TRANSLATE
|
 |
Älterwerden
Sterne der
Jugend wohin seid ihr hinabgefallen?
Keinen
mehr von euch allen seh in Gewölk ich ziehen.
Ihr meiner
Jugend Genossen,
Ach wie
früh mit der Welt habt ihr Frieden geschlossen!
Dennoch
kämpfe ich weiter.
Steh
entgegen der Welt!
Kann ich
nicht siegen als Held, will ich doch fallen als Streiter.
(Hermann Hesse)
|
|
Reuven Moskovitz- Jahresbrief 2007
Ich schreibe meinen
Jahresbrief zum jüdischen Neujahr, weil ich Euch mitteilen
möchte, dass es unsere Adresse Lloyd-George-Straße nicht
mehr gibt. Wir mussten die Wohnung verkaufen. Es war für uns
kein leichter Abschied, mehr als ein Drittel unseres Lebens
haben wir dort gelebt. Hunderte von Freunden, Bekannten und
Mitstreitern haben uns dort besucht und uns dorthin
geschrieben. Beim Ausräumen habe ich viele der Briefe wieder
gelesen, sehr gerührt und mit viel schlechtem Gewissen, weil
ich sehr selten antworten konnte. Ich habe große Hemmungen,
insbesondere, wenn ich Deutsch schreiben muss, denn ich habe
nie Deutsch schreiben gelernt. Nun kommen die Herbstfeste
und der Tag der Versöhnung, Jom Kipur. Vor diesem Tag ist
jeder verpflichtet, seine Freunde und Bekannten um
Verzeihung zu bitten für Ärgernisse, Versäumnisse oder
mangelnde Achtsamkeit. Die Sünden zwischen Mensch und Gott
verzeiht Gott am Jom Kipur, nicht aber die Sünden zwischen
Mensch und Mensch. Also jetzt eine gute Gelegenheit, um
Verzeihung zu bitten bei den vielen, vielen Menschen, die
uns freundliche und dankbare Briefe geschrieben haben.
Unsere neue Adresse ist:
Zeev-Vilnai-Str.4, Hotel
Migdalei Kedem Zimmer 721 Postfach 3686 Jerusalem.
Nun jährt sich der
Beschluss der Vereinten Nationen, Palästina zwischen
Juden und Palästinensern zu teilen, zum 60.Mal. Wenige in
Israel und in der Welt wissen, dass die damals vereinbarte
Teilung 54 % des Landes für die Juden bedeutete und 44 % für
die Palästinenser. Jerusalem, eine für drei Religionen
bestimmte heilige Stadt, sollte von der UNO verwaltet
werden. Da die Palästinenser die Teilung
unglücklicherweise
nicht akzeptierten, folgte der sogenannte
Unabhängigkeitskrieg Israels, der erst 1949 endete. Durch -
u.a.- seine bessere kriegerische Ausstattung gelang es
Israel, eine ethnische Säuberung durchzuführen, die schon
vor der Staatsgründung begann. So konnte es fast die Hälfte
des den Palästinensern zugeteilten Gebietes annektieren. Die
übrigen 22 % wurden nicht den Palästinensern zugeschlagen,
sondern blieben unter der Herrschaft von Jordanien und
Ägypten.
In den folgenden Jahren
unternahm Israel jede Anstrengung, mehr Land zu nehmen und
die Grenzen auszuweiten, angeblich, um sie besser
verteidigen zu können.
Heute bleiben durch die
dichte Besiedlung durch Juden und durch den Mauerbau auf
palästinensischem Land nur noch etwa 11-12 % des eigentlich
palästinensischen Landes für die Palästinenser übrig. Auf
diese 11-12% verzichten zu müssen, nennt Israel, und das ist
auch eine in Deutschland wiederholte Behauptung, einen ‚schmerzhaften
Kompromiss‘.
Für die Palästinenser aber
bedeutet es - kompromisslos! - eingesperrt zu sein hinter
Zäunen und Mauern, in drei getrennten Zonen leben zu müssen,
in denen sie weiterhin der israelischen Machtwillkür
ausgesetzt sind: inner-palästinensischen Checkpoints,
Hinrichtungen, Festnahmen, Enteignungen, nächtliche
Durchsuchungen, etc, etc.
Trotz
des wagemutigen Besuchs
Sadats in Jerusalem in den 70-er
Jahren, der zum Frieden zwischen Israel und Ägypten
führte, und trotz des gelungenen
Friedens mit Jordanien in den 90-er
Jahren, wurden aber die hoffnungsvollen Abkommen von Oslo
systematisch durch Israel mit ihrer Siedlungspolitik
unterlaufen; das gilt auch, wenn die Palästinenser ihre
Verpflichtungen nicht immer gehalten haben.
Noch sieht es so aus, als ob
auch einem weiteren wichtigen Friedensplan dieses Schicksal
beschieden ist: Das Angebot der 22 arabischen Länder und
der Hamas in diesem Jahr wird von Israel, dem „Quartett"
und der westeuropäischen Welt einfach ignoriert!
Dieses Angebot beinhaltet:
Frieden mit Israel aufgrund gegenseitiger Anerkennung in den
Grenzen von 1967, diplomatische, kulturelle und
wirtschaftliche Beziehungen und die Lösung der
palästinensischen Flüchtlingstragödie, ohne die Stabilität
und die Sicherheit Israels zu gefährden.
Israel müsste im Gegenzug
einen gefährlichen und schmerzhaften Schritt tun:
Alle Siedlungen in der
Westbank aufzulösen oder eine Alternative
zu
finden, wie den Siedlern die Wahl lassen, als
gleichberechtigte palästinensische Bürger dort zu leben und
gleichzeitig die Palästinenser mit der ihnen weggenommen
Fläche Land kompensieren.
Jetzt rufe ich als
überlebender Jude und Israeli und Träger des Internationalen
Aachener Friedenspreises Euch Deutsche zu einem Gedenken
auf:
29. November 2007: 60.
Jahrestag des Teilungsbeschlusses der Vereinten Nationen
Gedenkt und macht
aufmerksam, dass von all dem, was damals beschlossen wurde,
für die Palästinenser nichts umgesetzt wurde
und ruft die Bundesregierung auf,
das Angebot der 22 arabischen Länder zum Frieden mit
Israel ernst zu nehmen, zu prüfen und schnellstens mit der
Umsetzung zu beginnen.
Der Versuch,
das "Quartett"
einzusetzen, führt
nur noch weiter in die Sackgasse.
Europa ist an diesem
Konflikt mitverantwortlich – umso
mehr ist es Deutschland, wegen seiner schrecklichen
NS-Vergangenheit.
Deutschland stände es wohl
an, die Aufgabe des Friedens- und Versöhnungsbotschafters zu
übernehmen und den Friedensprozess in Israel/Palästina
voranzutreiben.
Was
mich anbelangt,
bin ich fest entschlossen, trotz meines fortgeschrittenen
Alters, dieses Datum nicht ohne Aufschrei oder ein Erinnern
über die Gefahr eines weiteren Schweigens, vorbeigehen zu
lassen und an Mahnwachen oder
anderen Aktionen mitzuwirken. Gemeinsam müssen wir
die Medien bewegen, über
diese Aktionen und über das arabische Angebot zu berichten!
Auch in diesem Jahr habe ich
sehr befriedigende und erfüllende Aufenthalte in Deutschland
erlebt, wieder stärkte mich die Freundlichkeit, die
Solidarität und die Bereitschaft zuzuhören meiner Freunde im
ganzen Land und gab mir die Kraft, gesundheitlich und
seelisch durchzuhalten - auch in diesen widrigen Zeiten.
Zwei Sorgen bewegen mich
jedoch:
- Das Schreiben meines
zweiten Buches hat sich verzögert. Der wesentliche Inhalt
des Buches sollte die Vergangenheit sein, die ich
nicht nur zornig, sondern auch mit Nachsicht betrachten
wollte. Die maßlose Reaktion auf den 11.September, die den
Krieg wieder legitimierte als Fortsetzung der Politik, und
auf diesen wilden Tiger die israelische und z.T. die
westliche Politik aufgesprungen ist, um weiter ihr
Gewaltkonzept zu rechtfertigen, hat mich in meinem Schreiben
gehemmt, aber auch auf eine neue Fährte gebracht. Ich werde
jetzt schreiben über die zornige Sorge um die Gefahren der
Gegenwart und Zukunft.
- Das Projekt „Friedensräume
und Friedenswege in Neve Shalom/Wahat al Salam" geht nur
langsam voran. Gerührt und ermutigt bin ich jedoch von der
Reaktion auf dieses Projekt. Noch vor Jahresende werden
Schilder aufgestellt, die NS/WaS und Umgebung in einem
Zeitabriß darstellen, um so
auf die Ergebnisse von Krieg und Hass aufmerksam zu machen.
Meine Grundidee des
Projektes ist der Ausstieg aus dem unsinnigen
nationalistischen Erinnerungskult hin zu einer universellen
Solidarität sowohl mit allen Leidenden als auch mit „
Mutmachenden" und Widerständlern, unter Betonung der Juden,
Palästinenser und Deutschen.
Selbstverständlich ist diese
Idee nicht zu verwirklichen mit einer kleinen Schar von
Freunden und Unterstützern - ich bitte deshalb alle meine
Freunde, die diesen Traum ernst nehmen, zu überlegen, wie
man die deutsche Bundesrepublik bewegen kann, nicht
hauptsächlich militärische Projekte Israels, sondern diese
Art Friedensarbeit mit viel bescheideneren Ansprüchen zu
fördern.
In der Hoffnung, dass
Deutschland und die neue, ausgeweitete Europäische Union, zu
der jetzt auch mein Geburtsland Rumänien gehört, fest halten
werden an dem einmaligen
60
jährigen Frieden,
grüße ich Euch alle herzlich.
Euer Reuven
(verfasst während der jüdischen
Feiertage, September 2007)
|