Flieg, Zipora, flieg!
Uri Avnery, 20.9.08
DIE UMFRAGEN haben sich geirrt, wie gewöhnlich, und zwar gründlich,
wie gewöhnlich.
Anstelle mit großer Mehrheit, wie alle Meinungsforscher es Zipi
Livni bis zum letzten Moment versprochen hatten, gewann sie gerade
mal eben mit knapper Not. Von circa 72 Tausend Mitgliedern der "Kadima"-Partei
gingen nur 39,331 zur Wahlurne, und sie siegte mit nur 431 Stimmen
über Shaul Mofaz.
Aber Mehrheit ist Mehrheit. Zipi Livni hat gewonnen.
Was besagt das über die israelische Öffentlichkeit?
ZUALLERERST: Es ist der Sieg einer Person ohne "Sicherheits"-Hintergrund
über eine Person die beinah nichts als "Sicherheit" mit sich bringt.
Auf Rat seines rechtsgerichteten amerikanischen Beraters betonte
Mofaz das Wort "Sicherheit" bei jeder Gelegenheit, fast in jedem
Satz. In einer Fernsehsendung hat man daraus eine Parodie gemacht:
Sicherheit und Sicherheit und Sicherheit und Sicherheit.
Es
hat aber nicht gereicht. DER General, der Oberbefehlshaber und
Verteidigungsminister wurde von einer Frau besiegt, bar jeder
militärischen Vergangenheit (obwohl sie 15 Jahre im Mosad gedient
hat).
Das heißt nicht, dass Zipi Livni sich am Ende nicht als
Kriegstreiber herausstellt, wie Elisabeth I., wie Katharina die
Große, wie Margret Thatcher, wie Indira Ghandi. Aber die Tatsache
bleibt: Die Wähler bei "Kadima" bevorzugten einen Nicht-General.
DARÜBER HINAUS ist "Kadima" eine Partei der Mitte. Sie ist
gewissermaßen im Zentrum der Mitte. Ihre Mitglieder begeistern sich
weder von den Linken noch von den Rechten. Sie haben keine
ausgeprägten Ansichten in irgendeine Richtung. Deshalb kann man
diese Wahl als Spiegelbild der Stimmung der Öffentlichkeit ansehen.
Mofaz hat sich nicht nur als „Mister Sicherheit“ präsentiert,
sondern auch als ein echter Mann der Rechten, einer, der gegen
Frieden sowohl mit Syrien als auch mit den Palästinensern ist.
Einer, der beabsichtigt, eine Koalition mit der Rechten zu bilden,
sogar mit der extremen Rechten. Er repräsentierte Krieg-ohne-Ende.
Zipi Livni präsentierte sich als Kandidatin, die nach Frieden
strebt, die Frau, die die Verhandlungen mit den Palästinensern
führt, die Diplomatie dem Krieg vorzieht, die einen Weg zum Beenden
des Konflikts aufzeigt.
Es
ist natürlich möglich, dass all das Täuschung und Theater war, dass
es im Grunde zwischen den beiden keinen Unterschied gibt. Aber auch
wenn das der Fall ist, bleibt die wesentliche Tatsache, dass die
Wähler der "Kadima", die repräsentative Öffentlichkeit der Mitte in
diesem Staat, einer Kandidatin zum Sieg – wenn auch zum knappen Sieg
verholfen hat, die behauptet, für den Frieden zu stehen.
In
seinem Gedicht "The Second Coming", beschreibt der irische Dichter
William Butler Yates das Chaos und behauptet: "Die Dinge fallen
auseinander, das Zentrum kann’s nicht halten". Dieses Bild ist aus
der Militärgeschichte genommen: In der klassischen Schlacht
vergangener Zeiten wurden die Armeen so aufgestellt, dass die
Hauptkräfte in der Mitte standen, leichtere Truppen verteidigten die
Flanken. Solange die Mitte durchhielt, war alles in Ordnung.
Im
heutigen Israel hält die Mitte stand. Die Öffentlichkeit hat eine
Frau der Mitte gewählt.
Man kann es auch anders darstellen: Im Israel von 2008 sind die
Kräfte zwischen "Rechts" und "Links" gleich verteilt, und diesmal
hat die "Linke" mit knapper Mehrheit gesiegt.
ICH ERINNERE MICH an die Wahlen vor neun Jahren. Im Mai 1999
besiegte Ehud Barak Benjamin Netanjahu mit 56,08 % zu 43,92 %, einem
Unterchied von 388,546 Stimmen. Die Öffentlichkeit hatte
Ministerpräsident Netanjahu einfach satt.
Die öffentliche Reaktion war umwerfend. Man hatte im Friedenslager
das Gefühl, als wären wir aus der Sklaverei in die Freiheit
getreten, als sei nach einer Ära von Versagen und Korruption die
Zeit von Frieden und Wohlstand angebrochen. Ohne irgendeinen Aufruf,
ungeplant und spontan, strömten die Massen zum Rabin-Platz in Tel
Aviv, dem Platz, an dem der damalige Ministerpräsident vier Jahre
zuvor ermordet worden war. Ich war auch dabei.
Auf dem Platz herrschte eine berauschende Stimmung. Die Leute
tanzten, umarmten und küssten einander. Solch eine Festtags-Stimmung
hatte man an diesem Ort zum letzten Mal gesehen, als die
UN-Vollverammlung im November 1947 die Gründung eines jüdischen (und
eines arabischen) Staates beschlossen hatte. Solche Szenen habe ich
auch im April 1948 erlebt, als ich Teil der Truppe war, die einen
riesigen Hilfskonvoi ins belagerte hungrige West-Jerusalem brachten.
Im Film habe ich solche Szenen gesehen, als der Einzug Charles De
Gaulles ins befreite Paris gezeigt wurde.
Barak versprach, ein zweiter Rabin und noch mehr zu sein. Er
versprach den Frieden mit den Palästinensern in wenigen Monaten.
Eine rosige Zukunft zeigte sich am Horizont, "die Morgenröte
versprach den neuen Tag".
Anderthalb Jahre danach war nichts davon übrig geblieben. Der
Friedensheld Ehud Barak brachte über das Land das größte Unglück in
den Annalen des Kampfs um den Frieden hierzulande. Er kehrte aus
Camp David, von einer von ihm einberufenen Konferenz zurück, mit
einer Deklaration, die dann zum Mantra wurde: "Ich habe auf dem Weg
zum Frieden jeden Stein umgedreht; ich habe den Palästinensern die
großzügigsten Angebote gemacht, die sie je bekommen haben; Arafat
hat alles abgelehnt; wir haben keinen Partner für den Frieden."
Mit wenigen Worten hatte Barak das Friedenslager zerstört und in der
israelischen Öffentlichkeit einen Glauben gefestigt, wie es selbst
Netanjahu nicht gelungen war: Dass es keine Chance für den Frieden
gibt, dass wir dazu verdammt sind, diesen Konflikt in alle Ewigkeit
fortzuführen.
Deshalb geriet nach Livnis Sieg keiner aus dem Häuschen. Keine
Massen strömten zum Rabin-Platz, niemand tanzte und umarmte sich –
und
nicht nur, weil es sich um nur
eine parteiinterne Wahl handelt. Die allgemeine Reaktion bewegte
sich zwischen Seufzern der Erleichterung und einfachem
Schulterzucken. "Kadima" hat also einen neuen Vorsitzenden. Es wird
also einen neuen Ministerpräsidenten geben. Warten wir's ab, dann
werden wir sehen.
TROTZDEM, was ist zu erwarten?
Es kursiert schon ein Scherz über "Zipi und die Zipiot" (Zipiot
heißt im Hebräischen: Erwartungen, Hoffnungen), die neue Rock-Band
am Musikhimmel. Aber niemand weiß wirklich, was für ein
Regierungschef sie sein wird. Stark oder schwach. Gradlinig oder
Druck nachgebend. Hart oder kompromissbereit. Kriegstreiber oder
Friedenssucher.
Man kann nur auf den Hintergrund verweisen, aus dem sie kommt, wie
ich vor einer Woche schon angedeutet habe. Vielleicht lohnt es sich,
darauf näher einzugehen.
Am
Vorabend der Wahlen wurde sie im Rahmen einer der schalen
Fragestunden, die in den Medien so beliebt sind, gefragt, wer ihr
Held sei. Sie antwortete: Jabotinsky.
Diese Antwort war vorhersagbar. Zipi Livni wuchs in einem
revisionistischen Hause auf. Sie ist eine Revisionistin Modell 2008.
Was bedeutet das?
Ihr Vater Eitan wurde in Grodno geboren, einer Stadt, die schon zu
Litauen, Polen und Russland gehörte, jetzt liegt sie in
Weißrussland. Er kam ins Land im Alter von sechs Jahren, 1938 wurde
er Mitglied der Untergrundorganisation Irgun (im selben Jahr wie
ich); damals war er neunzehn Jahre alt. Seitdem wurde sein ganzes
Leben von Ze'ev Vladimir Jabotinsky und dessen Lehre geprägt.
Eitan Livni, so wie ich ihn kennen lernte, war kein brillianter oder
außergewöhnlicher Mann. Er war solide, loyal, standfest, wie sein
Name sagt. (Eitan heißt im Hebräischen stark, standfest.) Jemand,
auf den man sich verlassen kann. Im Irgun diente er als Offizier, er
befehligte gewagte Operationen, unter anderem den großen Ausbruch
aus dem Gefängnis Acco, in dem er gefangen war. Als Abgeordneter der
Herut-Partei, der Vorgängerin des heutigen Likud, fiel er nicht
besonders auf, er unterstütze Menahem Begin bedingungslos.
Um
Zipi zu verstehen, lohnt es sich, auf Jabotinsky zurück zu kommen.
Seine vielen Feinde nannten ihn oft einen Faschisten, eine
Bezeichnung, die ihm nicht gerecht wird. Er war ein Nationalist des
19. Jahrhunderts, in dem er geboren wurde. In Odessa geboren, lebte
er als junger Mann einige Jahre in Italien; seine Helden waren die
Helden des damaligen italienischen Nationalismus: Der Ideologe
Giuseppe Mazzini und der Kämpfer Giuseppe Garibaldi. Er glaubte an
die nationalistische Republik.
Jabotinsky wollte natürlich das gesamte Palästina als jüdischen
Staat. Schon der Name, den er in den 20er Jahren des vergangenen
Jahrhunderts seiner Partei gab, zeigt: Er forderte eine "Revision"
des britischen Beschlusses, das Land westlich des Jordans von dem
östlich des Jordans, damals Transjordanien, heute das Königreich
Jordanien, zu teilen. Auch Zipi Livni sang in ihrer Kindheit das
wohl berühmteste Lied Jabotinskys: "Zwei Ufer hat der Jordan – das
eine gehört uns, das andere auch."
Jabotinsky war aber auch ein wirklicher Liberaler und wirklicher
Demokrat. Er betrat die politische Bühne zum ersten Mal, als er den
"Helsinki-Plan" formulierte, der für Juden und andere nationale
Minderheiten im russischen Zarenreich Menschenrechte und nationale
Rechte einforderte.
EIN MENSCH, der nach diesen Werten erzogen wurde, steht heute vor
einer schwierigen Wahl.
Damals machte unter den Revisionisten ein Scherz die Runde: Um David
Ben Gurion für die Staatsgründung zu belohnen, versprach Gott, ihm
einen Wunsch zu erfüllen. Ben Gurion wünschte sich, jeder Israeli
solle ehrenhaft, klug, und Parteimitglied der Mapai (Arbeitspartei)
sein. "Das ist sogar für mich zu viel", sprach Gott, "aber jeder
Israeli darf sich zwei davon aussuchen". Deshalb ist ein ehrenhaftes
Mapai-Mitglied nicht klug, ein kluges Mapai-Mitglied nicht
anständig, und jeder anständige, kluge Mensch ist nicht
Mapai-Mitglied.
Den Revisionisten geht es jetzt ähnlich. Sie wünschen sich drei
Dinge: Einen jüdischen Staat, einen Staat der sich auf das gesamte
Land ertreckt, und einen demokratischen Staat. Das ist selbst von
Gott zu viel verlangt. Ein vernünftiger Revisionist muss sich also
zwei davon aussuchen: Einen demokratischen jüdischen Staat auf einem
Teil des historischen Palästina, einen jüdischen Staat auf dem
gesamten Gebiet der nicht demokratisch ist, oder einen
demokratischen Staat auf dem gesamten Gebiet, der aber nicht jüdisch
ist. Das hat sich seit 41 Jahren nicht geändert.
Zipi Livni, eine aufrechte Revisionistin, hat ihre Wahl bekannt
gegeben: Einen demokratischen jüdischen Staat auf einem Teilgebiet
des historischen Palästina. (Wir werden uns hier nicht mit der Frage
beschäftigen, ob ein "jüdischer" Staat demokratisch sein kann.)
In zeitgemäßem Hebräisch wird zwischen "national" und
"nationalistisch" unterschieden. Eine nationale Einstellung
anerkennt die Wichtigkeit einer nationalen Grundlage in der
menschlichen Gesellschaft, deshalb respektiert sie auch nationale
Bestrebungen anderer Völker. Eine nationalistische Einstellung sagt
"Wir, und sonst niemand", meine Nation auf Kosten aller anderen,
meine Nation über alles.
Es
sieht so aus, als habe Zipi, wie ihr Held Jabotinsky, eine nationale
Einstellung. Daher ihre Betonung von "zwei Nationalstaaten für zwei
Völker". Sie spricht von einem jüdischen Nationalstaat, und sie ist
bereit, auf diesem Altar das Groß-Israel auf dem gesamten Gebiet des
historischen Palästina zu opfern.
Es
ist keine ideale Grundlage für einen Frieden (Welchen Status haben
in einem jüdischen Nationalstaat die arabischen Bürger?), aber es
ist eine realistische Basis.Wenn sie die Kraft hat, ihre Ideen
durchzusetzen, kann sie Frieden bringen. Wenn.
IN
SEINER REAKTION auf diese Wahl schrieb Gideon Levy, das Herz wolle
hoffen, der Verstand aber könne nicht. Eine verständliche Reaktion.
Da
Zipi, die Abkürzung von Zipora, "Vogel" bedeutet, möchte man
ausrufen: Flieg, Zipora, flieg! Schwing dich auf in die Lüfte,
geradewegs zum Ziel! Nachdem du zur Premierministerin gewählt worden
bist, verlier keine Zeit! Bilde eine Koalition mit den
Friedenskräften, nütze die ersten Monate deiner Amtszeit, um einen
Friedensvertrag mit den Palästinensern zu erreichen, rufe dann
Neuwahlen aus und stelle dich mit diesem Vertrag der Öffentlichkeit
zur Wahl. Wie Livni selbst es unverblümt ausdrückt: "Wir haben keine
Zeit für Geschwätz!"
Genau das hätte Ehud Barak Ende 2000 tun sollen. Er hat die Chance
nicht genützt und deshalb verloren.
Wird der Vogel Zipora solche Höhen erreichen? Das Herz hofft. Der
Verstand hat seine Zweifel.
(Aus dem Hebräischen: Gudrun Weichenhan.Mer; vom Verfasser
autorisiert)
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