„Stoppt diese Scheiße“
Uri Avnery, 18.7.06
EINE FRAU, eine Immigrantin aus Russland, wirft sich
voller Verzweiflung vor ihr Haus, das von einer Rakete
getroffen worden war. Sie schreit in gebrochenem
Hebräisch: „Mein Sohn, mein Sohn!“ da sie glaubte, er
sei tot. Tatsächlich war er nur verletzt und ins
Krankenhaus gebracht worden.
Libanesische Kinder, am ganzen Körper verletzt, in
Beiruts Krankenhäusern. Die Beerdigung der Opfer einer
Rakete in Haifa. Die Ruinen eines völlig zerstörten
Stadtviertels in Beirut. Bewohner aus dem Norden Israels
fliehen vor den Katjuschas nach Süden. Bewohner des
südlichen Libanon fliehen vor der israelischen Luftwaffe
nach Norden.
Tod, Zerstörung. Unvorstellbares menschliches Leid.
Und der abscheulichste Anblick: George Bush sitzt in
verspielter Stimmung auf seinem Stuhl in Petersburg -
über ihn gebeugt sein loyaler Diener Tony Blair, um
das Problem zu lösen: „Sieh, was die tun müssen, ist,
die Syrer dahin zu bringen, dass sie die Hisbollah
dahin bringen, mit all der Scheiße aufzuhören – dann
wäre endlich Schluss damit.“
So sprach der Mächtigste der Welt – und die sieben
Zwerge – „die Großen der Welt“ – sagten Amen.
SYRIEN? DOCH erst vor wenigen Monaten war es Bush – ja
derselbe Bush – der die Libanesen zwang, die Syrer aus
ihrem Land zu jagen. Nun will er, dass sie im Libanon
intervenieren und für Ordnung sorgen?
Vor 31 Jahren , als der libanesische Bürgerkrieg auf
seinem Höhepunkt war, sandten die Syrer – vor allem von
den libanesischen Christen eingeladen - ihre Armee in
den Libanon . Zu jener Zeit verursachte der damalige
Verteidigungsminister Peres und seine Verbündeten eine
Hysterie in Israel. Sie verlangten, Israel möge den
Syrern ein Ultimatum stellen, das sie daran hindere,
die israelische Grenze zu erreichen. Yitzhak Rabin, der
Ministerpräsident, sagte damals zu mir, dass dies reiner
Unsinn sei, weil es das Beste für Israel wäre, wenn sich
die syrische Armee entlang der Grenze formieren würde.
Nur dies könnte die Ruhe sicherstellen, die gleiche
Ruhe, die an der Grenze Israels zu Syrien herrscht.
Doch Rabin gab der Medienhysterie nach und stoppte die
Syrer weit entfernt von der israelischen Grenze. Das
so geschaffene Vakuum wurde 1982 von der PLO gefüllt.
Ariel Sharon vertrieb die PLO – und das Vakuum füllte
sich mit der Hisbollah.
All dies, was sich dann dort ereignete, wäre nicht
geschehen, wenn wir den Syrern erlaubt hätten, von
Anfang an die Grenze zu besetzen. Die Syrer sind
vorsichtig, sie handeln nicht leichtsinnig.
WAS HAT Hassan Nasrallah nur gedacht, als er entschied,
die Grenze zu überqueren und eine Guerilla-Aktion
durchführen zu lassen, die den augenblicklichen
Hexensabbat verursacht? Warum hat er es getan? Und warum
zu diesem Zeitpunkt?
Jeder hält Nasrallah für eine kluge Person. Er ist auch
besonnen. Seit Jahren hat er einen großen Vorrat an
Raketen aller Art angelegt, um eine Art Terrorbalance
herzustellen. Er wusste, dass die israelische Armee nur
auf die Gelegenheit wartete, sie zu zerstören . Trotzdem
hat er eine Provokation ausgeführt, die der israelischen
Regierung den perfekten Vorwand lieferte, den Libanon
anzugreifen – mit dem vollen Einverständnis der
Weltgemeinschaft. Warum?
Möglicherweise war er vom Iran und von Syrien, die ihn
mit Raketen ausstatten, aufgefordert worden, etwas zu
tun, um den amerikanischen Druck von ihnen abzulenken.
Und tatsächlich hat die plötzliche Krise die
Aufmerksamkeit von den iranischen Bemühungen im
Nuklearbereich abgelenkt. Und es scheint, Bushs Haltung
habe sich gegenüber Syrien verändert.
Aber Nasrallah ist weit davon entfernt, eine Marionette
des Iran oder von Syrien zu sein. Er führt eine echte
libanesische Bewegung an und kalkuliert seine eigene
Bilanz des Für und Wider. Wenn er vom Iran oder von
Syrien angefragt worden wäre, etwas zu tun – wofür es
aber keinen Beweis gibt – und er gesehen hätte, dass
dies nicht mit den Zielen seiner Bewegung übereinstimmt,
dann hätte er es nicht getan.
Vielleicht handelte er aus innerpolitischen Gründen.
Das libanesische politische System war stabiler
geworden, und es war schwieriger geworden, den
militärischen Flügel der Hisbollah zu rechtfertigen. Ein
neuer bewaffneter Vorfall hätte helfen können. ( Solche
Betrachtungen sind uns keineswegs fremd, besonders nicht
vor Budget-Debatten).
Aber all dies erklärt nicht den Zeitpunkt. Nasrallah
hätte einen Monat vorher oder einen Monat später handeln
können , ein Jahr vorher oder später. Es muss einen
driftigeren Grund gegeben haben, der ihn davon
überzeugte, genau jetzt in solch ein Abenteuer zu
schliddern.
Und tatsächlich diesen Grund gab es: Palästina.
Vor zwei Wochen begann die israelische Armee einen Krieg
gegen die Bevölkerung des Gazastreifens. Auch dort war
der Vorwand eine Guerillaaktion, in der ein israelischer
Soldat gefangen genommen wurde. Die israelische
Regierung packte die Gelegenheit beim Schopfe und führte
einen seit langem vorbereiteten Plan aus: den
Widerstandswillen der Palästinenser zu brechen und die
neu gewählte palästinensische Regierung zu zerstören,
die von der Hamas dominiert wird. Und natürlich auch um
die Qassams zu stoppen.
Die Operation im Gazastreifen ist eine besonders brutale
– und so sieht es auch auf den Bildschirmen in aller
Welt aus. Schreckliche Bilder aus dem Gazastreifen
erscheinen täglich und stündlich in den arabischen
Medien. Tote, Verletzte, Zerstörung . Wassermangel,
fehlende Medikamente für die Verwundeten und Kranken.
Ganze Familien getötet. Kinder schreien in Agonie.
Mütter weinen. Gebäude stürzen in sich zusammen.
Die arabischen Regime, die alle von Amerika abhängig
sind, kommen nicht zu Hilfe. Da sie alle von islamischen
Oppositionsbewegungen bedroht sind, schauen sie mit
einiger Schadenfreude zu, was gegenüber der Hamas
geschieht. Aber 10 Millionen Araber vom Atlantik bis zum
Persischen Golf sehen zu, regen sich auf und werden über
ihre Regierung wütend, schreien nach einem Führer, der
den belagerten und heldenhaften Brüdern in Palästina zu
Hilfe eilt.
Vor 50 Jahren schrieb Gamal Abdel-Nasser, der neue
ägyptische Führer, dass eine Rolle auf einen Helden
wartet. Er entschied, selbst dieser Held zu sein.
Jahrelang war er das Idol für die arabische Welt, Symbol
für die arabische Einheit. Aber Israel nützte eine
Gelegenheit und stürzte ihn im Sechs-Tage-Krieg . Danach
stieg Saddam Husseins Stern am arabischen Horizont auf.
Er wagte es, sich gegen das mächtige Amerika zu stellen
und Raketen auf Israel abzuschießen – und wurde so der
Held der arabischen Massen. Aber er wurde vernichtend
und in demütigender Weise von den Amerikanern, die von
Israel angespornt wurden, geschlagen.
Vor einer Woche sah sich Nasrallah derselben Versuchung
gegenüber. Die arabische Welt schrie nach einem Helden
und er reagierte: Hier bin ich. Er forderte Israel und
indirekt auch die US und die ganze westliche Welt
heraus. Er begann den Angriff ohne Verbündete und
wusste, dass weder der Iran noch Syrien es riskieren
würden, ihm zu helfen.
Vielleicht wird er fortgerissen wie Abd-el-Nasser und
Saddam vor ihm. Vielleicht hat er die Gewalt des
Gegenangriffes, den er erwartete, unterschätzt.
Vielleicht glaubte er wirklich, dass unter dem Gewicht
seiner Katjuscha-Raketen Israels Etappe zusammenbrechen
würde (So wie die israelische Armee glaubte, die
israelische Zerstörung würde das palästinensische Volk
im Gazastreifen und die Schiiten im Libanon zerbrechen)
.
Eines ist klar: Nasrallah hätte diese Gewaltspirale
nicht begonnen, wenn die Palästinenser ihn nicht um
Beistand gebeten hätten. Aus kühler Berechnung oder aus
wahrer moralischer Entrüstung oder wegen beidem –
Nasrallah eilte zur Rettung des belagerten Palästinas.
DIE ISRAELISCHE Reaktion hätte man erwarten können. Seit
Jahren warten die Armeekommandeure auf eine
Gelegenheit, das Raketenarsenal der Hisbollah zu
vernichten und diese Organisation zu zerstören oder sie
wenigstens zu entwaffnen und sie sehr weit weg von der
israelischen Grenze zu befördern. Sie versuchten dies
auf die einzige ihnen bekannte Weise: durch
weitreichende Zerstörung, damit die libanesische
Bevölkerung aufsteht und die Regierung zwingt, Israels
Forderungen zu erfüllen.
Werden diese Ziele erreicht?
HISBOLLAH IST die authentische Vertretung der
schiitischen Gemeinschaft, die etwa 40% der
libanesischen Bevölkerung ausmacht. Zusammen mit den
andern Muslimen bilden sie die Mehrheit im Land. Der
Gedanke, dass die schwächliche libanesische Regierung,
die auf jeden Fall auch die Hisbollah einschließt, in
der Lage wäre, diese Organisation zu liquidieren, ist
lächerlich.
Die israelische Regierung verlangt, die libanesische
Armee solle an der Grenze entlang aufmarschieren. Dies
ist jetzt zu einem Mantra geworden. Es zeugt von
totaler Ignoranz. Die Schiiten haben bedeutsame
Positionen in der libanesischen Armee inne. So gibt es
überhaupt keine Chance, dass sie einen Bruderkrieg gegen
sie beginnen werden .
Im Ausland nimmt ein anderer Gedanke Gestalt an: eine
internationale Truppe sollte entlang der
israelisch-libanesischen Grenze aufgestellt werden . Die
israelische Regierung ist strickt dagegen. Eine wirklich
internationale Truppe – nicht wie die unglückliche
UNIFIL, die seit Jahrzehnten dort ist – würde die
israelische Armee daran hindern, das zu tun, was sie
will. Außerdem: sollte sie dort ohne das Einverständnis
der Hisbollah aufgestellt werden, würde ein neuer
Guerillakrieg gegen sie beginnen. Würde solch einer
Truppe – ohne wirkliche Motivation – das gelingen, was
der mächtigen israelischen Armee nicht gelungen ist?
Dieser Krieg mit seinen Hunderten von Toten und
Zerstörungswellen wird höchstens zu einem anderen
zerbrechlichen Waffenstillstand führen. Die israelische
Armee wird den Sieg ausrufen und behaupten, sie habe
die „Spielregeln“ verändert. Nasrallah (oder seine
Nachfolger) werden behaupten, ihre kleine Organisation
habe sich gegen eine der mächtigsten Militärmaschinen
der Welt erhoben und ein weiteres leuchtendes Kapitel
über Heldentum in den Annalen der arabischen und
muslimischen Geschichte geschrieben.
Es wird keine richtige Lösung geben, weil die Wurzel des
Übels nicht angegangen wird: das palästinensische
Problem.
VOR VIELEN JAHREN hörte ich im Radio eine der Reden von
Abd-el- Nasser, die er vor einer großen Menschenmenge in
Ägypten hielt . Er verbreitete sich über die
Errungenschaften der ägyptischen Revolution, als
Schreie aus der Menge kamen: „Palästina oh, Gamal!“
Daraufhin vergaß Nasser über sein angefangenes Thema zu
reden und sprach mit wachsender Begeisterung über
Palästina.
Seit damals hat sich nicht viel verändert. Wenn die
palästinensische Sache erwähnt wird, wirft sie ihre
Schatten über alles andere. Genau dies geschah jetzt
auch.
Jeder, der sich nach einer Lösung sehnt, muss wissen:
es gibt keine Lösung, ohne die Lösung des
israelisch-palästinensischen Konflikts. Und es gibt
keine Lösung des palästinensischen Problems ohne
Verhandlungen mit der gewählten Regierung, einer
Regierung, der die Hamas vorsteht.
Wenn jemand ein für alle mal diese Scheiße – wie Bush so
delikat formulierte – beenden will, dann geht es nur auf
diese Weise.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert) |