Abbas und die lahme Ente
Uri Avnery, 29.10.05
Nur
20 Minuten Fahrzeit liegen zwischen dem Büro des Ministerpräsidenten
in Jerusalem und dem des palästinensischen Präsidenten in Ramallah.
Praktisch scheint die Mukatah in Ramallah aber wie auf dem Mond zu
liegen.
Vorgestern erklärte Ariel Sharon zum ich-weiß-nicht-wievielten Male,
dass er das geplante Treffen mit Mahmoud Abbas abgesagt habe. Der
Grund: Abbas „tue nicht genug gegen den Terrorismus!“. Das ist ein
Routinevorwand – aber es scheint, dass der Akt selbst nicht mehr nur
Routine ist.
Die
lange Kampagne der Eliminierung Mahmoud Abbas’ tritt in ihre letzte
Phase ein.
Sehr zum Bedauern von Sharon & Co kann Abbas nicht auf die übliche
Weise „eliminiert“ werden, wie man es mit Sheikh Ahmed Yassin und
vielen anderen palästinensischen Führern getan hat. Im Fall von
Abbas, darf man nicht einmal das Wort „Eliminierung“ verwenden – ein
offizieller Terminus der israelischen Armee, der direkt aus dem
Mafia-Lexikon stammt.
Abbas’ Aufstieg nach Yasser Arafats Eliminierung - die ja immer
noch vom Geheimnis umwittert ist – ließ in Sharons Büro die
Warnlichter aufleuchten; denn seine Pläne basieren alle auf dem
Slogan: „Es gibt niemanden, mit dem man reden kann“. Abbas
andrerseits wird von der Welt – ja, sogar von einem bedeutenden Teil
der israelischen Öffentlichkeit - wie ein palästinensischer Führer
angesehen, mit dem man außerordentlich gut ins Gespräch kommen
kann. Und was noch schlimmer ist, er wird sogar von Präsident Bush
so wahrgenommen .
Da
ist vorsichtiges Vorgehen angesagt. Mit sorgfältig versteckter Wut
schüttelte Sharon in Aqaba in Gegenwart von Bush Abbas Hand. Er sah
mit wachsender Sorge, wie der palästinensische Führer im Weißen Haus
empfangen wurde und wie Bush die demokratischen Wahlen der
Palästinenser pries. Eine wachsende Gefahr wurde sichtbar: die
Amerikaner könnten einen alten Alptraum israelischer Regierungen
realisieren: einen „auferlegten Frieden“, der Israel zwingen würde,
mehr oder weniger zu den Grenzen von vor 1967 zurückzukehren.
Deshalb wählte Sharon eine vorsichtige Taktik: Zeit gewinnen, auf
die Veränderung der Umstände warten und in der Zwischenzeit sich
mit Nadelstichen in Abbas Bild zufrieden geben. Es war unmöglich,
eine Kampagne der Dämonisierung gegen ihn anzufangen, wie es gegen
Arafat geschehen war, an der sich die israelischen und jüdischen
Medien in aller Welt voll beteiligten. Aber in allen Medien wurde
täglich eine Botschaft eingegeben: Abbas ist ein Putzlappen, Abbas
ist nichts wert, Abbas ist nicht in der Lage, die
„Terrorinfrastruktur“ zu zerstören, es ist einfach sinnlos, mit ihm
zu reden.
In
dieser Woche wurde die Methode verschärft. Kein Mitleid mehr mit dem
armen Abbas, der sein Bestes versucht, was ihm aber misslingt. Nun
ein direkter Angriff gegen ihn: Abbas wolle dem Terror gar nicht
wirklich ein Ende bereiten, sagt man. Die Nachrichtenseiten aller
Zeitungen von Maariv bis Haaretz wurden für diese Kampagne
mobilisiert. Das Radio und das Fernsehen schlossen sich dem
begeistert an.
Gleichzeitig brach die gewalttätige Konfrontation mit voller Kraft
wieder aus.
Wer
begann damit? Das hängt vom Standpunkt des Befragten ab. Wie immer
behauptet jeder, die neue Runde habe mit Gräueltaten der anderen
Seite begonnen. Wenn man will, kann man 120 Jahre zurückgehen: zum
ersten Stein, den ein Palästinenser auf den ersten jüdischen
Siedler geworfen habe – oder zum ersten Schlag, den der erste
jüdische Siedler dem Kopf eines palästinensischen Hirten versetzte,
weil seine Ziegen in seinem Feld grasten.
Tatsächlich hat die Konfrontation keinen Augenblick aufgehört. Die
Palästinenser hatten vor kurzem wohl eine Tahidiya ( „Ruhe“)
ausgerufen, doch war dies nur ein Abkommen unter sich. Die
israelische Armee hatte keinen Teil daran und machte mit Volldampf
weiter, in palästinensische Städte und Dörfer einzufallen,
„gesuchte“ Militante zu verhaften und hier und da einige von ihnen
zu töten.
Die
neue Runde begann mit dem Töten von Luay Saadi, einem Mitglied des
islamischen Jihad im Raum Tulkarem, der schon fünf von seinen 25
Jahren im israelischen Gefängnis verbracht hatte. Die Armee
beschrieb ihn als ranghohen Kommandeur, als große „tickende Bombe“.
Der Jihad nahm diese lächerliche Behauptung mit Eifer auf, weil dies
einen größeren Racheakt rechtfertigte. In Wirklichkeit war er nur
einer von vielen lokalen Aktivisten.
Als
Sharon – zwischen Frühstück und Mittagessen – seine Zustimmung zu
der Exekution gab, wusste er, dass er damit auch einige Israelis zum
Tode verurteilte; denn es war sicher, dass der Jihad mit einem
Racheakt reagieren würde. Da gibt es kein Entrinnen vor der
Schlussfolgerung, dass dies tatsächlich der Zweck der Aktion war.
Es
wurde dann auch mit großer Eile bestätigt. Einer der Jihadisten aus
einem nahen palästinensischen Dorf beging auf dem Markt von Hadera
einen Selbstmordanschlag, bei dem fünf Israelis umkamen ( in der
Terminologie der israelischen Medien heißt es – nach einer Order von
oben – Israelis werden immer „ermordet“, während Araber „zu Tode
kamen oder höchstens „getötet“ wurden.). Zwischen dem Dorf des
Selbstmordattentäters und Hadera liegt die hohe Trennungsmauer;
aber es scheint, dass diese ihn nicht gehindert hat. Vor seinem Tod
wurde er noch mit einem Video aufgenommen. Er erklärte, dass er
Rache am Mord von Saadi nehmen wolle – was die Behauptung der Armee,
das Attentat sei schon vor dem Töten vorbereitet worden und habee
nichts damit zu tun, widerlegt.
Als
ob die Armee nur auf diese Gräueltat gewartet habee, trat sie sofort
in eine wohl geplante Aktion. Eine erwürgende Allgemeinblockade
wurde über die nördliche Westbank verhängt. Städte und Dörfer in der
ganzen West Bank wurden wieder abgeschnitten, zuweilen nur Stunden,
nachdem Kontrollpunkte rund um sie auf Condololeeza Rice’s
Nachdruck gerade beseitigt worden waren. Eine allgemeine
Menschenjagd gegen die Jihad-Aktivisten begann – mit einem
deutlichen Wink, dass die Hamas- und Fatah-Aktivisten auch bald
dran kämen.
Im
Gazastreifen begann eine parallele Gewaltrunde. Aus Solidarität mit
den Kameraden in der West Bank wurden ein paar Kassam-Raketen zu
israelischen Örtlichkeiten abgeschossen, ohne jemanden zu treffen.
Die Antwort war im voraus vorbereitet worden: die Armee schnitt den
Gazastreifen von der Außenwelt völlig ab, alle Passagen wurden
geschlossen. Der Gazastreifen wurde bombardiert und beschossen vom
Land, aus der Luft und vom Meer . Eine vom Hubschrauber
abgeschossene Rakete tötete den Jihad-Aktivisten Shadi Muhanna
zusammen mit seinem Assistenten und vier Passanten, einschließlich
eines Jungen – ein Akt, der den Generalstabschef Dan Halutz noch
ein wenig näher an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag
bringen kann. Rache ist sicher und so auch die Rache für die Rache.
Während die ganze Welt Lob über den „Abzug“ und über Sharon, den
Mann des Friedens, ausschüttete, begann er mit einer allgemeinen
Offensive, um den größten Teil der Westbank zu annektieren. In der
letzten Woche wurden überall in den besetzten Gebieten die
miserablen Lebensbedingungen noch schlimmer. Das sieht nach
kollektiver Bestrafung aus, was nach der Vierten Genfer Konvention
verboten ist. Aber in Wirklichkeit ist es etwas viel Schlimmeres: es
ist das Ziel, unter den Palästinensern Verzweiflung zu säen, sie auf
die Knie zu bringen und so zu zwingen, Sharons Diktat anzunehmen:
mit 42 % der Westbank (weniger als 11% des Palästinas von 1948) in
mehreren Enklaven zufrieden zu sein und letzten Endes sie davon zu
überzeugen, dass sie auswandern.
Sharon benimmt sich wie ein Stierkämpfer, der seinen Spieß
zwischen die Schultern des Stieres stößt, um ihn in Rage zu bringen
und so zu reizen, dass er nach allen Seiten hin ausschlägt.
Während die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von ausgedehnten
Militäraktionen abgelenkt wird, werden Siedlungen in unglaublicher
Geschwindigkeit erweitert, und neue Siedlungen sprießen wie Pilze
aus dem Boden. Der Bau der Mauer geht kräftig voran, obwohl das
Attentat in Hadera gezeigt hat, dass ihr Sicherheitswert zweifelhaft
ist. Das von der Road Map verlangte Auflösen von hundert
„Außenposten“, die nach 2001 entstanden waren, steht nicht auf der
Tagesordnung. Alles was die Armee tat, war das Entfernen von fünf in
dieser Woche neu erstellten „Außenposten“ – mit viel gegenseitigem
Stoßen und Schlagen, doch ohne Tränengas, Gummigeschosse und
Lärmgranaten zu benützen, die scheinbar für israelische
Friedensaktivisten reserviert werden.
Die
Forderung des Sonderbotschafters des Quartetts, James Wolfensohn,
die absolut lebensnotwendige Passage zwischen dem Gazastreifen und
der Westbank zu öffnen, wurde mit Verachtung behandelt. Da
Wolfensohn von Bush und Condolezza Rice hoch geachtet wird, ist
dies von besonderer Bedeutung.
Sharons Leute beobachten indessen genau, was in Washington jetzt vor
sich geht. Sie wissen, dass Bush in großer Bredouille steckt und
schnell zu einer lahmen Ente wird und Condoleeza Rice, das Entchen,
hinkt hinter ihm drein.
Für
Sharon wäre das eine große Erleichterung. Schließlich kann er nun
aufhören, Abbas zu loben und damit anfangen, ihn zu beerdigen.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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