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„Freue dich nicht….“
Uri Avnery, 7.Mai 2011
“FREUE DICH nicht über den Fall deines
Feindes und dein Herz sei nicht froh über sein Unglück/ der Herr
könnte es sehen und Missfallen daran haben und seinen Zorn von ihm
wenden!“
Dies ist eine der schönsten Passagen in
der Bibel (Sprüche Salomos 24, 17-18) und tatsächlich in
hebräischer Sprache. Sie sind auch schön in der Übersetzung, obwohl
keine Übersetzung der Schönheit im Original nahe kommt.
Natürlich ist es normal, froh zu sein,
wenn jemandes Feind besiegt wird, und der Durst nach Rache ist
leider ein menschlicher Zug. Aber sich hämisch freuen – auf deutsch
Schadenfreude - , ist etwas völlig anderes. Es ist hässlich.
Eine alte hebräische Legende erzählt,
dass Gott sehr wütend wurde, als er sah, wie die Kinder Israels sich
freuten, als ihre ägyptischen Verfolger im Roten Meer ertranken.
„Meine Geschöpfe ertrinken im Meer,“ sagte Gott, „und ihr singt?“
Diese Gedanken gingen durch meinen Kopf,
als ich am Fernseher die jubelnde Menge der jungen Amerikaner in den
Straßen schreien und tanzen sah. Verständlich, aber unschicklich.
Die verzerrten Gesichter und die Köpersprache waren dieselben wie
die der Mengen im Sudan oder Somalia. Die hässlichen Seiten der
menschlichen Natur scheinen überall dieselben zu sein.
DIE FREUDE mag verfrüht sein. Denn sehr
wahrscheinlich starb al-Qaida nicht mit Osama bin Laden. Die
Auswirkungen mögen völlig andere sein.
1942 töteten die Briten Abraham Stern,
den sie „Terrorist“ nannten. Stern, dessen Name im Untergrund Yair
war, versteckte sich im Schrank einer Wohnung in Tel Aviv. In diesem
Fall wurde sein Versteck auch durch die Bewegung seines Kuriers
entdeckt. Nachdem man sicher war, dass er der richtige Mann war,
erschoss ihn der britische Polizeioffizier.
Das war aber nicht das Ende der Gruppe –
vielmehr war es ein Anfang. Sie wurde der Fluch der britischen
Herrschaft in Palästina. Als „Stern-Bande“ bekannt (ihr richtiger
Name war „Kämpfer für die Freiheit Israels“), führte sie die
gewagtesten Angriffe auf britische Einrichtungen und spielte eine
bedeutende Rolle darin, die Briten davon zu überzeugen, dass sie das
Land verlassen sollten.
Die Hamas starb nicht, nachdem die
israelische Luftwaffe Scheich Ahmad Yassin, den gelähmten Gründer,
Ideologen und das Symbol von Hamas, getötet hatte. Als Märtyrer war
er viel effektiver denn als lebender Führer. Sein Märtyrertum zog
viele neue Kämpfer für den Kampf an. Eine Person zu töten, tötet
nicht eine Idee. Die Christen machten sogar das Kreuz zu ihrem
Symbol.
WAS STECKTE hinter der Idee, die Osama
bin Laden in eine Weltikone verwandelt hat?
Er predigte die Wiederbelebung des
Kalifats der frühen islamischen Jahrhunderte, das nicht nur ein
großes Reich war, sondern auch ein Zentrum der Wissenschaften und
Künste, der Dichtung und Literatur, als Europa noch ein
barbarischer, mittelalterlicher Kontinent war. Jedes arabische
Schulkind lernt in Geschichte diese glorreiche Zeit kennen und kann
nicht anders, als sie mit der traurigen muslimischen Gegenwart
vergleichen.
(In gewisser Weise ähnelt diese
Sehnsucht den Träumen der zionistischen Romantiker vom wieder
belebten Königreich Davids und Salomos.)
Ein neues Kalifat im 21.Jahrhundert ist
so unwahrscheinlich wie die wildeste Schöpfung der Phantasie. Es
würde entgegengesetzt zum „Zeitgeist“ sein – wäre es nicht für
seine Gegner – die Amerikaner. Sie brauchten diesen Traum – oder
Alptraum – mehr als die Muslime selbst.
Das amerikanische Empire braucht immer
ein Feindbild, um es zusammen zu halten und um seine Energien zu
konzentrieren. Es muss ein weltweiter Feind sein, unheimlicher
Fürsprecher einer bösen Philosophie.
Dieser Feind waren die Nazis und das
kaiserliche Japan – aber nicht lange. Glücklicherweise kam dann das
kommunistische Empire, das die Rolle wunderbar übernahm.
Überall gab es Kommunisten. Alle planten
sie den Untergang der Freiheit, der Demokratie und der USA. Sie
lauerten sogar innerhalb der USA, wie Edgar Hoover und Senator Joe
McCarthy so überzeugend demonstrierten.
Jahrzehntelang blühte die US im Kampf
gegen die Rote Gefahr. Ihretwegen breiteten sich ihre Militärkräfte
über die ganze Welt aus, ihre Raumschiffe erreichten den Mond. Ihre
besten Köpfe engagierten sich in einer titanischen Schlacht von
Ideen, die „Söhne des Lichts“ gegen die „Söhne der Finsternis“.
Und dann brach die ganze Sache – leider
– zusammen. Die Sowjetmacht entschwand, als hätte es sie nie
gegeben. Die amerikanischen Spitzelagenturen mit ihren unglaublichen
Fähigkeiten waren verblüfft. Anscheinend hatten sie keine Idee, wie
morsch die Sowjetstruktur tatsächlich war. Wie hätten sie dies auch
sehen können, da sie von ihren ideologischen vorgefassten Meinungen
geblendet waren.
Das Verschwinden der kommunistischen
Gefahr hinterließ in der amerikanischen Psyche eine klaffende Leere,
die danach schrie, ausgefüllt zu werden. Bin Laden bot seine Dienste
an.
Das benötigte natürlich ein die Welt
erschütterndes Ereignis, um solch einer verrückten Utopie
Glaubwürdigkeit zu schenken. Die Gräueltat vom 11.9. war solch ein
Ereignis. Es verursachte viele Veränderungen in der amerikanischen
Lebensweise. Und einen neuen globalen Feind.
Über Nacht wurden mittelalterliche
anti-islamische Vorurteile abgestaubt und zur Schau gestellt. Der
Islam, der schreckliche, mörderische, fanatische. Der Islam, der
anti-demokratische, der gegen die Freiheit und gegen alle unsere
Werte ist. Selbstmordbomber. 72 Jungfrauen, Jihad
Die USA kam zu neuem Leben. Soldaten,
Spione und Spezialeinheiten schwärmten in die ganze Welt hinaus, um
den Terrorismus zu bekämpfen. Bin Laden war überall. Der Krieg gegen
den Terrorismus wurde zu einem apokalyptischen Kampf mit dem Satan.
Die amerikanischen Freiheiten mussten
eingeschränkt werden, die US-Militärmaschine wuchs sprunghaft an.
Machthungrige Intellektuelle quasselten über den „Zusammenstoß der
Zivilisationen“ und verkauften ihre Seele, um schnell berühmte
Persönlichkeiten zu werden.
Um solch ein grellfarbenes Bild der
Realität zu produzieren, wurden alle islamischen Gruppen in einen
Topf geworfen – die Taliban in Afghanistan, die Ayatollas im Iran,
die Hisbollah im Libanon, die Hamas in Palästina, die indonesischen
Separatisten, die Muslimbruderschaft in Ägypten und sonst wo. Alle
wurden El-Qaida, trotz der Tatsache, dass jede Gruppe eine total
andere Agenda hat und auf ihr eigenes Land konzentriert ist, während
Bin Laden alle muslimischen Staaten aufheben und ein heiliges
islamisches Reich schaffen wollte. Doch wen interessieren die
Details?
Der Heilige Krieg gegen den Jihad fand
überall Krieger. Ehrgeizige Demagogen, für die dies ein leichter Weg
war, um die Massen aufzuhetzen und Macht zu gewinnen, kamen in
vielen Ländern hoch – von Frankreich bis Finnland, von Holland bis
Italien. Die Hysterie der Islamophobie ersetzte den „guten“ alten
Antisemitismus und benützte fast dieselbe Sprache. Jedes tyrannische
Regime stellte sich selbst als Bollwerk gegen Al-Qaida dar, wie sie
einst sich selbst als Bollwerk gegen den Kommunismus darstellten.
Und natürlich unser eigener Binyamin Netanyahu nützte die Situation
aus, indem er wie ein Hausierer von Hauptstadt zu Hauptstadt
pendelte, um seinen Kram zu verkaufen.
Bin Laden hatte allen Grund, stolz zu
sein und war es wahrscheinlich auch.
ALS ICH sein Bild zum ersten Mal sah,
witzelte ich, er sei keine wirkliche Person, sondern ein
Schauspieler direkt aus Hollywoods Büro für Rollenverteilung. Er sah
zu gut aus, um wahr zu sein – als würde er aus einem Hollywoodfilm
kommen – ein hübscher Mann mit einem langen schwarzen Bart, der mit
einer Kalaschnikov winkte. Sein Erscheinen im Fernsehen war
sorgfältig inszeniert worden.
Tatsächlich war er ein sehr
inkompetenter Terrorist, ein wirklicher Amateur. Kein echter
Terrorist würde in einer auffälligen Villa leben, die in der
Landschaft wie ein wunder Daumen steht. Stern versteckte sich in
einer kleinen Wohnung unter dem Dach in einem verwahrlosten Viertel
von Tel Aviv . Menachem Begin lebte mit seiner Frau und dem Sohn in
einer sehr bescheidenen Erdgeschosswohnung als getarnter,
öffentlichkeitsscheuer Rabbiner .
Bin Ladens Villa musste die
Aufmerksamkeit der Nachbarn und anderer Leute anziehen. Sie hätten
über diesen Fremden in ihrer Mitte neugierig gewesen sein müssen.
Tatsächlich hätte er viel früher entdeckt werden müssen. Er war
unbewaffnet und war nicht auf Kampf eingestellt. Die Entscheidung,
ihn sofort zu töten und seinen Körper im Meer zu versenken, war
offensichtlich seit langem geplant.
Es gibt also kein heiliges Grab. Aber
für Millionen von Muslimen und besonders Arabern war und bleibt er
ein Grund für Stolz, ein arabischer Held, der „Löwe der Löwen“, wie
ihn ein Prediger in Jerusalem nannte. Fast keiner wagte, heraus zu
kommen und dies offen zu sagen, aus Angst vor den Amerikanern, aber
selbst jene, die dachten, dass seine Hirngespinste unbrauchbar seien
und seine Aktionen schädlich, respektierten ihn in ihrem Herzen.
Bedeutet dies, al-Qaida habe eine
Zukunft? Ich denke nicht. Sie gehört der Vergangenheit an – nicht
weil bin Laden getötet worden ist, sondern weil die zentrale Idee
überholt ist.
Der arabische Frühling führt neue Ideale
ein, eine neue Begeisterung, eine, die nicht eine ferne
Vergangenheit glorifiziert, sondern in die Zukunft schaut. Die
jungen Männer und Frauen vom Tahrir-Platz mit ihrer Sehnsucht nach
Freiheit vertrauten bin Laden Monate vor seinem physischen Tod der
Geschichte an. Seine Philosophie hat nur dann eine Zukunft, wenn der
arabische Frühling vollkommen scheitert und ein tiefes Gefühl der
Enttäuschung und Verzweiflung hinterlässt.
In der westlichen Welt werden wenige um
ihn trauern, aber Gott will nicht, dass sich jemand hämisch darüber
freut.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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