Worten - sich zum Ziel gesetzt, Palästina zu zerstören, und dieses Ziel verfolgt
es beharrlich.
Es ist wahr, Israel hat die von Präsident Bush initiierte
Road Map akzeptiert, die zur Zwei-Staaten-Lösung führen sollte. Sie wurde vom [Nahost-]Quartett
- USA, EU, UNO und Ruß-land – übernommen, das die Aufsicht über ihre
Realisierung übernahm. Aber bei der Annah-me der Road Map fügte Premierminister
Sharon ihr 14 Einschränkungen hinzu, die sie prak-tisch aufhoben. Diese Fakten
waren Aktivisten bekannt, aber einer breiteren Öffentlichkeit wurden sie erst
durch Jimmy Carters Buch „Palästina: Frieden, nicht Apartheid“ enthüllt. In
Medien-Bericht-erstattung und Kommentaren werden sie weitgehend totgeschwiegen.
Das seit 1999 unveränderte Programm von Israels regierender
Partei, Netanyahus Likud, „lehnt die Errichtung eines palästinensischen
arabischen Staates westlich des Jordans entschieden ab“. Und für diejenigen, die
zwanghaft auf bedeutungslosen Chartas herumreiten: der Kern des Likud, Menahem
Begins Cherut-Partei, muß sich immer noch von ihrer Gründungsdoktrin
verabschieden, nämlich dass das Territorium auf beiden Seiten [!] des Jordans
Teil des Landes Israel ist.
Das „Verbrechen“ der Palästinenser vom Januar 2006 wurde
sofort bestraft. Die USA und Israel, Europa schändlicherweise im Schlepptau,
verhängten harte Sanktionen gegen die irregeleitete Bevölkerung, und Israel
verschärfte seine Gewaltpolitik. Bis zum Juni [2006], als die Angriffe
eskalierten, hatte Israel bereits mehr als 7700 (155 mm) Granaten auf den Norden
des Gazastreifens abgeschossen.
Geplanter Militärputsch gegen die gewählte Hamas
2007
Die USA und Israel entwickelten rasch Pläne für einen
Militärputsch, um die gewählte Regie-rung zu stürzen. Als die Hamas die
Frechheit besaß, diese Pläne zu vereiteln, wurden die isra-elischen Angriffe und
die Belagerung erheblich intensiviert. Gerechtfertigt wurde dies mit der
Behauptung, dass Hamas den Gazastreifen gewaltsam übernommen habe – was nicht
gänzlich falsch ist. Allerdings wird dabei die entscheidende Tatsache [des
geplanten Putsches] unterschlagen.
Es erübrigt sich wohl, die schauerliche Bilanz der Ereignisse
noch einmal Revue passieren zu lassen. Die erbarmungslose Belagerung und die
barbarischen Angriffe werden unterbrochen durch Phasen des „Rasenmähens“, um
Israels neckischen Ausdruck für seine periodischen Übungen im „Fische-imTeich-Schießen“
zu verwenden, während des von ihm so genannten „Verteidigungskriegs“. Sobald der
Rasen gemäht ist und die verzweifelte Bevölkerung sich irgendwie von der
Verwüstung und den Morden zu erholen versucht, gibt es einen Waffen-stillstand.
Solche Waffenstillstände wurden, wie Israel selber zugibt, von der Hamas
regelmäßig eingehalten, bis Israel sie mit erneuter Gewalt verletzte.
Der jüngste
Waffenstillstand
wurde nach Israels Angriff im
November 2012
geschlossen. Obwohl die Besatzungsmacht ihre verheerende Belagerung aufrecht
erhielt, hielt sich Hamas an die vereinbarte Waffenruhe, wie israelische
Offizielle zugeben. Die Situation änderte sich im Juni, als Fatah und Hamas ein
Einheitsabkommen beschlossen, das zur Bildung einer neuen Regierung von
Technokraten ohne [personelle] Beteiligung von Hamas führte und sämtlichen
Forderungen des Nahost-Quartetts nachkam.
[1]
Israel war natürlich erbost, um
so mehr, als sogar die USA ihre Zustimmung signalisierten. Das Einheitsabkommen
unterlief nicht nur Israels Behauptung, es könne nicht mit einem gespaltenen
Palästina verhandeln, sondern stellte auch Israels langfristiges Ziel in Frage,
Gaza vom Westjordanland zu trennen und seine destruktive Politik in beiden
Regionen fortzusetzen.
Israels
achtzehntägiger Amoklauf im
Westjordanland
Irgendwas musste geschehen, und eine Gelegenheit dazu bot sich kurz darauf,
als die drei israelischen „Jungen“ im Westjordanland umgebracht wurden. Die
Netanyahu-Regierung wusste zwar sofort, dass sie tot waren, gab dies aber nicht
zu, was Anlaß für einen Amoklauf lieferte, der auf Hamas abzielte. Netanyahu
behauptete, über sicheres Wissen zu verfügen, dass Hamas verantwortlich sei.
Auch dies war eine Lüge, die schon frühzeitig als solche erkannt wurde. Es gab
nicht einmal die Vortäuschung eines Beweises. Einer von Israels führenden
Hamas-Experten, Shlomi Eldar, berichtete fast sofort, dass die Mörder vermutlich
einem dissidenten Clan in Hebron entstammen, der lange schon ein Stachel im
Fleisch der Hamas ist. Eldar fügte hinzu: „Ich bin mir sicher, dass sie kein
grünes Licht von der Führung der Hamas bekommen haben. Sie dachten halt, dass
die Zeit zu handeln gekommen sei.“ Die israelische Polizei sucht seither nach
zwei Mitgliedern des Clans, und behauptet immer noch - ohne Beweis -, es seien
„Hamas-Terroristen“.
Mit dem
18-tägigen Amoklauf gelang es indes, die gefürchtete Einheitsregierung zu
unter-minieren und die israelische Repression zu verschärfen. Nach Angaben des
israelischen Militärs nahmen israelische Soldaten 419 Palästinenser fest,
darunter 335 Hamas-Angehörige, und töteten sechs Palästinenser. Darüber hinaus
durchsuchten sie Tausende Objekte und konfiszierten Bargeld und Eigentum im
Werte von 3 Millionen Dollar [2].
In Gaza wurden Dutzende Angriffe durchgeführt, wobei allein am 7. Juli 5
Hamas-Mitglieder ermordet wurden.
Der Angriff
auf den Gaza-Streifen: Operation “Protective Edge”
Schließlich reagierte Hamas mit den ersten
Raketen seit 19 Monaten - so offizielle israelische Stellen -, die Israel den
Vorwand lieferten für Operation Protective Edge [etwa „Schützende Front“] am 8.
Juli.
Es gab Berichte
im Überfluß von den Heldentaten der selbsternannten „moralischsten Armee der
Welt“, die - so der israelische Botschafter in den USA - den Friedensnobelpreis
verdient hätte. Bis Ende Juli waren etwa 1500 Palästinenser umgebracht worden,
was die Opferzahl der „Geschmolzenes Blei“-Verbrechen [2008/9] überstieg. 70 %
davon waren Zivilisten, darunter Hunder-te Frauen und Kinder. Und 3 Zivilisten
in Israel. Weite Bereiche des Gazastreifens liegen in Trümmern. Während kurzer
Bombardierungspausen suchen Angehörige verzweifelt zerfetzte Leichen oder
Haushaltsgegenstände in den Ruinen ihrer Häuser. Das Hauptkraftwerk wurde
angegriffen – nicht zum ersten Mal, das ist eine israelische Spezialität -, was
die ohnehin eingeschränkte Stromzufuhr radikal drosselte und, schlimmer noch,
die minimale Verfügbarkeit von Trinkwasser noch einmal verringerte. Ein weiteres
Kriegsverbrechen. Währenddessen wurden Rettungsmannschaften und Kranken-wagen
wiederholt angegriffen. Obwohl die Gräueltaten überall im Gazastreifen zunahmen,
behauptete Israel, sein Ziel sei die Zerstörung der Tunnel an der Grenze.
Vier
Krankenhäuser wurden angegriffen, jeweils ein weiteres Kriegsverbrechen. Das
erste war das Al-Wafa-Rehabilitationszentrum in Gaza-Stadt, das am Tag, als die
Bodentruppen in das Gefängnis Gaza eindrangen, attackiert wurde. Ein paar Zeilen
in der New York Times, in einer Reportage über den Beginn der Bodenoffensive,
berichteten, „dass die meisten, aber nicht alle 17 Patienten und Ärzte und
Pflegekräfte evakuiert wurden, bevor der Strom ausfiel und schwere
Bombardierungen das Gebäude weitgehend zerstörten. Ärzte erzählten: „Wir haben
sie unter Beschuß evakuiert.“ Und Dr. Ali Abu Ryala, ein Krankenhaussprecher:
„Krankenschwestern und Ärzte mussten die Patienten auf ihrem Rücken
hinaustragen, einige fielen die Treppen hinunter. Es herrschte eine beispiellose
Panik im Krankenhaus.“
Dann wurden drei
Krankenhäuser, die noch in Betrieb waren, angegriffen, Patienten und Personal
waren bei der Flucht sich selbst überlassen. Ein israelisches Verbrechen
wurde allgemein verurteilt: der Angriff auf eine UNO-Schule, die 3300
verängstigte Flüchtlinge aufgenommen hatte, die auf Befehl der israelischen
Armee den Ruinen ihrer Wohnviertel entflohen waren. Der empörte
UNWRA-General-Kommissar Pierre Kraehenbuehl meinte: „Ich verurteile diese
schwere Verletzung des Völkerrechts durch israelische Streitkräfte auf das
Schärfste....Die Welt steht heute beschämt da.“ Es gab mindestens drei Angriffe
auf den UN-Schutzraum, der den Israelis wohlbekannt war. „Die präzise
Lokalisierung der Jabalia- Grundschule für Mädchen und die Tatsache, dass
Tausende Flüchtlinge dort Unterschlupf gefunden hatten, waren der israelischen
Armee 17 mal übermittelt worden, um ihren Schutz sicherzustellen “, sagte
Kraehenbuehl, „das letzte Mal um 10 vor 9 gestern Nacht, nur wenige Stunden vor
dem tödlichen Beschuß.“
Der Angriff
wurde auch „in den schärfstmöglichen Worten“ vom üblicherweise eher
zurück-haltenden UNO-Generalsekretär, Ban Ki-moon, verurteilt:
„Nichts ist schändlicher, als schlafende Kinder anzugreifen.“ Es gibt keinen
Hinweis darauf, dass die US-Botschafterin bei der UNO diesmal „aus der Fassung
geriet, als sie von den Kindern sprach, die [bei dem israelischen Angriff]
umkamen“ – oder überhaupt beim Angriff auf den Gazastreifen.
Aber die
Sprecherin des Weißen Hauses reagierte tatsächlich: „Wir sind extrem besorgt,
dass Tausende von Flüchtlingen, die vom israelischen Militär aufgerufen worden
waren, ihre Häuser zu verlassen, in den von der UNO ausgewiesenen Schutzräumen
nicht sicher sind. Wir verurteilen auch jene, die dafür verantwortlich sind,
dass Waffen in UN-Anlagen versteckt wurden“, fügte sie hinzu, wobei sie zu
erwähnen vergaß, dass diese Anlagen leer waren und die Waffen vom UNWRA-Personal
gefunden wurden, die diejenigen verurteilten, die sie dort versteckt hatten.
Später stimmte
die [amerikanische] Regierung ein in schärfere Verurteilungen dieses besonderen
Verbrechens – während sie gleichzeitig weitere Waffenlieferungen an Israel
freigab. Dabei meinte Pentagon-Sprecher Steve Warren jedoch gegenüber Reportern:
„Es ist klar, dass die Israelis mehr tun müssen, um ihren hohen Maßstäben zum
Schutz von Zivilisten gerecht zu werden – den hohen Maßstäben, die sie während
vieler Jahre beim Einsatz von amerikanischen Waffen immer an den Tag gelegt
haben, so wie auch heute wieder.“
Angriffe auf
UN-Einrichtungen, die Flüchtlinge beherbergen, ist eine weitere israelische
Spezialität. Ein berüchtigter Fall ist die israelische Bombardierung des
eindeutig identifi-zierten UN-Flüchtlingslagers in Qana [1996] während der
mörderischen „Grapes-of-Wrath“ [Früchte des Zorns]-Kampagne der Simon
Peres-Regierung, bei der 118 libanesische Zivi-listen getötet wurden, die dort
Zuflucht gesucht hatten, unter ihnen 52 Kinder. Selbstver-ständlich ist Israel
nicht allein mit dieser Praxis. Zwanzig Jahr zuvor hatte sein südafrika-nischer
Alliierter einen Luftschlag tief nach Angola hinein auf Cassinga verübt, ein
Flücht-lingslager, das von der namibischen Widerstandsbewegung SWAPO betrieben
wurde.
Israelische
Regierungsvertreter rühmen die Humanität ihrer Armee, die so weit gehe, dass
Bewohner vorher informiert werden, wenn ihr Haus zerbombt wird. Diese Praxis sei
„schein-heilig als Barmherzigkeit verkleideter Sadismus“, so die israelische
Journalistin Amira Hass. „Eine aufgezeichnete Botschaft, die
Hunderttausende Menschen auffordert, ihre bereits ins Fadenkreuz geratenen
Häuser zu verlassen für einen anderen, 10 Kilometer entfernten, gleichermaßen
gefährlichen Ort.“ Tatsächlich gibt es [in Gaza] keinen vor Israels Sadismus
geschützten Ort.
Für manche
Menschen ist es schwierig, aus Israels Fürsorglichkeit Nutzen zu ziehen. Ein
Appell an die Welt von der Katholischen Kirche Gazas zitiert einen Priester, der
die verzweifelte Lage der im „Haus Christi“ lebenden Insassen schildert, einem
Pflegeheim für behinderte Kinder. Weil die Gegend zum Zielobjekt der
israelischen Armee wurde, quartierte man sie um in die „Kirche der Heiligen
Familie“. Aber jetzt, schreibt er, habe „die Kirche Gazas einen
Evakuierungsbefehl bekommen. Sie werden die Zeitun-Gegend bombardieren, und die
Menschen fliehen bereits. Das Problem ist, dass Bruder George und die drei
Nonnen des Mutter-Teresa-Ordens 29 behinderte Kinder und neun alte Damen, die
sich nicht bewegen können, in ihrer Obhut haben. Wie sollen sie es schaffen zu
fliehen? Wenn irgendjemand einen Menschen mit Einfluß kennt, soll er bitte etwas
unternehmen.“
Das sollte in
der Tat nicht so schwer sein. Israel hat dem Wafa-Rehabilitationszentrum die
entsprechende Anweisung schon zukommen lassen, und glücklicherweise
intervenieren zumindest einige Staaten bereits, so gut sie können. Fünf
lateinamerikanische Länder – Brasilien, Chile, Ecuador, El Salvador und Peru –
haben ihre Botschafter aus Israel zurück-gerufen. Sie folgten dem Kurs Boliviens
und Venezuelas, die als Reaktion auf vorhergehende Verbrechen Israels die
Beziehungen zu ihm abgebrochen haben. Dieses prinzipientreue Verhalten ist ein
weiteres Zeichen des bemerkenswerten Wandels in den internationalen Beziehungen,
da ein Großteil der Länder Lateinamerikas sich von der westlichen Vorherrschaft
zu befreien beginnt und dabei denen gegenüber zuweilen ein Vorbild zivilisierten
Verhaltens abgibt, die sie 500 Jahre lang unter Kontrolle hielten.
Die erwähnten
hässlichen Enthüllungen riefen allerdings beim „moralischsten Präsidenten der
Welt“ eine andere Reaktion hervor, die übliche: große Sympathie für die
Israelis, scharfe Verurteilung der Hamas und Aufrufe zur Mäßigung an beide
Seiten. In seiner Pressekonfe-renz vom 1. August brachte er tatsächlich seine
Sorge um die Palästinenser zum Ausdruck, „die ins Kreuzfeuer geraten sind“ (wo
bitte?), während er wiederum das Recht Israels vehe-ment unterstützte, sich zu
verteidigen – so wie jeder andere Staat auch. Allerdings nicht jeder – die
Palästinenser natürlich nicht. Sie haben kein Recht, sich zu verteidigen.
Allemal nicht, wenn Israel sich gut benimmt und sich an den Grundsatz „Ruhe für
Ruhe“ hält und ihnen ihr Land raubt, sie aus ihren Häusern vertreibt, einer
barbarischen Belagerung unterwirft und sie regelmäßig mit den vom Schutzherrn
gelieferten Waffen angreift.
Die
Palästinenser sind, so wie die Schwarzafrikaner, die namibischen Flüchtlinge im
Cassinga-Lager zum Beispiel, alles Terroristen, für die das
Selbstverteidigungsrecht nicht gilt.
Ein 72-stündiger
Waffenstillstand sollte am 1. August in Kraft treten. Kaum hatte er be-gonnen,
brach er schon zusammen. Während ich dies schreibe, wenige Stunden später, gibt
es widersprüchliche Berichte, und einiges bleibt unklar. Nach einer
Pressemitteilung des Al Mezan-Zentrums für Menschenrechte in Gaza, das
für seine Zuverlässigkeit bekannt ist, hörte einer seiner Mitarbeiter in Rafah,
an der ägyptischen Grenze, um 8.05 Uhr israelisches Artilleriefeuer. Nach
Berichten, dass ein israelischer Soldat in Gefangenschaft geraten sei, begann
gegen 9.30 Uhr ein schweres Luft- und Artilleriebombardement Rafahs mit
wahrscheinlich Dutzenden von Toten und Hunderten Verletzten, die nach Hause
zurückgekehrt waren, nachdem der Waffenstillstand in Kraft getreten war; bisher
liegen allerdings keine bestätigten Zahlen vor.
Am Tag zuvor, am
31. Juli, hatte das Coastal Water Utility, das einzige Wasserwerk im
Gazastreifen, verkündet, dass es wegen Treibstoffmangels und häufiger Angriffe
auf sein Personal kein Wasser oder sanitäre Dienste mehr zur Verfügung stellen
könne.
Al Mezan
berichtet, dass „fast sämtliche Gesundheitsdienste eingestellt wurden wegen
Mangels an Wasser, an Müllbeseitigung und Umweltschutzmaßnahmen. Auch die UNWRA
hat vor der Gefahr unmittelbar bevorstehender Verbreitung von Krankheiten
aufgrund des Wassermangels und des Zusammenbruchs des Abwassersystems gewarnt“.
In der Zwischen-zeit töteten und verwundeten israelische Flugzeug-Raketen am
Vorabend des Waffenstill-stands überall im Gazastreifen immer mehr Menschen.
Und wie
weiter?
Israel hofft, wenn die gegenwärtige Phase des Sadismus schließlich beendet
ist - wann auch immer das sein wird -, seine kriminelle Politik in den besetzten
Gebieten ohne Beeinträchtigung fortsetzen zu können, und dies mit amerikanischer
Unterstützung, derer es sich in der Vergangenheit stets erfreute: in
militärischer, ökonomischer, diplomatischer und auch in ideologischer Hinsicht,
weil sich amerikanische und israelische Interpretation der Kernfragen decken.
Die Menschen im Gazastreifen werden in ihrem von Israel betriebenen Gefängnis
zur „Normalität“ zurückkehren dürfen, während sie im „friedlichen“
Westjordanland zuschauen können, wie Israel langsam zerstört, was von ihrem
Besitz noch übrig geblieben ist.
Das ist das
wahrscheinliche Ergebnis, falls die USA ihre entscheidende und wahrlich
ein-seitige Unterstützung für Israels Verbrechen sowie ihre Zurückweisung des
seit langem bestehenden internationalen Konsenses für eine diplomatische
Regelung des Konflikts aufrechterhalten.
Ganz anders
allerdings wird die Zukunft aussehen, wenn die USA diese Unterstützung
zurückziehen. In diesem Fall wäre es tatsächlich möglich, zu einer „nachhaltigen
Lösung“ für Gaza zu kommen, zu der Außenminister Kerry aufrief, was auf
hysterische Ablehnung in Israel stieß, denn diese Formulierung könnte als Aufruf
zur Beendigung der israelischen Belagerung Gazas und der regelmäßigen Angriffe
interpretiert werden. Und sie könnte – was für eine Horrorvorstellung! –
verstanden werden als Aufruf zur Respektierung des Völkerrechts in den besetzten
Gebieten.
Nun ist es
keineswegs so, dass Israels Sicherheit durch Beachtung des Völkerrechts bedroht
würde. Sie würde höchstwahrscheinlich sogar erhöht. Aber wie vor 40 Jahren der
israelische General Ezer Weizman, der spätere Präsident, erklärte,
könnte Israel dann nicht mehr „mit den hohen Werten, dem Geist und der Qualität,
für die es jetzt steht, weiterexistieren“.
Es gab ähnliche
Fälle in der jüngeren Geschichte. Indonesische Generäle schworen, dass sie
niemals aufgeben würden, was der australische Außenminister Gareth Evans „die
indonesische Provinz Ost-Timor“ nannte, während er ein Geschäft zum
Diebstahl timoresischen Öls abschloß. Und solange die indonesischen Generäle auf
die jahrzehntelange amerikanische Unterstützung zählen konnten, war ihr Ziel
durchaus realistisch. Schließlich aber bedeutete Präsident Clinton ihnen, unter
beträchtlichem innenpolitischen und internationalem Druck, sang- und klanglos,
dass das Spiel vorbei sei, und sie zogen sich umgehend zurück – während Evans
sich seiner neuen Karriere als lautstarker Apostel der „Schutzverantwortung“ [„Responsibility
to protect“] zuwandte, die selbstverständlich so konzipiert wurde, dass sie den
westlichen Rückgriff auf Gewalt nach Belieben erlaubt.
Ein weiterer
relevanter Fall in diesem Zusammenhang ist Südafrika. 1958 teilte der
südafrikanische Außenminister den USA mit, solange die amerikanische
Unterstützung andauere, habe es nichts weiter zu bedeuten, daß sein Land zu
einem Paria-Staat geworden sei. Seine Einschätzung erwies sich als ziemlich
zutreffend. 30 Jahre später war Ronald Reagan der letzte bedeutende
Realitätsverweigerer, der das Apartheid-Regime unterstützte, das immer noch
durchhielt. Innerhalb weniger Jahre schloß sich Washington dann allerdings der
übrigen Welt an, und das Regime brach zusammen – natürlich nicht aus diesem
Grund allein. Ein entscheidender Faktor war die bemerkenswerte Rolle, die Kuba
bei der Befreiung Afrikas spielte, was im Westen allgemein ignoriert wird, nicht
allerdings in Afrika.
Vor 40 Jahren
fällte Israel die verhängnisvolle Entscheidung, die Expansion der Sicherheit
vorzuziehen, indem es den umfassenden Friedensvertrag zurückwies, den Ägyptens
Präsident Sadat für den Rückzug vom Sinai angeboten hatte, wo Israel
intensive Siedlungs- und Entwicklungsprojekte begonnen hatte. Es hält bis heute
an dieser Politik fest, auf der Basis derselben Einschätzung wie Südafrika 1958.
Im Falle Israels
wären die Auswirkungen, wenn die USA sich dem Rest der Welt anschlössen,
bedeutend größer. Im Zweifel setzt sich das tatsächliche Machtverhältnis durch,
was sich immer wieder zeigte, wenn Washington von Israel verlangte, langgehegte
Zielvorstellungen aufzugeben. Darüber hinaus kann Israel gegenwärtig auf wenig
zurückgreifen, nachdem es sich einer Politik verschrieben hat, die es von einem
höchst bewunderten zu einem gefürchteten und verachteten Land gemacht hat, ein
Kurs, den es heute mit blinder Zielstrebigkeit verfolgt, auf dem entschlossenen
Marsch zu moralischem Verfall und letztendlich möglichem Untergang.
Könnte die
Politik der USA sich
ändern?
Unmöglich ist das nicht. Die öffentliche Meinung hat
sich in den letzten Jahren erheblich gewandelt, besonders unter den jungen
Menschen, und das kann nicht völlig ignoriert werden. Seit einigen Jahren gibt
es eine solide Basis für die öffentliche Forderung, dass Washington seine
eigenen Gesetze einhalten und die Militärhilfe für Israel aussetzen solle. Das
US-Gesetz verlangt, dass „keinem Land Sicherheitsbeistand geleist wird, dessen
Regierung einem durchgängigen Muster grober Verletzungen international
anerkannter Menschenrechte folgt“. Israel macht sich dieser Verletzungen
zweifelsfrei und seit langen Jahren schuldig. Deshalb hat Amnesty International
während Israels mörderischer Operation „Geschmolzenes Blei“ [„Cast Lead“] in
Gaza zu einem Waffenembargo gegen Israel (und Hamas) aufgerufen. Senator Patrick
Leahy, Autor dieser gesetzlichen Bestimmung, hat ihre mögliche Anwendbarkeit auf
Israel in bestimmten Fällen thematisiert, und mit gut geführten, organisierten
und aktivistischen aufklärerischen Anstrengungen ließen sich solche Initiativen
erfolgreich realisieren. Dies könnte eine sehr bedeutsame Wirkung in sich selbst
haben und gleichzeitig ein Sprungbrett für weitere Aktionen nicht nur zur
Bestrafung Israels für sein verbrecherisches Verhalten sein, sondern auch
Washington nötigen, selbst Teil „der internationalen Gemeinschaft“ zu werden und
das Völkerrecht sowie menschlichen Anstand und moralische Prinzipien zu
beachten.
Nichts könnte
den tragischen palästinensischen Opfern so vieler Jahre der Gewalt und der
Unterdrückung gerechter werden.
Anmerkung:
[1]
1. Anerkennung Israels 2. Gewaltverzicht 3. Anerkennung geschlossener Verträge
[2]
http://www.inamo.de/index.php/israel-palaestina-beitrag-lesen/items/israelisches-militaer-stiehlt-3-mio-us-dollar-und-eigentum-von-palaestinensern-in-der-westbank.html
Übersetzung:
Jürgen Jung
Redaktion: Eckhard Lenner
http://de.scribd.com/doc/235726627/Outrage-re-Gaza-by-Noam-Chomsky |