„Vergesse ich dich, UmmTuba…“
Uri Avnery, 26.7.08
IN EINEM der
schönsten Lieder in der Bibel schwört der Dichter:
„Vergesse
ich dich, Jerusalem, so verdorre meine Rechte,
Meine
Zunge soll an meinem Gaumen kleben Wenn ich deiner nicht gedenke,
Wenn
ich nicht Jerusalem meine höchste Freude sein lasse!“ (Psalm 137,5)
Aus irgend einem
Grund schrieb der Dichter nicht: „Vergesse ich dich, Umm Tuba !“
oder „Vergesse ich dich, Sur Baher!“ oder „ Vergesse ich dich,
Jabel Mukaber!“ und nicht einmal: “Vergesse ich dich, Ein Karem!“
Das ist eine
Tatsache, an die bei jeder Diskussion über Jerusalem gedacht werden
sollte: es gibt keine Ähnlichkeit zwischen dem Jerusalem der Bibel
und dem „Jerusalem“ der augenblicklichen israelischen Landkarte. Das
Sehnsuchtsziel der Vertriebenen, „die an den Wassern Babylons
weinten“, war das wirkliche Jerusalem – mehr oder weniger das
innerhalb der Mauern der Altstadt, deren Zentrum der Tempelberg ist.
Ein Quadratkilometer, mehr nicht.
Nach der
Annektierung 1967 umfasst das Stadtgebiet Jerusalems ein riesiges
Gebiet, etwa 126 qkm, von Bethlehem im Süden bis Ramallah im Norden.
Dieses ganze Gebiet erhielt den Namen „Jerusalem“, um diesem Akt
von Landraub einen religiös-national-historischen Nimbus zu
verleihen.
Die Initiatoren
dieses Stadtplans - einschließlich des verstorbenen Generals Rehavam
Ze’evi, mit dem Spitznamen „Ghandi“, des am weitesten rechts
stehenden Offiziers der israelischen Armee - hatten eine schlichte
Absicht: so viel wie möglich an Land ohne arabische Bevölkerung an
Jerusalem anzuschließen, um dort jüdische Siedlungen zu errichten.
Sie wurden vom demographischen Dämon getrieben, der uns bis heute
terrorisiert: die jüdische Bevölkerung soll vergrößert und die
arabische reduziert werden – in Jerusalem und im ganzen Land.
Um dies zu
erreichen, waren die Planer gezwungen, einige naheliegende arabische
Dörfer mit einzubeziehen. Nicht nur die arabischen Stadtteile nahe
der Altstadt, wie den Ölberg, Silwan und Ras-al-Amud, sondern auch
Dörfer, die weiter entfernt liegen, wie Umm Tuba, Sur Baher und
Jabal Mukaber im Osten, Beit Hanina, und Kafr Aka im Norden,
Sharafat und Beit Safafa im Süden.
Der demographische
Dämon, der „Ghandi“ damals heimsuchte, verfolgt uns nun jetzt
durch die Straßen Jerusalems. Er fährt auf einem tödlichen
Bulldozer.
BIS ZUM Krieg 1948
war Jerusalem tatsächlich eine gemischte Stadt; jüdische und
arabische Stadtteile gingen in einander über.
Die demographische
Karte Jerusalems hat sich mir auf Grund einer persönlichen
Erfahrung ins Gedächtnis eingeprägt. Etwa ein Jahr vor dem Krieg
entschieden einige von uns, junge Männer und Frauen aus der
Bama’avak-Gruppe in Tel Aviv, einen Ausflug nach Hebron zu machen.
Zu jener Zeit gingen nur sehr wenige Juden in diese südlich gelegene
Stadt, die als nationale und religiös- muslimische Hochburg galt.
Wir nahmen in
Jerusalem den arabischen Bus und fuhren zu der Stadt, liefen durch
ihre Gassen, kauften Dinge aus blauem Glas, wofür Hebron berühmt
ist, besuchten auf dem Weg die Kibbutzim des Etzion-Blockes und
kehrten nach Jerusalem zurück. Aber in der Zwischenzeit war etwas
geschehen: eine der Untergrundorganisationen hatte einen besonders
schweren Anschlag begangen (ich glaube, es war ein Bombenattentat
auf den britischen Offiziersklub in Jerusalem), und die Briten
hatten eine allgemeine Ausgangssperre über alle jüdischen Stadtteile
im ganzen Land verhängt.
Am Eingang
Jerusalems stiegen wir aus dem Bus, durchquerten die Stadt von einem
Ende zum andern zu Fuß und achteten sehr darauf, nur durch arabische
Stadtteile zu gehen. Von dort nahmen wir einen arabischen Bus nach
Ramleh, dann einen anderen nach Jaffa. Von dort fanden wir unsern
Weg zu unsern Wohnungen in Tel Aviv über Hinterhöfe und
Seitenstraßen. Keiner von uns wurde erwischt.
Auf diese Weise
lernte ich die arabischen Stadtteile kennen. Unter ihnen waren
vornehme Viertel wie Talbieh und Bakaa, die nach dem Krieg 1948 zu
Zentren des jüdischen Jerusalems wurden. Während des Krieges flohen
die Einwohner nach Ost-Jerusalem oder wurden dorthin vertrieben und
siedelten sich dort an – bis auch diese Stadtteile 1967 durch die
israelische Armee erobert und von Israel annektiert wurde.
DIE ANNEXION
Ost-Jerusalems wurde zu einem Dilemma. Was sollte man mit der
arabischen Bevölkerung tun? Sie konnte nicht vertrieben werden. Die
Zerstörung des Mughrabi-Viertels neben der Westmauer und die
brutale Vertreibung der arabischen Bevölkerung des jüdischen
Viertels in der Altstadt hatte schon zu viele negative Kommentare
weltweit verursacht.
Wenn die Regierung
wirklich beabsichtigt hätte, die Stadt zu „vereinen“, dann hätte sie
mit der Annexion sofort begleitende Maßnahmen ergriffen, wie z.B.
automatisch allen arabischen Bewohnern sofort die Staatsbürgerschaft
verliehen und ihnen ihren „verlassenen“ Grundstücksbesitz in
West-Jerusalem zurückgegeben (oder wenigstens Entschädigung
gezahlt).
Aber die Regierung
dachte nicht im Traume daran. Den Bewohnern wurde nicht die
Staatsbürgerschaft verliehen, die ihnen dieselben Rechte gegeben
hätte wie den arabischen Bürgen in Galiläa und in Umm El-Fahm. Sie
wurden nur als „Einwohner“ Jerusalems anerkannt, in dem ihre
Vorfahren seit über tausend Jahren lebten. Das ist ein
zerbrechlicher Status, der wohl israelische Ausweise gewährt, aber
nicht das Recht, für die Knesset zu stimmen. Und dies kann leicht
zurückgenommen werden.
Theoretisch
können die arabischen Jerusalemer einen Antrag auf israelische
Staatsbürgerschaft stellen, aber solch ein Antrag ist von der
willkürlichen Entscheidung feindseliger Bürokraten abhängig. Und die
Regierung verlässt sich darauf, dass die Araber dies nicht tun; denn
das würde bedeuten, dass sie die Rechtmäßigkeit der israelischen
Besatzung anerkennen würden.
DIE WAHRHEIT ist,
dass Jerusalem nie vereinigt worden ist. „Die in alle Ewigkeit
vereinigte Hauptstadt Israels“ war und ist ein Mantra geblieben,
das aller Realität entbehrt. Für alle praktischen Belange war
Ost-Jerusalem besetztes Gebiet und ist es geblieben.
Die arabischen
Einwohner haben das Recht, für den Gemeinderat zu stimmen. Aber nur
eine Handvoll – Stadtangestellte und Leute, die von der Gnade der
Regierung abhängig sind – nehmen ihr Recht wahr, weil auch dies
bedeutet, die Besatzung anzuerkennen.
Praktisch ist der
Jerusalemer Gemeinderat eine Stadtregierung von Juden für Juden.
Ihre Verantwortlichen werden nur von Juden gewählt. Und sie sehen
ihre Hauptaufgabe darin, die Stadt zu judaisieren. Vor Jahren hat
Haolam Hazeh – mein Magazin bis 1990 - eine geheime Direktive
enthüllt: die ganze Regierung und alle Stadtinstitutionen sollen
darauf bedacht sein, dass die Zahl der Araber in der Stadt nicht die
27,5% übersteigt – genau den Prozentsatz, der zur Zeit der Annexion
bestand.
Es ist keine
Übertreibung, wenn man sagt, dass der gewählte demokratische
Bürgermeister von West-Jerusalem auch der Militärgouverneur von
Ost-Jerusalem ist.
Seit 1967 sahen
und sehen alle Bürgermeister ihren Job in diesem Licht. Zusammen mit
allen Abteilungen der Regierung achten sie sehr darauf, dass Araber,
die außerhalb der Stadt leben, nicht zurückkehren und dass Araber,
die in der Stadt leben, ausziehen. Tausend und ein Trick, große und
kleine Tricks, werden zu diesem Zweck angewandt: von der totalen
Verweigerung, Baugenehmigungen für die schnell wachsenden
arabischen Familien zu erhalten, bis zur Stornierung des Wohnrechts
für Leute, die eine Zeit lang im Ausland oder in der Westbank
verbrachten.
Der enge Kontakt
zwischen arabischen Jerusalemern und den Bewohnern der sich
anschließenden Westbank ist vollkommen getrennt worden. Jerusalem,
das als wirtschaftliches, politisches, kulturelles, medizinisches
und soziales Zentrum diente, wurde komplett von seinem natürlichen
Hinterland abgeschnitten. Der Bau der Mauer, die Väter von ihren
Söhnen trennt, Schüler von ihren Schulen, Geschäftsleute von ihren
Kunden, Ärzte von ihren Patienten, Moscheen von den Gläubigen und
sogar Friedhöfe von den jetzt Verstorbenen, dient diesem Zweck.
In Israel sagen
die Leute, die arabischen Bewohner kämen auch in den Genuss der
Sozialversicherung. Das ist ein verlogenes Argument: schließlich
besteht die Sozialversicherung nicht aus kostenfreien Mahlzeiten.
Die Versicherten haben ihren Beitrag eingezahlt. Araber wie Juden
zahlen jeden Monat.
Die arabischen
Bewohner müssen alle Gemeindesteuern zahlen, erhalten aber nur einen
Bruchteil der Gemeindedienste, was die Qualität und die Quantität
betrifft. Den Schulen fehlen Hunderte Klassenzimmer, und ihr
Standard ist niedriger als der der privaten islamischen Schulen.
Müllabfuhr und andere Dienstleistungen sind unter aller Kritik.
Öffentliche Parks, Jugendklubs, Gärtnerarbeit sind nicht vorhanden.
Die Bewohner von Kafr Akab, das jenseits des
Kalandia-Kontrollpunktes liegt, zahlen Gemeindesteuern und erhalten
überhaupt keine Dienstleistungen – das Gemeindeamt sagt, seine
Angestellten hätten Angst, dorthin zu gehen.
DIE JÜDISCHE
Öffentlichkeit ist an all dem nicht interessiert. Sie weiß nichts
davon – und will es auch gar nicht wissen, was in den arabischen
Stadtteilen vor sich geht – nur ein paar hundert Meter von ihr
entfernt.
Deshalb sind sie
sehr von der Undankbarkeit der arabischen Bewohner überrascht,
überrascht und geschockt. Ein junger Mann aus Sur Baher erschoss
neulich Schüler eines religiösen Seminars in West-Jerusalem. Ein
junger Mann aus Jabal Mukaber fuhr einen Bulldozer und überfuhr
alles, was ihm in den Weg kam. In dieser Woche wiederholte ein
junger Mann aus Umm Tuba genau denselben Akt. Alle drei wurden auf
der Stelle erschossen.
Die Angreifer
waren gewöhnliche junge Männer, nicht besonders religiös.
Anscheinend war keiner von ihnen Mitglied in einer Organisation.
Offensichtlich steht ein junger Mann morgens auf und entschließt
sich, dass er nun genug hat und ganz alleine einen Angriff
ausführen wird mit dem Instrument, das ihm zur Verfügung steht –
einer Pistole, die er von seinem eigenen Geld gekauft hat, wie beim
ersten Fall, oder einem Bulldozer, den er bei der Arbeit fährt, wie
in den beiden andern Fällen.
Wenn dies
tatsächlich der Fall ist, stellt sich eine Frage wie von selbst:
warum wurde dies von Jerusalemern getan? Erstens, weil sie die
Möglichkeit haben. Jemand, der mit einem Bulldozer auf einer
Baustelle in West-Jerusalem arbeitet, kann gerade Mal mit dem
nächsten Bus in der nächsten Straße zusammenstoßen. Der Fahrer eines
schweren LKW kann Leute überfahren. Es ist verhältnismäßig leicht,
mit einer Pistole einen Angriff durchzuführen, wie vor kurzem am
Löwentor. Die Täter konnten entkommen. Kein Geheimdienst kann so
etwas verhindern, wenn die Angreifer keine Partner haben und keine
Mitglieder einer Organisation sind.
Aus den Äußerungen
der Kommentatoren dieser Woche gewinnt man den Eindruck, das sie
sich nicht vorstellen können, welche Wut in den jungen Arabern
Jerusalems während der Jahre der Demütigung, der Schikanen, der
Diskriminierung und Hilflosigkeit sich angesammelt hat. Es ist
einfacher und amüsanter, sich mit pornographischen Beschreibungen
der 72 Jungfrauen abzugeben, die auf die Märtyrer im muslimischen
Paradies warten – was sie mit ihnen machen und wie und wer genug
Ausdauer für sie alle hat .
Einer der
Hauptfaktoren, die den Hass entfachen, ist die Zerstörung der
„illegalen“ Häuser der arabischen Bewohner, die gar nicht in der
Lage sind, „legal“ zu bauen. Das Ausmaß offizieller Dummheit wird
durch die Forderung des Shin-Beth-Chefs in dieser Woche wieder
belegt: die Häuser der Familien der Angreifer zu zerstören – um der
„Abschreckung“ willen. Anscheinend hat er nichts von den Dutzenden
von Untersuchungen und der vielfachen Erfahrung gehört, die belegt,
dass jedes zerstörte Haus ein Brutapparat für neue hassgetriebene
Rächer ist.
Der Angriff in
dieser Woche ist besonders instruktiv. Es ist völlig unklar, was
tatsächlich geschehen ist: plante Ghassan Abu-Tir den Angriff im
voraus? Oder war es eine spontane Entscheidung in einem Augenblick
der Aufregung? War dies überhaupt ein Angriff oder fuhr der Fahrer
versehentlich in einen Bus hinein, versuchte in Panik seinen
Verfolgern zu entfliehen und wurde so ein Ziel für eine Schießsalve
eines Passanten und von Soldaten? In der so aufgeladenen Atmosphäre
von Verdacht und Furcht, die zur Zeit in Jerusalem herrscht,
erscheint jeder Straßenunfall, in den ein Araber verwickelt ist, wie
ein Angriff, und jeder arabische Fahrer, der in einen Unfall
verwickelt ist, wird wahrscheinlich – ohne Gerichtsverhandlung -
auf der Stelle erschossen. (Es sollte daran erinnert werden, dass
die erste Intifada 1987 nach einem Autounfall im Gazastreifen
ausbrach, bei dem der jüdische Fahrer eines Militärtransporters
mehrere Araber überfuhr.)
UND WIEDER
stellt sich die Frage: wie sieht die Lösung für dieses komplexe
Problem aus, das so starke Emotionen, tief verwurzelte Mythen und
moralische Dilemmata für Millionen rund um die Welt darstellt ?
In der vergangenen
Woche wurden eine Menge Vorschläge gemacht: eine Mauer nach Berliner
Vorbild mitten durch die Stadt zu bauen (zusätzlich zu der, die rund
um die Stadt geht); ganze Familien für die Taten ihre Kinder zu
strafen - etwa wie die „Sippenhaft“ der Nazis, die Familien aus der
Stadt zu vertreiben und ihren Status als „Einwohner“ zu streichen;
ihre Häuser zu zerstören; ihnen die Sozialversicherung zu nehmen,
auch wenn sie dafür bezahlt haben.
All diese
„Lösungen“ haben eines gemeinsam – sie wurden schon in der
Vergangenheit ausprobiert, hier und an anderen Orten und sind fehl
geschlagen.
Außer einer:
Ost-Jerusalem in die Hauptstadt Palästinas zu verwandeln, seine
Bewohner in die Lage zu versetzen, ihren eigenen Gemeinderat
aufzubauen, während man die Stadt als Ganzes unter einem
Super-Gemeinderat vereint, in dem Araber und Juden gleichwertige
Partner sind. Ich bin froh, dass letzte Woche während seines
Besuches bei uns Barack Obama diesen Plan fast wörtlich
wiederholte, den Gush Shalom schon vor zehn Jahren veröffentlichte
– zusammen mit Feisal Husseini, dem verstorbenen Führer der
Jerusalemer arabischen Gemeinde.
Die Angriffe sind
die Folge von Verzweiflung, Frustration, Hass und dem Gefühl, es
gebe keinen Weg aus dieser Situation. Nur eine Lösung, die all diese
Gefühle beseitigt, kann für beide Teile Jerusalems Sicherheit
bringen.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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